Seite:Die Gartenlaube (1861) 354.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

bald in ihren weiten Intervallen wie Blitze einschlagen, bald in ihren weichen Melodien das ganze Leid einer Seele auszuströmen scheinen, bald in ihren Rouladen das Wallen des südlichen Blutes verrathen. Reichardt saß in seinem Versteck, seine Sinne nur in Auge und Ohr vereinigt; er hatte weder von dieser Macht ihrer Stimme, noch dieser geschulten Fertigkeit, noch dieser Fähigkeit des tragischen Ausdrucks eine Ahnung gehabt; sie war, wie sie hier stand, eine völlig Fremde für ihn, und fast mit einer Art Ängstlichkeit suchte er in ihrem Gesichte das auf, was ihn an die Mathilde außerhalb des Theaters erinnern konnte.

Ein völliger Sturm des Applauses brach nach dem ersten Satze in dem gefüllten Hause los; sie schien aber kaum darauf zu achten und nur in der Handlung der Scene zu leben; der Bariton hatte sich ihr genähert und seine Bitten von Neuem begonnen; wieder zurückgewiesen begann er dringender und leidenschaftlicher zu werden, und jetzt entspann sich ein Duett, in welchem Reichardt bald nicht mehr wußte, was er mehr bewundern sollte, den Gesang oder die Wahrheit des Spiels; Meier’s Gesichtsausdruck schien eigens für derartige Scenen geschaffen zu sein, immer drängender und süßer flehend wurden seine Töne, immer schmerzlicher seine Züge, bis endlich große Thränen, helle, wirkliche Thränen über die geschminkten Backen rollten. Reichardt meinte, das Schluchzen werde ihm jetzt gleich die Stimme abschneiden, aber jetzt schien der Mann erst in die ihm zusagende Höhe der Empfindung gelangt zu sein. Daß die so Angeflehte erweicht werden mußte, ließ sich kaum anders erwarten; sie neigte sich nach einem langen innern Kampfe zu ihm, und mit dem jubelnd einfallenden Chore, von dem wüthenden Applaus der Zuhörermenge begleitet, führte er die Gewonnene ab.

Beide waren in Reichardt’s unmittelbarer Nähe in die Coulisse getreten, und kaum hier angelangt wollte Mathilde sich von ihrem Begleiter wegwenden, als dieser, wie in Ekstase, sich ihrer beiden Hände bemächtigte und wie halberstickt von seiner Empfindung in demselben schmerzlichen Tone, der seinen Gesang bezeichnet, ausrief: „Mathilde, Mathilde, fühlst Du denn noch immer nichts?“

Sie wollte sich mit einer kurzen Bewegung frei machen, aber er hielt sie fest und fiel vor ihr auf die Kniee. In ihr bleiches Gesicht stieg das Roth des Zorns. „Sie schämen sich also wirklich nicht, Sie, ein verheirateter Mann, ein schutzloses Mädchen zu verfolgen?“ rief sie mit dem Ausdrucke der bittersten Verachtung.

„O Mathilde, sieh meine Thränen!“

„Sie haben wieder getrunken, Herr, das ist Alles!“

Reichardt, von Ueberraschung gefesselt, wußte nicht sogleich was zu thun; da sah er den Bariton aufspringen und seine Arme ausbreiten, hörte: „O Mathilde, ich kann Dich nicht lassen!“ und wollte hinzueilen, als eine kräftige, klatschende Ohrfeige auf des Liebeerregten Gesicht fiel, die diesen einen Schritt zurücktaumeln machte; im gleichen Augenblicke war auch das Mädchen verschwunden.

Auf der Bühne gingen eben die letzten Töne des Schlußchors in dem neuausbrechenden Beifallssturme unter.

Reichardt fand es jetzt nicht für gerathen, seine Anwesenheit kund zu thun; er wartete, bis der abgewiesene Liebhaber, der sich rasch zu fassen schien, als er den Actschluß inne wurde, davon ging, und verließ dann seinen Versteck.

Auf seine Frage, wo er wohl die Schwester finden könne, wurde er nach einem der Garderobezimmer gewiesen und nicht ohne eine Art von Befangenheit klopfte er hier an. Er hielt es für seine Pflicht, dem Mädchen zu sagen, daß er die eben stattgefundene Scene belauscht, daß sie sich als unter seinem Schutze betrachten möge, und daß er beabsichtige, dem Menschen eine gebührende Lection zu geben; demohngeachtet fühlte er sich auf so völlig fremdem Boden, kannte so wenig die möglichen Beziehungen und den herrschenden Ton in derartigen Kreisen, daß er nicht wußte, ob es nicht vielleicht discreter sei, nichts gesehen zu haben.

