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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Gestalt, den Kopf in das offene Gebetbuch gebeugt, dicht an seiner Seite niederkniete. „Guten Morgen, Sir!“ klang dem jungen Manne Harriet’s leise Stimme in die Ohren, „Sie haben Ihre Sache gut gemacht, und ich bin zufrieden mit Ihnen. – Rühren Sie den Kopf nicht – ich kenne Sie durchaus nur so ganz obenhin und werde Sie nicht eher beachten, als bis Sie in unserer Familie eingeführt sind – dafür werde ich aber sorgen. Jetzt nur das Eine: Sagen Sie morgen dem Mr. Ellis mit seinen albernen Bedenklichkeiten, daß Sie in vierundzwanzig Stunden Gewißheit haben müßten. – Sie haben schon Freunde hier, wenn Sie auch noch nicht viel davon wissen, und die Gemeinde wird Sie nicht fort lassen, wenn sie auch Opfer zu bringen hätte. Dann aber halten Sie sich den Mr. Young vom Leibe, der neben Ihnen stand; Sie müssen mir darin auch einmal ohne Gründe folgen – Amen!“ sagte sie laut mit der übrigen Gemeinde, „stehen Sie auf, aber sehen Sie mich nicht an!“

Reichardt hatte seinen Platz wieder eingenommen, ohne nur einen Seitenblick nach dem Mädchen gethan zu haben; fast wollte es ihm aber scheinen, als erhalte er eine Ahnung von wenigstens einem Grunde ihres Handelns, als er Young’s Augen der hohen Gestalt folgen und sich dann mit dem deutlichen Ausdrucke eines erwachenden Verdachtes nach ihm wenden sah. Irgend eine Beziehung mußte zwischen Beiden bestehen, sonst hätte sie sich wohl kaum zu der eigenthümlichen letztausgesprochenen Warnung verleiten lassen.

„Sie kennen Miß Burton, Sir?“ fragte der junge Amerikaner leise, während er ein aufgeschlagenes Notenbuch auf das Orgelpult legte. „Dies ist die Melodie, welche der Chor für den nächsten Gesang gewöhnlich anwendet.“

„Ich bin ihr nur ein einziges Mal flüchtig begegnet,“ erwiderte Reichardt lässig, eifrig bemüht, den Worten des Predigers in seinem „Prayer-Book“ zu folgen. „Wollen Sie aber nicht den ersten Gesang selbst spielen, damit ich wenigstens einmal mich von den Gewohnheiten des Chors unterrichte? – Da kommen die beiden letzten Sätze!“ fügte er hinzu und glitt von der Bank herab, die Young nach einer augenblicklichen Zögerung und nur wie durch die Nothwendigkeit gedrängt einnahm.

Der Gesang begann. Reichardt hörte prächtige Stimmen, die aber sämmtlich ihren eigenen Launen folgten, bald in der Melodie mitgingen, bald zu secundiren oder den Baß darzustellen versuchten. Young an der Orgel hatte sichtlich schon versucht, sich Kenntniß des Instruments zu verschaffen, dennoch war keine Strophe ohne schlimme Fehlgriffe, an welche das Chor indessen schon gewöhnt zu sein schien, und als Reichardt, um seine Empfindung zu verbergen, den Kopf abwandte, traf er auf Harriet’s Gesicht, in welchem der Hohn im vollsten Uebermuthe spielte; Reichardt fühlte fast wie Mitleiden mit dem unglücklichen Organisten.

„Ich spiele wohl sonst etwas besser,“ sagte dieser beim Ende des Gesanges die Bank verlassend, „aber ich habe, ehrlich gesprochen, nach Ihrer Einleitung den Muth verloren.“

„Lassen Sie nur, ich würde in Dingen, worin Sie Meister sind, noch viel schlimmer bestehen,“ erwiderte Reichardt gutmüthig, „übrigens ist es schwierig genug, sich immer nach den Launen Ihres Chors richten zu müssen, und ich denke, ich gebe ihm gleich in dem kommenden „Gloria“ eine Lection.“

Young ließ einen suchenden Blick hinüberschweifen, wo Harriet stand, und schlug das nächste Gesangstück auf. „Sie werden hier bleiben, Sir?“ fragte er wie hingeworfen.

„Kann im Augenblicke noch kein Wort darüber sagen,“ erwiderte der junge Deutsche, „ich habe mich, da ich ohnedies den Süden sehen wollte, durch einige Worte verleiten lassen, hierher zu gehen, und muß nun erst abwarten, ob ich Chancen finde.“

„Sie waren doch, wie ich höre, hier bereits empfohlen?“ erwiderte Young aufsehend, und derselbe Ausdruck des Mißtrauens, welchen Reichardt früher bemerkt, machte sich wieder in seinem Auge geltend.

