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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Trinken oder faulem Umherliegen todtzuschlagen suchte, hatte sich Reichardt eine Beschäftigung gebildet, welche ihm mit jeder Stunde mehr Interesse abgewann. Er hatte zuerst einen einfachen Brief an Harriet begonnen; bald aber war er, in dem Wunsche, sich dem Mädchen ganz so zu zeigen, wie er war, und ihr eine volle freundschaftliche Hingebung zu bethätigen, von der Gegenwart in seine Vergangenheit gerathen, hatte von seinem Entwickelungsgange gesprochen, hatte sie in jede Falte seines Herzens, das kaum ein paar flüchtige Neigungen geborgen, sehen lassen, und nach und nach sein ganzes Denken und Empfinden vor ihr bloßgelegt. Er war in seiner Arbeit unterbrochen worden und hatte sie bei Seite gelegt; bald genug aber mahnte ihn die müßige Zeit wieder zur Fortsetzung. Er nahm einen neuen Gedanken auf, wie er sich ihm gerade bot, und begann zu plaudern, als säße er dem Mädchen Auge gegen Auge gegenüber, und als er an diesem Abende schloß, freute er sich schon auf den nächsten Morgen, um in seiner Beschäftigung fortzufahren. Aus seinem Briefe war endlich eine Art Tagebuch geworden, in welchem er seine Gedanken, die volle Zeit hatten sich zu ergehen, seine Anschauungen und Urtheile einzeichnete, und er wußte es wohl selbst nicht, welch’ erschöpfenden Bild seines eigenen Selbst er darin gegeben hatte. –


Erst als vor den Augen des Deutschen die langgestreckte Stadt mit der unabsehbaren Reihe still liegender Dampfboote auftauchte, begann der Gedanke an die nächste Zukunft sich wieder seiner Seele zu bemächtigen, und er vermochte nicht, ein Gesicht von Besorgniß, das ihn leise beschlich, ganz von sich abzuweisen. Er berechnete unwillkürlich die Entfernung, welche ihn jetzt von New York trennte – er konnte dort auf nichts rechnen, er hatte dort keinen seiner Fähigkeiten würdigen Broderwerb finden können, und doch kam ihm New-York noch immer wie sein letzter Halt vor, den er, je weiter er sich davon entfernte, je mehr verlor.

Ein Gewühl von Lohnkutschern, Karrentreibern und Lastträgern, zudringlich ihre Dienste anbietend, empfing die Aussteigenden. Reichardt wies Alles, was Kutsche und Wagen hieß, von sich und wählte einen Neger zur Fortschaffung seines Koffers.

„Wohin, Sir?“ fragte dieser, als die Last auf seiner Schulter ruhte.

„Ja, wohin jetzt?“ fragte sich der Deutsche selbst. Er sah in das Gewühl und Treiben um sich, blickte in die endlose Straße hinein, die sich vor ihm aufthat, und fast wollte ihn das Gefühl des Verlorenseins in einer großen Stadt überkommen. „Wißt Ihr nicht ein anständiges Boardinghaus, Onkel, in dem man ein paar Wochen bleiben kann, ohne daß dem Menschen die Haut über die Ohren gezogen wird?“ sagte er nach kurzem Besinnen.

„Mehr als eins, Sir,“ grinste der Schwarze, „wir sind nicht so schlimm in unserm St. Louis, kommen Sie nur mit mir!“

„In Gottes Namen denn, mag jetzt das Schicksal aus mir machen, was es Lust hat!“ brummte Reichardt und folgte dem Schwarzen in die von geschäftigen Menschen und Lastkarren belebte Straße; kaum aber hatte er ein paar hundert Schritte zurückgelegt, als sein Gesicht sich plötzlich aufklärte und er dem ein Stück voransfchreitenden Neger nachsprang. Sein Auge war auf einen großen, frischen Zettel mit den riesigen Anfangszeilen: „„Varieties Theatre – Parlour Opera! – first Night“ gefallen, und Alles, was von Besorgniß in ihm gelebt, war wie dünner Nebel vor den hereinbrechenden Sonnenstrahlen gewichen.

„Ist nicht irgend ein billiges Hotel oder dergleichen in der Nähe der „Varieties?“ fragte er den Lastträger, „es wäre mir meiner Geschäfte wegen lieb!“

Der Schwarze setzte seine Last nieder und kratzte seinen Wollkopf. „Ich bin wenig dort hinauf bekannt,“ erwiderte er, „und wenn Sie nicht gerade im „Plantershouse“, wo es aber starke Rechnungen geben soll, bleiben wollen –“

„Um Gotteswillen nicht!“ unterbrach ihn Reichardt, „führt mich nur hin, wohin Ihr denkt, ich kann ja später noch meine eigene Wahl treffen!“

Der Deutsche sah sich bald in einer der engen Straßen nahe dem Flusse untergebracht und ergab sich zum ersten Male darein, ein Zimmer zu beziehen, in welchem bereits zwei andere Gäste ihre Schlafstätte hatten. Die Billigkeit des Unterkommens mußte jetzt für ihn das allein Maßgebende sein, und wenigstens erschien ihm das Haus reinlich. Er hatte sofort nach seinem Eintritte sich erkundigt, auf welche Weise man wohl die Wohnungen der angekommenen Künstler erfragen könne: die Leute im Hause schienen aber von den zu erwartenden Vorstellungen weder etwas zu wissen, noch überhaupt das geringste Interesse daran zu nehmen, und der junge Mann saß jetzt neben seinem noch ungeöffneten Gepäck, um seine nächst zu thuenden Schritte zu überlegen. Es waren noch zwei Stunden bis zu Mittag, und er hatte Zeit vor sich, um Mathildens Wohnung nachzufragen; gelang es ihm aber nicht, diese zu erkunden, so mußte er Abends das Eintrittsgeld zur Vorstellung daran wenden, und es hier versuchen, zu ihr zu gelangen.

