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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Speiche ergriffen, sich hinaufwinden lassen und – sitzen jetzt oben. Wer weiß, wie rasch sie wieder unten sind?

Eines muß euch Wunder nehmen, wenn ihr eine Weile beobachtet. Fleiß, habt ihr immer gehört und durch eigne Wahrnehmung bestätigt gefunden, macht heiter. Aber hier findet ihr vielfach die entgegengesetzte Wirkung. Die ganze Stadt macht einen ungemein ernsten Eindruck. Ihr begegnet so vielen Gesichtern, die der Abdruck eines sorgenvollen Lebens zu sein scheinen. Wie erklären wir uns das? Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das thut der Himmel. Bei dem Menschen sorgt der Mensch selbst, daß sein Glück nicht übergroß werde. Da, wo die Freude am hellsten ist, wirft er selbst die düstern Schatten hinein; da, wo von außen alle Bedingungen eines behaglichen Lebens ihm zugeführt werden, legt er von innen die zerstörende Hand an und vernichtet sein eigenes Werk.

Giebt es eine größere Segnung für die Menschheit im Allgemeinen, als die Religion? Ist sie nicht die Trösterin im Leide, giebt sie nicht dem Unterdrückten die gewisse Hoffnung auf glücklichere Zeiten, flüstert sie dem Kranken nicht Träume von blühend gesunden Tagen zu? Ich will hier nicht von Confessionen reden, den einzelnen, zum Theil so verdorrten Abzweigungen des großen Stammes. Nein, ich rede von der einen, alle Confessionen durchdringenden Religion des Gemüthes, die in dem christlichen Gebot der Liebe zu allen Menschen ihren Abschluß und ihre Vollendung gefunden hat. Und gerade das Christenthum, der lichte Gedanke, der die Schlacken der Vorurtheile zertrümmerte, die den Menschen vom Menschen trennten, der der Vorläufer und Entwickler des freien, geistigen Fortschreitens des Menschengeschlechts gewesen ist, gerade das Christenthum hat theils durch die Schlechtigkeit, theils durch die Bornirtheit der Menschen den Vorwand zur Verfinsterung des Menschengeistes hergeben müssen. Liebe ist in Haß, Licht in Dunkel verkehrt worden.

Eben dies ist der Fluch, der seit vielen Jahrzehnten auf den rührigen, gewissenhaften Bewohnern des Wupperthales gelastet hat. Nicht ein Truggebilde sind die Gerüchte, die draußen über diesen schönen Strich Landes verbreitet sind, nicht ein Wahn ist es, daß Obscurantismus und Pietismus mit ihrem schlimmen Gefolge hier ihren Thron errichtet haben. Kaum zu glauben ist es, in welchem Maße das Gift einer heuchlerischen, despotischen, alle Forderungen der Vernunft als Ketzerei verdammenden Frömmelei sich in die Herzen dieser Menschen eingefressen hat, wie die Familienverhältnisse dadurch zersetzt und Solche, die einander warme Freunde sein könnten, in Parteiungen zerrissen und um unseliger Täuschungen willen erbitterte, der Versöhnung unzugängliche Feinde geworden sind.

Religiöse Sectirerei war von jeher in diesen Gegenden einheimisch. Da sind Alt- und Neulutherische, Reformirte, Niederländisch-Reformirte, Baptisten, Anabaptisten, daneben namenlose Separatisten, welche ganz die Form der ältesten christlichen Gemeinden anstreben, in deren Versammlungen jeder Laie, wenn er sich „vom Geiste ergriffen“ fühlt, das Wort des Herrn predigt. Ein nicht seltenes Ereigniß ist es, daß Geistliche aus ihrer Landeskirche austreten und einer dieser Secten sich zugesellen, um ihr als Führer zu dienen. Wie viel Hader dies erzeugen muß, liegt auf der Hand.

Vor einer längeren Reihe von Jahren ereignete sich in dem benachbarten, auf der Höhe gelegenen Städtchen Ronsdorf ein nicht unmerkwürdiger Fall. Es bestand hier eine Gemeinde von „Zioniten“. Sie hatten den Glauben, daß der Heiland noch geboren werden sollte, und belegten sich, von diesem Glauben ausgehend, mit altjüdischen Namen: Sebulon, Isaschar, Zedekiah, Manasse etc. Ja, aus ihrer Mitte sollte der Heiland der Welt erstehn. Die Vorzeichen dazu stellten sich ein; aber siehe! an einem schönen Morgen war der Christus ein Märchen, und die Polizei des Orts fand sich bewogen, die ganze Genossenschaft aufzuheben. Noch immer aber tragen die Angehörigen des Orts die alttestamentarischen Namen.

Der große Nachtheil liegt aber nicht in solchen einzelnen Auswüchsen, die leicht ausgeschnitten werden können. Er liegt vielmehr wesentlich in der trüben, jede, auch die harmloseste Freude als etwas Verderbliches verbannenden Ansicht vom Leben, von den Pflichten des Menschen und seiner Unterwerfung unter den göttlichen Willen.