„Ich selbst wohl kaum, Sir,“ erwiderte der Andere, welchen die augenscheinliche Sorge des Amerikaners um sein Verhältniß zu Harriet zu interessiren begann, „jedenfalls nur meine wenigen musikalischen Fähigkeiten, die zufällig wahrgenommen wurden. Stehen Sie vielleicht Miß Burton, welche meine geringe Gunst empfahl, näher?“

Young schien die letzte Frage zu überhören, hob den Kopf und horchte aufmerksam nach dem Geistlichen. „Hier ist das Gloria,“ sagte er, auf das Notenbuch deutend, „wir werden in Kurzem zu beginnen haben!“ Reichardt folgte dem Fingerweis, übersah rasch das Stück, und als der Prediger geendet, setzte er, das vorherige schleppende Tempo unbeachtet lassend, in voller Kraft und Lebhaftigkeit ein, schon nach den ersten Takten das überraschte Chor mit sich fortreißend, bis dieses, als gewinne es unter seinem Spiele ganz neues Leben, das Tempo aufnahm und sich den Harmonien kräftig anschloß. Als Reichardt nach dem Ende von der Bank glitt, traf ihn aus Harriet’s halb zurückgewandtem Gesichte ein helles Lächeln; aber auch Young schien es bemerkt zu haben, und mit einem tiefen Schatten zwischen den Augen wandte er sich nach der Seitenbrüstung des Chors, sich während des übrigen Gottesdienstes mit keinem Blicke weiter um die Musikausführung kümmernd.

Die Predigt und die Schlußgesänge waren vorüber, und als Reichardt nach einem „Ausgange“, welcher einen großen Theil der Gemeinde länger als gewöhnlich zurückgehalten hatte, den Vorplatz der Kirche betrat, sah er sich von dem Geistlichen in Empfang genommen und einer Zahl wartender Kirchenbesucher zugeführt. Er hatte wieder fremdklingende Namen zu hören und Hände zu schütteln, hatte aber auch vor alten freundlichen Frauengesichtern wie vor frischen jugendlichen Zügen und dunkelblitzenden Augen sich zu verbeugen, bis endlich ein hoher Mann zur Seite der lächelnden Harriet ihm entgegentrat. „Ich kenne Sie schon aus meiner Tochter Erzählung,“ sagte dieser, ihm derb die Hand drückend, „und wenn ich auch erst gemeint, das Mädchen habe einen ihrer tollen Streiche begangen, Sie ohne Weiteres hier herunter zu sprengen, so sehe ich doch ein, daß sie dieses Mal klüger gehandelt, als ich ihr es zugetraut. Ich hoffe, wir werden Sie hier festhalten können, Sir, und es soll mich freuen, Sie zu irgend einer Zeit in meinem Hause zu sehen!“

Er nickte ihm freundlich zu und wandte sich nach dem Prediger.

„Sie sind schon mehrere Tage hier, Sir?“ fragte Harriet, langsam vorwärts gehend; als aber Reichardt, der Einladung folgend, an ihrer Seite hinschritt, begann sie, ihre Stimme dämpfend: „Was hatten Sie mit dem Mr. Young so angelegentlich zu verhandeln? Verstanden Sie nicht, was ich Ihnen sagte?“

„Haben Sie Beziehungen zu dem Gentleman, Miß?“ erwiderte er in derselben Weise. „Bestimmen Sie in irgend einer Art über mich, aber geben Sie mir Gründe –“

„Beziehungen – pshaw!“ sagte sie verächtlich; „indessen hätte ich wissen sollen, daß halbe Worte bei Ihnen nichts fruchten. Ich habe schon eine Aeußerung über die Schlangen und reißenden Thiere in unserer Stadt gegen Sie fallen lassen – aber sehen Sie zu Boden oder nach der Seite, wir dürfen, wenn Sie hier bleiben wollen, noch nicht so genau miteinander bekannt sein, daß wir ein interessantes Gespräch führen könnten. Well, Sir,“ fuhr sie gleichgültig die Straße entlang blickend fort, „der genannte Gentleman rangirt in meiner Menagerie unter den Eidechsen, die auf den heimlichsten Wegen nach dem wärmsten Plätzchen schlüpfen, bei jedem Fußtritt aber die Flucht ergreifen. Er möchte Harriet Burton zur Frau haben, um ihr Geld zu erhalten; aber er hat nicht den Muth, ihr nahe zu kommen; er mag ihrem Vater nicht ins Auge sehen, er sucht heimliche Wege, wo ihn kein unberufener Tritt verscheuchen kann – ich kenne die Wege, und doch überläuft es mich immer wie die Scheu vor einem wirklichen Molche, wenn ich einmal daran denke, seinen Schlichen entgegenzutreten. Sie verstehen mich jetzt noch nicht, aber Sie werden mich mit der Zeit verstehen lernen. Freilich können Sie sagen, daß das mit Ihren Verhältnissen nichts zu thun hat, aber er wird wissen, wie die halbe Gemeinde es bereits weiß, daß ich die Ursache Ihrer Anwesenheit bin, und Ihr Tritt mag der Eidechse vielleicht zu kräftig auf ihrem Wege klingen, daß sie nicht das Mögliche thun sollte, um Sie hier zu beseitigen – da haben Sie, was mich bewog, Sie vor dem Menschen zu warnen, wenigstens bis Ihr Engagement feststeht. Dann werden Sie selbst Kraft genug haben, das Gewürm zu zertreten, wenn es in Ihren Weg kriecht.“

„Aber, Miß, was haben Sie, mit Ihrem kräftigen Willen, sich um die heimlichen Wege irgend Jemandes zu kümmern, der doch nie damit zu Ihnen heranreichen würde?“ erwiderte Reichardt, der, eigenthümlich von ihrem gepreßten Tone berührt, fast mit einer Art Weh einen dunkeln Punkt in diesem glänzenden, reichen Leben wahrgenommen hatte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_255.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)