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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Da aber der Gesundheitsstand am untern Mississippi noch nicht der beste ist, so haben sie es vorgezogen, erst einen Abstecher nach Louisville zu machen, um dann von dort nach St. Louis zu gehen.“

Der junge Mann überlegte – es konnte ihm jetzt ziemlich gleichgültig sein, wohin er verschlagen wurde – er selbst hatte im Augenblick den wenigsten Einfluß auf seine Zukunft; also vorwärts, wo er am sichersten hoffen durfte, wieder eine befreundete Seele zu treffen.

„Hat man wohl nicht zu lange auf eine Gelegenheit nach St. Louis zu warten?“ fragte er.

„Es geht fast jede Stunde ein Boot, Sir. Wollen Sie rasch fort, so haben Sie um Mitternacht mit der „Mary Brown“ Gelegenheit.“

„Vortrefflich, ich werde mein Heil auf die Lady setzen!“ rief Reichardt, aus dem gefaßten Entschlusse frische Laune schöpfend; „aber,“ fragte er, dem Buchhalter aus dem Zimmer folgend, „könnten Sie mir wohl ein ungefähres Bild von Miß Heyer, der ersten Sängerin der Gesellschaft, geben?“

Der Befragte gab lächelnd die verlangte Auskunft. „Sie hat hier viel Glück gemacht und ist sehr bewundert worden!“ setzte er hinzu.

Reichardt nickte nur – es war die rechte Mathilde, und mit frischerwachter Spannkraft setzte er sich zu seinem Mahle nieder. Ob ihm das Mädchen, selbst wenn er es im glücklichsten Falle traf, nur das Geringste würde helfen können, wußte er nicht, er hatte doch aber für die nächsten Tage wenigstens ein bestimmtes Ziel vor sich. –

Eine Stunde darauf betrat er, einen Neger mit seinem Gepäck hinter sich, den hellerleuchteten Dampfer. Der Schwarze wollte seine Last sogleich nach der Gepäckkammer bringen, Reichardt aber ließ sie auf dem untern Deck niedersetzen, fertigte den verwundert aufschauenden Träger mit einem Trinkgelde ab, welches dessen zweifelnden Ausdruck sofort in eifrige Kratzfüße verwandelte, und setzte sich auf seinem Koffer nieder, bis der Dampfer vom Lande gestoßen war. Dann suchte er die „Office“ auf.

„Deckpassage, Sir?“ fragte der Capitain, nach welchem er sich erkundigt, und ließ einen befremdeten Blick über das Aeußere des jungen Mannes laufen; „werden es verdammt heiß und unbequem für die lange Fahrt finden!“

„Kann’s nicht ändern, Capt’n,“ erwiderte Reichardt ruhig, „ich habe in meinem Reisegeld zu kurz gerechnet, und der Mensch muß sich auch einmal in unangenehme Verhältnisse fügen können.“

„Das ist so, Sir, bringt’s aber nicht Jeder mit so leichtem Muthe fertig,“ versetzte der Andere, einen neuen Blick auf seinen Passagier werfend; „wie Sie wollen!“

Reichardt bezahlte den geforderten Fahrpreis – er war geringer, als er für die weite Entfernung gefürchtet – rückte sich dann mit leichtem Herzen seinen Koffer in eine luftige Ecke und machte es sich, seinen Violinenkasten als Pfühl gebrauchend, so bequem als möglich. Die prachtvollste Nacht lag über dem Flusse; bald hatte sich der Deutsche an das Arbeiten und Zischen der Maschine, an das Lärmen der Feuermänner und das Sprühen der Flammen gewöhnt, und konnte sich ungestört seinen Gedanken hingeben; gern hätte er sich ein Bild seiner Zukunft geschaffen, aber ihm fehlte jeder Anknüpfungspunkt dafür, und selbst Mathilde „in the most splendid costume,“ wie es in dem Opernprogramm hieß, war ihm zu einer halbfremden Erscheinung geworden. Dafür aber tauchte die Vorstellung in ihm auf, in wie verschiedener Weise er wohl jetzt reisen würde, wenn er nicht selbst das Glück, welches ihm Harriet geboten, von sich gestoßen, und unwillkürlich begann er zu grübeln, warum er denn das Mädchen nicht hatte lieben können – das einzige Wesen in seinem jetzigen Leben, das sich warm und fest an ihn gehangen, das wohl für ihn hingegeben hätte, was es zu opfern gehabt. Es that ihm wohl, alle Scenen mit ihr, seit ihrem Zusammentreffen in Saratoga, an seinem Geiste vorüberziehen zu lassen, und jetzt, wo er ihre Empfindungen kannte, die Erklärung für so manche damalige Aeußerung ihres eigenthümlichen Wesens zu finden. Er fühlte, daß er nicht so, wie es geschehen, für immer von ihr scheiden durfte; er nahm sich vor, sobald er in St. Louis angekommen, einen langen Brief an sie zu schreiben, ihr zu sagen, daß sie eine tiefere, stärkere Empfindung verdiene, als er ihr habe weihen können, der er sich überhaupt keiner heißen Liebe für fähig halte; daß er zum Betrüger an ihr und zum Gründer ihres künftigen Unglücks hätte werden müssen, wenn er anders gehandelt als er gethan; er begann den Brief im Geiste auszuarbeiten; bald aber verwirrte das eintönige Geräusch um ihn her seine Gedanken, und trotz seines harten Sitzes war er eingeschlafen, ehe er es nur selbst wußte.