Sein Pochen blieb ohne Antwort, und erst als er den Mund an die Thür legte und halblaut sagte: „Max ist es, Mathilde!“ schob sich der innere Riegel zurück. Mitten unter den reichen Gewändern und Schmuckgegenständen, welche überall in dem kleinen Raume ausgebreitet lagen, blickte ihm Mathilde, in ein leichtes Tuch gehüllt, mit einem Gesichte entgegen, das sich zu lächeln bemühte und es doch nicht vermochte, mit Augen, von welchen eben die Thränen gewischt zu sein schienen und die dennoch im hellen Wasser schwammen – und Reichardt dachte nicht mehr an die Indiskretion, die er sich gefürchtet hatte zu begehen. „Thue Dir keinen Zwang an, Mathilde,“ sagte er, ihr die Hand entgegenstreckend, „ich bin willenlos Zeuge des letzten Auftrittes hinter der Coulisse gewesen; sage mir nur, ob ich als Dein Bruder handeln darf, und ich denke, der Mensch soll Dich nicht mehr belästigen!“

Ein tiefes Roth war bei seinen ersten Worten in ihr Gesicht gestiegen, das nur langsam sich wieder verlor. „Du warst Zeuge?“ erwiderte sie, sichtlich ihre Erregtheit niederkämpfend, „gut, so habe ich Dir von Begegnissen dieser Art nicht erst zu erzählen. Laß es aber nur,“ fuhr sie, seine Hand drückend, fort, während trotz ihres Ringens nach Fassung ihre Augen immer wieder überquollen, „ich werde allen Quälereien dieser haltlosen Stellung ein Ende machen und mir den nöthigen Schutz verschaffen – morgen schon. Heute Abend aber sprechen wir noch ein Weiteres mit einander, ich habe in der zweiten Abtheilung nur einmal, gleich zu Anfange, zu singen. Hole mich hier ab, sobald ich durch bin, damil wir allein nach Hause kommen – und nun geh, damit ich mich nicht mehr aufrege, als jetzt für meine Stimme gut ist!“ Sie drückte ihm von Neuem die Hand, und er ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Auf der Bühne hatte bereits eine neue Production begonnen; er stieg die kurze Treppe nach einer der Theaterlogen hinauf und setzte sich im Hintergrunde derselben nieder; aber er hörte wenig von der Scene. Seine Gedanken waren bei dem Mädchen, welches das Ungeeignete ihrer Stellung so tief empfand und dennoch sich an dem eigenen Muthe und dem Vertrauen auf die innere Kraft immer wieder aufrichtete. Eine warme Theilnahme an ihrer Lage begann sich seiner zu bemächtigen, er grübelte, woher ihr wohl der Schutz, den sie sich so schnell zu verschaffen gedachte, kommen solle, ob sie wohl daran denke, ihren jetzigen Beruf zu verlassen, und unwillkürlich trat das Bild einer musikalischen Wirksamkeit an ihrer Seite vor seine Seele. Er Musiklehrer, während sie sich schnell zu seiner Unterstützung heranbilden würde; sie Kirchensängerin und er vielleicht später am gleichen Orte Organist, beide in den besten Familien eingeführt, überall geehrt und geachtet – es lag eine Stille und behagliche Ruhe in dem Bilde, die ihm nach der Unsicherheit und Rastlosigkeit seines bisherigen amerikanischen Lebens eigenthümlich wohl that. Die Scene war zu Ende, eine neue hatte begonnen, aber kaum riß ihn der lärmende Beifall des Auditoriums für Augenblicke aus seinen Träumereien, und erst als Malhildens silberklare, mächtige Stimme an sein Ohr schlug, raffte er sich wieder zur Wirklichkeit empor.

Als er kurze Zeit nach ihrem Abtreten sich an ihrer Garderobe meldete, fand er sie bereits zu seiner Begleitung fertig. An seinen Arm gehangen schritt sie, ohne die fragenden Blicke der übrigen Sänger zu beachten, nach dem Ausgange; nur als sie hier auf den Director traf, welcher mit einer tiefen Verneigung zur Seite trat, blieb sie stehen und sagte: „Ich gehe, Monsieur Fonfride, da ich doch heute nicht weiter nöthig bin; ich möchte Sie aber bitten, mir morgen früh eine halbe Stunde in meinem Zimmer zu gönnen.“

Reichardt sah, wie es in dem Gesichte des Mannes aufleuchtete, ähnlich dem Ausdrucke, welchen Jener bei Mathildens erstem Auftreten in seinen Zügen beobachtet hatte. Das Mädchen aber neigte nur leicht den Kopf und zog ihren Begleiter nach der matt erleuchteten Treppe. Wortlos schritten Beide neben einander hinab, bis sie die Straße erreicht hatten.

An der vorderen Ecke des Theatergebäudes stand ein Mann mit weißem Sommerhute, der langsam aus ihrem Wege trat, als sie die Stelle passirten. Fast war es Reichardt, als hänge sich das Mädchen beim Anblick des Wartenden fester an seinen Arm.

„Ich glaube, der Mensch folgt uns,“ sagte sie nach einer Weile halblaut, „laß uns schärfer gehen!“

„Und was liegt daran, wenn er uns folgt?“ fragte er mit einem neuen Anfluge von Befremdung.

„Daß er im Stande ist, uns anzureden und an unserer Seite zu bleiben,“ erwiderte sie, ihren Begleiter zu schärferem Schritte drängend; „ich möchte aber jetzt weder eine Sylbe von ihm hören, noch Dich in einem Wortwechsel mit ihm sehen!“

Reichardt gab schweigend ihrem Drängen nach; als er aber beim Umbiegen der nächsten Ecke zurückblickte, sah er wirklich in geringer Entfernung den Agenten ihrem Wege folgen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_354.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)