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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

bin, aber beginnen Sie gleich und zeigen Sie den Menschen, was Sie können.

Jetzt aber sind mir die Finger lahm, und die Augen fallen mir zu. Gehen Sie vorwärts; zur Ermuthigung will ich Ihnen noch sagen, daß es bei uns keine Krokodile giebt und die übrigen zweibeinigen reißenden Thiere nur beißen, wenn sie böse gemacht werden; von Schlangen aber kommt in unserer Stadt nur eine einzige gefährliche Art vor, von deren Naturgeschichte ich Ihnen das Weitere mündlich mittheilen werde.

A revoir im sonnigen, schönen Süden!
Ihre Harriet Burton.“ 

Reichardt wandte den Blick durch’s Fenster, und zehnerlei verschiedene Gedanken durchkreuzten seine Seele. Was war die eigentliche Ursache, welche das reiche, schöne Mädchen ein so reges Interesse an ihm nehmen ließ? War es nur die südliche Lebendigkeit, verbunden mit einem Gefühle, das seine augenblickliche Lage würdigte und ihn daraus befreien wollte? – oder war wirklich die Organistennoth so groß, daß sie bei Erkennung seiner Verhältnisse sofort auf ihn speculirt hatte? Aber Orgelspielen! – Wenn er auch mit dem Pedal fertig werden konnte, was verstand er von Registratur, von dem Gottesdienst der Episkopalen? – Er begann von Neuem den Brief zu durchlesen – er hätte das Mädchen lieben können, wenn er allen seinen Erfahrungen nach überhaupt nur mehr als einer augenblicklichen, schnell vorübergehenden Empfindung fähig gewesen wäre – wie schonend, trotz ihrer Sarkasmen, bot sie ihm das Geld, daß von einer Zurückweisung garnicht die Rede sein konnte; mit dem Gedanken an die Reise, an eine geachtete Stellung im „sonnigen, schönen Süden“ aber stieg eine Empfindung von Glück in ihm auf, die Alles, was noch als halber Zweifel, als unklares Verhältniß in ihm stand, durchleuchtete und verscheuchte.

Schon am Nachmittage war er nach New-York aufgebrochen, hatte sich eine der kurzgefaßten „Anweisungen zum Orgelspiel“ – die ganze Wissenschaft in nuce, wie in dergleichen Lehrbüchern die deutsche Gründlichkeit es der amerikanischen Praxis nie nachthun wird – nebst einem „Prayer-Book“ der Episkopalen mit der ausführlichen Vorschrift für den Gottesdienst gekauft – hatte den Sonnabend über studirt und wiederholt, bis er das Nöthigste inne zu haben glaubte, und hatte am Sonntag früh, Nachmittags und Abends eine Episkopalkirche besucht. Am Nachmittag hatte ihm eine Banknote an den Kirchendiener die Erlaubniß ausgewirkt, eine Stunde nach beendigtem Gottesdienste üben zu dürfen, und am Abend gestattete ihm der Organist, dem er seine Aussichten mitgetheilt, den Chor zu begleiten. Reichardt fühlte zwar aller Orten den Mangel der nöthigen Routine, aber er wußte jetzt, daß er schnell im Stande sein werde, seinen Posten auszufüllen, und schon am Montag Nachmittag führte ihn der Dampfer „Northerner“ den südlichen Gestaden zu.

Die kurze Seefahrt in der eleganten Cajüte bis Charleston, der Flug auf der Eisenbahn durch Urwald, malerische Gebirgspartien und mit reichen Plantagen besetzte Gegenden hatten dem jungen Deutschen so viel Neues geboten, daß er sich wenig mehr Gedanken als über die allernächste Gegenwart gemacht hatte. Als ihn aber am Tennesseeflusse die Postkutsche aufgenommen und der Schneckengang derselben sich ohne Unterbrechung durch eintönigen, wilden Wald fortzog; als er sich tagelang als den einzigen Passagier fand, da begannen einzelne Bedenken, die schon in Saratoga dunkel in seiner Seele gelegen, sich in den Vordergrund zu drängen und ihm in seiner Einsamkeit unangenehme Gesellschaft zu leisten. Er ging, um eine Kirchenstelle zu übernehmen, und hatte als Empfehlung nichts als das Wort eines jungen muthwilligen Mädchens, das sich ihm bald weich zugeneigt, bald ihn verspottet. War das Ganze vielleicht nur ein toller Streich, um ihn der Tanzmusik, die sie in seiner Person beleidigt, zu entreißen? Er hatte allerdings das Reisegeld und noch darüber erhalten; aber was sollte er im Süden, wo die „Nigger“ das Geigen zu ihrer Profession gemacht hatten, wo sich für seine übrigen Kenntnisse sicher noch viel weniger als in New-York eine Gelegenheit zur Verwerthung fand, anfangen, wenn die Hoffnung, auf welche er sich jetzt stützte, fehl schlug? Er hatte ja dann nicht einmal die Mittel wieder zurückzukehren! Wohl scheuchte zu einzelnen Zeilen der frische Muth der Jugend seine Besorgnisse hinweg und predigte ihm, daß dem Unternehmendsten das Glück am ersten winkt – je näher er aber endlich seinem Bestimmungsorte gekommen, je bestimmter hatte sich die Sorge vor der nahen Entscheidung in ihm geltend gemacht, und als er endlich vom Verdeck der Postkutsche das im Abendschein glänzende Städtchen vor sich gesehen, war es eher das Gefühl eines stillen Bangens, seinen Leichtsinn bestraft zu sehen, als die Genugthuung bei Erreichung eines Ziels gewesen, welches sich seiner bemächtigt.

