Seite:Die Gartenlaube (1861) 199.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

In der zweiten Hälfte des Februars l. J. hörte man aber zum ersten Mal von solchen Dingen in Elberfeld reden. Mit unglaublicher Schnelle wuchs das leise Geflüster zur lauten allgemeinen Rede an; die Stadt verschloß sich bald jedem anderen Interesse. Man traute seinen Ohren nicht, als man von „Erweckungen“ der Kinder des Waisenhauses reden hörte, die Tag und Nacht in allen Winkeln, sogar in den Kellern des Gebäudes im Gebete lägen, jammerten und schrieen, in heftigen Krämpfen sich wänden, predigten, sängen, den Teufel in den „nicht ergriffenen“ Kindern beschwörten!

Aber man traute noch weniger seinen Augen, als man an demselben Tage, an dem diese Erzählungen in bestimmterer Gestalt umliefen, die authentische Bestätigung von alle diesem Unfug in dem frohlockenden, siegesstolzen Bericht las, den der Vorsteher des Waisenhauses, Grafe, in dem kirchlichen Blatte „der Säemann“ der Beurtheilung der Welt preisgegeben hatte!

Nur wer hier zu dieser Zeit gewohnt hat, kann sich einen Begriff von dem Grade und Umfange des Unwillens machen, der wie ein Geschwür aufbrach und in allen Kreisen der Stadt sich kundgab. Hätte eine große Feuersbrunst namenloses Elend angerichtet, so hätte den, der sie angefacht, ein allgemeinerer Zorn nicht treffen können. Man fragte sich, da man erfuhr, daß seit mindestens 14 Tagen das Unwesen getrieben worden war, wie es komme, daß die städtischen Behörden nicht schon eingegriffen hätten, und erfuhr nun, daß zur Zeit der Oberbürgermeister auf Reisen gewesen sei, in Bonn, wo in der dortigen englischen Gemeinde in Folge einer von England ausgegangenen Anregung eine Gebetswoche auf den 6. bis 13. Januar ausgeschrieben war, von den Vorgängen im Waisenhause gehört habe und nun hierher geeilt sei, um seine Pflicht zu thun. Wir wollen dies glauben, weil seitdem dieser Ehrenmann mit Energie und Consequenz gegen die Urheber des Uebels aufgetreten ist.

Da es meine Absicht ist, mich streng an die Thatsachen zu halten, so lasse ich hier die Worte des Vorstehers des Waisenhauses in kurzem Auszuge folgen. Sie kündigen sich in der Überschrift als „vorläufige Mittheilungen über die in den letzten Wochen unter den Waisenkindern des städtischen Waisenhauses zu Elberfeld stattgefundene Erweckung“ an. Durch die vom evangelischen Bunde in England ergangene Aufforderung zum gemeinsamen Gebet hätten die Angehörigen des Hauses sich veranlaßt gefunden, auch ihrerseits in gemeinsamen Gebetsstunden zusammenzutreten und den Herrn außer in den vom Bunde vorgeschriebenen allgemeinen Reichsangelegenheiten vorzugsweise um Bekehrung ihrer Pfleglinge anzurufen.

„Alle fühlten sich neugestärkt,“ so heißt es in dem Bericht; „sie ahnten jedoch nicht, in welcher außerordentlichen Weise der Herr mit seiner Hülfe nahe war. Denn nicht lange mehr sollte es währen, daß der Herr ihnen unter Augen stellen wollte, wie er Gebet erhört … Schon am 13. Januar bemerkte man Nachmittags eines der größern Mädchen stille unter den andern sitzen und an ihren Spielen nicht Theil nehmen, sondern sichtbar innerlich ergriffen. Am Abend kam es zum Vorsteher des Hauses, klagte über Seelenangst und begehrte, ihm sein Herz auszuschütten. Dieser wies es auf den Heiland hin … Am folgenden Sonntag stellte dieselbe Unruhe sich wieder ein; aber der Herr erbarmte sich und schenkte ihm freudigen Glauben und Gottesfrieden. Bald nach dem 13. Januar kam ein zweites Mädchen zum Vorsteher, klagte über Angst und Sündennoth und wünschte jeden Abend in der Stille zu beten. Es bat um den Schlüssel zu einem freien Zimmer; dieser wurde ihm auch gegeben, übrigens aber die Sache geheim gehalten. So fanden sich noch mehrere Mädchen ein. Mit einigen betete der Vorsteher auch gemeinsam, ersuchte auch die schon „angefaßten“, für die andern mit zu beten … Am 28. Januar wurde der Vorsteher Abends durch einen Knaben vom Essen gerufen und ersucht, mit zu einem andern Knaben zu gehen, der in der Kellertreppe lag und mit lauter Stimme ausrief: „Lieber Heiland, vergieb mir alle meine Sünden!“ Er hatte einen heftigen Bußkampf. Den herzugelaufenen Knaben wurde der Wunsch ausgesprochen, auch sie müßten sich so vor dem Herrn hinwerfen. Der Vorsteher betete mit dem „angefochtenen“ Knaben und noch zwei anderen, von denen einer dem andern vorher den ersten Psalm erklärt hatte. Während dessen liefen vier andere Knaben ebenfalls „ergriffen“ in die Badeküche und schrieen zum Herrn um Erbarmen. Sieben Knaben waren jetzt so mächtig angefaßt, daß sie nicht schlafen konnten. Sie standen wieder auf und gingen in das Aufenthaltszimmer der Knaben, wo sie im Beisein des Aufsehers die ganze Nacht unter Bitten und Flehen zubrachten.