Er ließ sich den Weg nach dem Theater beschreiben, steckte zugleich den Brief an Harriet zur Absendung zu sich und wanderte in das Gewirr der Straßen hinein. Das Postgebäude war schnell gefunden, ebenso ohne große Schwierigkeiten das Theater; an den geschlossenen Thüren des letzteren aber endete Reichardt’s Weisheit, und nach einigem Besinnen wandte er sich einem nahegelegenen Trinklocale zu, um sich hier, wenn auch nicht Auskunft, doch wenigstens einen Rath zu erholen. Aber auch hier ward ihm nur Kopfschüttelu und bedauerndes Achselzucken, und er bereute schon die zehn Cents, welche er unnütz für einen Schluck Brandy ausgegeben, als ein junger Mann mit weißem Castorhut und schwarzem Schnurrbart sich vom Schenktische nach ihm drehte, erst einen Blick über seine frische Erscheinung laufen ließ und dann fragte, wen von der Gesellschaft er zu sprechen wünsche. Reichardt, in welchem eine neue Hoffnung erwachte, beeilte sich, Mathildens Namen zu nennen und den Frager seines besten Dankes für Angabe ihrer Wohnung zu versichern. Dieser überflog noch einmal das ganze Aeußere des Deutschen. „Miß Heyer nimmt, soviel ich weiß, niemals einen Privatbesuch in ihrer Wohnung an –“ erwiderte er.

„O, sie wird mich empfangen und Ihnen für meine Zurechtweisung verpflichtet sein,“ versetzte Reichardt eifrig, „– sie ist meine Schwester, Sir, wenn wir auch nicht gleiche Namen führen!“ fügte er nach einem augenblicklichen Stocken hinzu.

In dem Gesichte des Andern stieg ein zweifelndes Lächeln auf. „Geben Sie mir Ihren Namen, Sir, wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind, – ich bin der Agent der Gesellschaft,“ sagte er, „und dann warten Sie hier einen Augenblick.“

Der Deutsche beeilte sich, ein Blatt Papier aus seinem Notizbuche zu reißen, froh, so schnell den rechten Mann getroffen zu haben, und mit einem eigenthümlichen Blicke auf die rasch hingeworfenen Worte entfernte sich der Andere. Jetzt aber zum ersten Male stieg in Reichardt der Gedanke auf, ob denn wohl der Fall möglich sei, daß Mathilde ihn nicht sehen wolle. Er hatte bis zu diesem Augenblicke nur eine unbestimmte Vermuthung über die Ursache, welche das Mädchen in New-York von seiner Seite getrieben, und sie hatte ihn damals gebeten, sie nicht aufzusuchen – er hatte nicht den geringsten Begriff, wie sie zu der Operngesellschaft gerathen und welche ihre jetzigen Privatverhältnisse waren; konnte es denn wohl Gründe geben, die sie es vorziehen ließen, ihn von sich entfernt zu halten? Reichardt wurde, je mehr er sich abquälte Möglichkeiten zu ersinnen, je unruhiger; seine Herreise war in einer so bestimmten Erwartung, mit dem Mädchen zusammenzutreffen, erfolgt, daß er sich wie in die Wildniß hinaus geworfen vorkam, wenn er das Wiedersehen mit ihr aus seinen Hoffnungen strich.

Die Rückkehr des Agenten, welcher dem Deutschen schon zwischen der Thür einen Wink, ihm zu folgen, gab, setzte allen Befürchtungen indessen ein vorläufiges Ziel. „Die Lady ist in der Probe, Sir, und Sie sprechen sie am besten dort,“ sagte Jener; „wenn Sie mir folgen wollen, zeige ich Ihnen sogleich den Weg.“

Reichardt konnte nur seine vollste Zustimmung ausdrücken und sah sich nach dem hintern Theile den Theatergebäudes geführt, wo eine niedrige Thür den Eingang zu dem Allerheiligen der Breterwelt bildete. Schon bei seinen ersten Schritten in dem dunkeln Raume hörte er den Klang eines Pianos, dem sich bald die Töne einer menschlichen Stimme anschlossen; sein Begleiter ließ ihm indessen keine Zeit zum Horchen, faßte seine Hand und führte ihn über dunkle Treppen zwischen Bretern und Balken, aufgespannten Leinwandstücken und andern mysteriösen Gegenständen, deren Natur die Berührung der Hand nicht zu ergründen vermochte, einem matten Lichtpunkte zu, der sich bald als ein halberblindetes Fenster erwies, und der Deutsche sah sich plötzlich, zum ersten Male in seinem Leben, hinter den Coulissen einer großen Bühne.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_338.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)