Es war zehn Uhr am andern Morgen, als Reichardt in sauberster Kleidung die Wohnung des Rev. Mr. Ellis aufsuchte. Die aus gebrannten Ziegeln erbaute Kirche daneben, welche in goldenen Lettern die Benennung der Gemeinde trug, sah zwar nur wie eine kleine Capelle aus, die Ordnung und Sauberkeit in der ganzen Erscheinung aber heimelte den Deutschen in einer Weise an, daß er eine lange Weile den Blick darauf geheftet hielt und sich die Stellung der Orgel darin zu denken suchte, ehe er den Klingelgriff an dem Predigerhause zog. Eine Schwarze wies ihn in den einfach eingerichteten Parlor, und Reichardt hatte kaum den Blick auf einzelne der umher hängenden Bilder geworfen, als auch der Hausherr, eine schlanke Gestalt in mittleren Jahren mit schlicht gescheiteltem, blondem Haare, eintrat. Reichardt beeilte sich, ihm entgegenzugehen.

„Ich bin an Sie gewiesen, Mr. Ellis,“ begann er, als wisse er kaum recht, wie zu beginnen, „um mich Ihnen für die vacante Organistenstelle an Ihrer Kirche zu empfehlen. Mein Name ist Reichardt!“

Der Geistliche hob den Kopf und schien eine Minute lang jede Einzelnheit in der Erscheinung des jungen Mannes zu mustern. Dann griff er langsam nach einem Stuhle und sagte ernst: „Setzen Sie sich, Sir!“

„Ich habe allerdings eine Notiz über Ihre Reise hierher erhalten,“ fuhr der Prediger fort, als Beide sich niedergelassen hatten und Reichardt sichtlich eines weitern Wortes harrte, „ich selbst aber habe kaum die Befugniß, eine bestimmte Hoffnung zu geben, noch sehe ich überhaupt klar in der Angelegenheit. Sie kommen von Saratoga, wie ich höre – waren Sie längere Zeit dort?“

„Einen Tag, Sir, und hielt mich auch dort nur einiger Geschäfte halber auf.“

„Dann sind Sie also mit der Familie Burton von früher her bekannt?“

„Ich bin erst seit kaum vier Wochen im Lande, Sir, kenne Niemand, und nur mein Pianospiel, wovon Miß Burton zufällig Zeuge war, machte diese auf mich aufmerksam. Ich fand noch keine Gelegenheit, seit ich gelandet bin, mich einem bestimmten Berufe zuzuwenden, und so nahm ich gern die Aufforderung an, mich für die hiesige Organistenstelle zu melden.“ Reichardt begann leichter zu fühlen, als ihm diese einfache Darstellung, die doch kaum von der Wahrheit abwich, gelungen war; der Geistliche aber schüttelte leicht den Kopf.

„Wenn Sie nicht noch irgend andere Pläne hier verfolgen wollen, so weiß ich, selbst im glücklichsten Falle, nicht, ob der Erfolg die weite Reise lohnen kann,“ sagte er nach einer kurzen Pause. „Die Stelle muß doch nur als eine Nebenbeschäftigung betrachtet werden und kann allein ihren Mann nicht nähren. Für Musikunterricht ist auch nur wenig Aussicht hier. Junge Ladies, welche die methodistische Akademie, wo ein angestellter Musiklehrer ist, nicht besuchen, werden meist im Osten erzogen –“ er hielt, wie eine Aufklärung erwartend, inne, und Reichardt fühlte, daß er jetzt seine Armuth am wenigsten zeigen dürfe, wenn er sich die nöthige Beachtung sichern wollte. War hier wirklich keine Existenz für ihn zu erringen, so war zum Zurücktritt noch immer nach Harriet’s Rückkehr Zeit, und wenigstens wollte er bis dahin Gelegenheit schaffen, zu zeigen, was er konnte.

„Ich frage im Augenblick nicht nach der Höhe eines Gehaltes,“ erwiderte er ruhig aufsehend, „es sollte mich aber freuen, in musikalischer Beziehung etwas zur Hebung des Gottesdienstes beitragen zu können. Miß Burton sprach von dem Chor, welcher der Nachhülfe und Besserung bedürfe, und ich gedachte einen vollen Lehrgang mit den Sängern durchzunehmen, der, wenn sich nur die nöthigste Anlage unter ihnen vorfindet, sie mit der Zeit den besten New-Horker Chören gleichstellen würde.“

Der Geistliche nickte nachdenklich. „Es könnte das für Niemand angenehmer sein, als für mich,“ erwiderte er, „nur sehe ich in einzelnen Dingen noch nicht ganz klar – es ist ein tolles Mädchen! Well, Sir,“ setzte er hinzu, als wolle er das Gespräch zu, einem Schlusse bringen, „auf ein oder zwei Tage wird es nicht

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_239.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)