Am andern Morgen fühlten sie sich so an den Herrn gefesselt, daß sie Hohn, Spott und Verfolgung der Andern ruhig ertragen konnten. Sie vereinigten sich auch den Tag über in jeder freien Viertelstunde wieder zum Gebet, lasen Schriftabschnitte, erklärten sich dieselben, sangen geistliche Lieder. Diese Knabengemeinde wächst nun am folgenden Tage auf 16, die man auf dem freien Zimmer auf den Knieen oder gar auf dem Angesichte liegend findet; man hörte von ihnen ein gleichzeitiges Rufen um Gnade, um Erbarmen, um Vergebung der Sünden, um eine Ausgießung des heiligen Geistes für sie, für die andern Kinder und für das ganze Haus. Am 31. Januar füllt sich bereits das ganze Zimmer mit Knaben an, die gemeinschaftlich beten wollen. Ein Kind von zehn Jahren sagt zu den Andern: „Ihr wißt, daß die Heuchelei eine große Sünde ist. Es stehet geschrieben, daß die Heuchler nicht in das Himmelreich kommen. Wem es von Euch nicht Ernst ist, der gehe lieber von uns weg.“ Es geht aber Keiner. Dann Gebet eines vierzehnjährigen Knaben, aus dem man staunend den Geist reden hört. Einer liest Offenb. 21, der Zehnjährige hält darüber einen Vortrag, daß man sich fragt: Woher kommt dem Solches? Der Vorsteher wirft sich jetzt mit ihnen nieder, betend. Bald betet jeder, was ihm auf dem Herzen liegt. Abends kommen zur gemeinsamen Gebetsstunde schon 30 Knaben und 30 Mädchen.

Nach der Stunde gingen die angefaßten Kinder wieder in den Keller, warfen sich auf die Kniee und beteten. Ein vierzehnjähriger Knabe, der bis jetzt gespottet hatte: „Wenn sie alle selig werden, so will ich doch nicht selig werden,“ war zu Bett gegangen, um zu schlafen. Aber er kann nicht schlafen. Es war von den erweckten Kindern fortwährend für ihn gebetet worden. Erhört, daß sein liebster Freund, der zufällig im Waisenhause ist, der kleinen Betgemeinde sich angeschlossen hat, und sagt: „Jetzt ist meine Kraft halb gebrochen.“ Er steht auf und geht in den Keller. Er fällt augenblicklich nieder, schreit und liegt in den heftigsten Krämpfen, sodaß er wieder zu Bette getragen werden muß. Eine große Seelenangst hatte sich seiner bemächtigt. Die Krämpfe dauerten über drei Stunden. Er war während dieser Zeit sprachlos, hatte aber volles Bewußtsein. Am nächsten Morgen war sein Widerstand gebrochen, aber noch kein rechter Glaube verspürbar. Gegen elf Uhr stellten sich die Krämpfe wieder ein und dauerten bis ein Uhr. Um 4 Uhr äußerte er, daß er jetzt wieder glauben könne. Abends 7 Uhr verfiel er abermals in Krämpfe, die bis 11 Uhr dauerten. Er hatte in dieser Zeit einen gewaltigen Hunger nach Seelenspeise. Die Kinder und Erwachsenen mußten mit ihm singen, beten etc., auch suchte er sich mit seinen krampfhaft zitternden Händen solche Capitel in der Bibel selbst auf, die man ihm vorlesen sollte, unter andern auch Psalm 23. Auf einer ihm gebrachten Tafel stand ein Liedervers; er nahm sie, flog mit seinen Augen über die Schrift und machte den Eindruck, als hätte er die Schrift verschlingen wollen. Der Vers lautete:

Weg mit allen Schätzen,
Du bist mein Ergötzen,
Jesu, meine Lust etc.

Gegen 8 Uhr mußte der Vorsteher mit ihm beten. Nach einer Weile hörten die Krämpfe plötzlich auf; er faltete die Hände und sprach mit lauter, klarer Stimme:

Ach, was hör’ ich! Gnade, Gnade,
Gnade schallet in mein Ohr!
Ach, es hebt vom Sündenpfade
Mich ein sanfter Zug empor!
Gott spricht: Sünder, Du sollst leben;
Deine Schuld ist Dir vergeben.

Weiter kann er nicht; denn es stellten sich die Krämpfe plötzlich wieder ein. Gegen 11 Uhr wurde er ruhig, schlief bald ein und erwachte am andern Morgen mit einem stillen Frieden im Herzen, den er auch bis jetzt behalten hat. Diese wunderbare Gnadenthat des Herrn hatte auf alle Kinder den tiefsten Eindruck gemacht, und es fanden sich nun immer mehrere ein, die sich mit den schon erweckten ebenfalls vor dem Herrn niederwarfen und beteten. Nachmittags sahen wir ein Verzeichniß von 37 Knaben, die alle beteten. An der gemeinsamen Gebetsstunde am Abende nahmen über 60 Knaben und ebenso viele Mädchen Theil. Bei dem Aufstehen der Versammlung fing ein elfjähriger Knabe zu beten an, so inbrünstig und schriftgemäß, daß es Allen durch die Seele fuhr. Es ist dies

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_199.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)