Diese „Frommen“ verlangen von denen, die zu ihnen stehen wollen, daß sie nur „beten und arbeiten“ sollen. Für sie ist die Kunst und alles Göttliche, was sie geschaffen, nur ein Werk des Teufels. Es ist sündhaft, in die Schöpfungen der Dichtkunst sich zu vertiefen und, von dem Schwunge poetischen Empfindens getragen, sich eine lichtere, höhere Welt aufzubauen; sündhaft, den Klängen fröhlicher Musik zu lauschen und von Tönen sich Trost im Leide bereiten zu lassen; sündhaft, den Wein, die edle Gottesgabe, in fröhlichem Kreise zu genießen; es ist ein Gräuel, das Bild des Lebens auf den „Bretern, die die Welt bedeuten“, zu belauschen, und ein unsäglicher Frevel, im elastischen Rhythmus sich drehend der leichtgeschürzten Terpsichore ein Opfer zu bringen.

Blieben die Eiferer bei sich selber stehen und thäten Buße in Sack und Asche, wir wollten nicht viel dagegen haben und müßten für das Entbehren ihrer Gesellschaft uns zu entschädigen suchen. Im Ganzen liegt nicht viel an ihnen; und da sie, die das Geschäft, der Drang nach dem so „verächtlichen“ irdischen Gut beständig in die Weite entführt, draußen die gefaltete Stirn glätten, mit der Zunge schnalzend von der verbotenen Frucht kosten und doppelt und dreifach das Versäumte nachholen: so entbehren sie selbst nichts. Sie haben eben einen doppelten Vortheil.

Aber unheilbringend und verderblich ist ihr Einfluß auf die große Masse des ungebildeten Volks. Vermöge ihres Reichthums und ihrer Stellung beherrschen sie Tausende, die von der Hand in den Mund leben. Gebieterisch zwingen sie ihnen ihre Moral-Edicte auf, und wehe dem, der nicht gehorsam den Rücken beugt! Arbeitsentziehung, Wegfall der Unterstützungen, Verdächtigungen und im Gefolge hiervon Noth des Unglücklichen und seines Weibes, seiner Kinder, das bleiche, nagende Gespenst des Hungers – das ist das Loos des Frechen! So bleibt dem Abhängigen nichts übrig, als Heuchler zu werden oder sich in jene Ueberzeugung hineinzuleben, welche ihm vom Leben nichts als ein dürres, farb- und saftloses Blatt übrig läßt, ein Leben, das nicht lebenswerth ist. Der Arme, der sechs bittere Tage im Schweiße seines Angesichts gearbeitet hat, hat keinen Sabbath; geht er in’s Wirthshaus, um eine kurze Spanne Zeit seines Elends zu vergessen; will er dahin, wo Musik schallt, die sich schmeichelnd und lind an sein sorgengedrücktes Herz legen könnte; wandelt er zum Theater, wo er etwas Besseres lernen kann, als was ihm sein Webstuhl und die verpesteten Räume, in denen er Tag für Tag färben und immer wieder färben und nichts als färben muß, sagen; tanzt gar der Gottvergessene: so ist er dem Banne verfallen. Ja, noch weiter: er darf sich auch nicht einmal des mit unsäglichen Mühen Erworbenen freuen. Ihm ist es nicht erlaubt, sein weniges Mobiliar, sein winziges Häuschen (Alles, was er besitzt) gegen den Grimm des tückischen Feuers zu schützen; denn gepredigt wird ihm, daß, wer seine Habe versichern läßt, in die göttliche Fügung eingreift und wider die Vorsehung frevelt! In dieser Schilderung ist nichts Uebertriebenes. Ist es doch vorgekommen, daß ein sehr geachteter Mann aus einer der angesehensten Familien wegen Besuchs eines Concerts, in dem ein geistliches Oratorium aufgeführt wurde, mit der kleinen Interdiction belegt worden ist!

Den letzten Wochen des Februars im Jahre des Heils eintausend achthundert und einundsechzig war es aber vorbehalten, Enthüllungen zu bringen, die alles Frühere überbieten und eine Gefahr aufdecken sollten, der nicht ernst und entschieden genug begegnet werden kann. Hatte das Zelotenthum bisher seine Opfer unter den Erwachsenen, den Urtheilsfähigen gesucht, so trat es jetzt mit demaskirtem Cynismus in den Kreis der harm- und achtlosen, jeder fremden Einwirkung schutzlos preisgegebenen Kindheit, und Diejenigen, die ihre Hüter, Lehrer und Schirmer sein sollten, offenbarten sich als die schlimmsten Feinde und Zerstörer ihres körperlichen und geistigen Wohls.

Du hast, lieber Leser, schon mehrfach von den Methodisten Englands und Nordamerika’s gehört, die fast nur in den äußeren Werken der Religionsübung, dem Beten, Fasten und Singen die Religiosität suchen und ihren Namen daher haben, daß sie diese in eine Methode bringen. Bei ihren Versammlungen lassen sie den Einen und Andern vom heiligen Geist ergriffen werden, der nun urplötzlich beginnt, Reden der Buße und Bekehrung ausströmen zu lassen. Der nüchterne, durch philosophische Bildung gezeitigte Geist der Deutschen hat – zu unserm Heil – solche Verirrungen uns ziemlich fern gehalten. Aber selbst jene Exaltirten gestatteten es doch nicht, daß auch das unmündige Alter in solch’ ekstatische Zustände hineingezogen wurde; die unschuldigen Kindlein ließ man nicht durch höhere Eingebung in fremden Zungen reden.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_198.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)