Das Boot legte während der Nacht zum Oeftern an, Passagiere kamen und gingen, Güter wurden aus- und eingeladen, Reichardt wurde der Vorgänge kaum anders als im halben Traume gewahr; als ihn aber die aufgehende Sonne weckte und er sich erheben wollte, fühlte er jeden einzelnen Theil seines Körpers wie zerschlagen; kaum daß er im Stande war, sich gerade auf seine Füße zu stellen. Um ihn her, auf jedem leeren Plätzchen, außerhalb des Wegs, welchen die Frachtstücke beim Ein- und Ausladen zu nehmen hatten, lagen unsaubere Gestalten auf Decken oder ähnlichen Unterlagen noch schlafend am Boden, und Reichardt sah jetzt, in welcher Gesellschaft er sein Lager zu nehmen hatte, wenn er mit gesunden Gliedmaßen in St. Louis ankommen wollte. Er beeilte sich, sein Reinigungswerk vorzunehmen, ehe er dadurch, mit den übrigen Deckpassagieren in Berührung kommen mußte, und als er seine Toilette nach bester Möglichkeit gemacht, seine Glieder gedehnt hatte, und er sich nun von der frischen Morgenluft durchstreichen ließ, begannen auch die unangenehmen Eindrücke zu schwinden. Nach zwei oder drei Nächten mehr mußte die Reise ein Ende nehmen, und so lange ließ sich schon manche Unannehmlichkeit ertragen. Er hatte sich nach dem äußersten Vordertheil des Bootes begeben, brannte sich eine Cigarre von dem kleinen Vorrathe, welchen er noch bei sich trug, an und ließ die bald wilden, bald malerisch-besiedelten Ufer an seinem Auge vorüberziehen. Aus dem Salon klang die Glocke zum Frühstück, und der Deutsche machte sich eben Gedanken, auf welche Weise er zu einem Imbiß gelangen werde, als er seinen Arm leicht berührt fühlte. „Der Capitain möchte Sie sprechen, Sir!“ hörte er, und sah beim Umblicken einen Schwarzen, der, als wolle er ihm den Weg zeigen, nach der Treppe zum Salon voranging. Mit einiger Verwunderung folgte ihm Reichardt, wurde aber bald von dem wartenden Capitain leicht unter dem Arm gefaßt. „Nehmen Sie Ihr Frühstück mit uns,“ sagte dieser einfach, „ich denke, Sie werden doch nicht an das Leben dort unten gewöhnt sein!“

Reichardt fühlte, daß er roth ward, er erkannte die Freundlichkeit des Mannes, dennoch war das Anerbieten eine Art Almosen, gegen das sich sein ganzer Stolz sträubte, und er hätte es wohl zurückgewiesen, wenn er nur diesem wohlwollenden Gesichte gegenüber schnell die rechte Weise dazu hätte finden können, wenn nur nicht zugleich der Duft des aufgetragenen Kaffee’s seine Nase berührt und eine unwiderstehliche Sehnsucht nach der gewohnten Labung in ihm erweckt hätte.

„Wenn man einmal auf den Grund gefahren ist, nimmt man jede helfende Hand an, Sir;“ sagte der Capitain, der Reichardt’s Zögern bemerkt zu haben schien, „so lange Sie an Bord bleiben, sind Sie mir als Gast bei Tische willkommen, und damit wollen wir alle Redensarten bei Seite lassen.“

Reichardt sah sich am Ende einer langen vollbesetzten Tafel, deren oberes Ende von einer Anzahl junger Damen in eleganter Morgenkleidung eingenommen war. Er entfernte sich bald und kehrte erst zurück, als die Mittagsglocke ertönte. An der Tafel glänzte Damenflor in neuer Toilette. Bekanntschaften schienen gemacht worden zu sein, und die Unterhaltung pflanzte sich lebhaft auf beiden Seiten des Tisches fort; manches blitzende Auge, das einen Blick nach den untern Reihen der Passagiere sandte, blieb an dem jungen Deutschen hängen, der, angeregt von der eleganten Zwanglosigkeit und dem leichten Tone um sich her, mit drückendem Unbehagen an sein Schicksal während des kommenden Nachmittags zu denken begann. Leidlicher, als Reichardt gefürchtet, verging ihm der Nachmittag. Gegen Abend hatte der sich immer dichter zwischen den Ufern zusammenziehende Nebel die heiße Luft völlig abgekühlt; mit einer noch angenehmern Ueberraschung sah der junge Mann an einem der Landungsplätze die große Menge der Deckpassagiere das Boot verlassen, und leichteren Herzens wandte er sich jetzt nach dem Maschinenraume, um bei Zeiten einen passenden Platz zum Schlafen für sich zu suchen. Dort standen zwei der schwarzen Arbeiter in Betrachtung seines deutschen Violinkastens, und das freundliche Grinsen, mit welchem der Herantretende empfangen wurde, erinnerte diesen lebhaft an Bob. „Sie spielen das Instrument, Sir?“ fragte der Eine mit der angenommenen Verlegenheit, welche den „guten Ton“ unter den Schwarzen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_323.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)