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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

wir uns selbst aufgeben.“ Dem Schutzempfohlenen einer geistreichen Frau ertheilt er einen Rath, wie er es anfangen müßte, um eine Anstellung in der Bank zu erhalten, er bezeichnet ihm den Mitbewerber, welchen er zu besiegen hätte, und die geeigneten Mittel, die anzuwenden wären, um diesen Zweck zu erreichen; er entwirft einen vollständigen Feldzugsplan und schreibt einen Empfehlungsbrief an einen Mann, dessen Verwendung das Weitere thun werde. So beschäftigt er den ganzen Abend über die Gesellschaft und wird den ganzen Abend über von ihr beschäftigt.

Zu bemerken ist noch, daß Herr … eine bestimmte politische Meinung bekennt, von welcher er bisher nicht wesentlich abgewichen; er ist ein gemäßigter Republikaner, der sich mit einer echt konstitutionellen Monarchie abfinden läßt. Er ist mit einem Worte liberal, ob aus Ueberzeugung oder Berechnung, wer vermöchte das zu sagen? Genug, daß er den liberalen Bestrebungen nach Kräften Vorschub leistet und sich der kaiserlich napoleonischen Regierung ferne hielt, die ihm bereitwillig die Arme geöffnet hatte. Man sagt diesem Mengin des Salons, der mit Einfluß Handel treibt, eine glänzende politische Zukunft vorher. –

So oft ein neues Stück von Scribe gegeben wurde, sei es nun im Gymnase, oder in der komischen Oper, oder im Théatre Français, sah man während der Zwischenakte im Foyer einen Mann von stattlichem Aussehen in schwarzem Frack, in weißer Halsbinde und Glanzstiefeln, Namens Fournier. Wer ihn nicht kannte, hätte ihn zum Mindesten für einen Akademiker gehalten, so selbstbewußt trat er auf, so überlegen gebehrdete er sich, so bestimmt war sein Urtheil und jede seiner Behauptungen.

Herr Fournier war aber kein Akademiker, sondern bekleidete eine untergeordnete Stelle im Ministerium des öffentlichen Unterrichts und hatte einige unglückliche Bühnenversuche gemacht.

Die pariser Theater haben ein Foyer, eine Art Sprechsaal, wo die Zuschauer nach jedem Aufzug sich versammeln, sich von den erfahrenen Eindrücken erholen und über das Gesehene und Gehörte ihre Meinungen austauschen können. Es ist durch diese Einrichtung dem Bedürfniß des Franzosen, lebhaft Empfundenem sogleich Ausdruck zu geben und seinen Gefühlen in Worten Luft zu machen, in angenehmer Weise entsprochen. Bei ersten Vorstellungen bilden sich da Gruppen; Theaterliebhaber, Enthusiasten, Männer von Fach, Kritiker, Feuilletonisten erklären sich für und gegen das Gesehene und Gehörte. Handelte es sich um ein Erzeugniß von Scribe, so begab sich Herr Fournier von Gruppe zu Gruppe, bekämpfte mit heißer Beredsamkeit den Tadel, bekehrte die Unentschiedenen zu Gunsten des Verfassers, entflammte die lauen Lobredner und unterstützte die Preisenden. Man kann nicht genug von den Ueberschwänglichkeilen erzählen, denen sich Herr Fournier bei diesen Gelegenheiten hingab.

Als das „Glas Wasser“ im Théatre Français zur Aufführung kam, fand es Einer im Foyer unwürdig, daß drei Frauen und eine Königin auf einen jungen Officier förmlich Jagd machen, der aller geistigen Vorzüge baar sei.

„Wie?“ rief Fournier ihm entgegentretend, „Sie tadeln, was eben als ein großer Zug des Dichters zu betrachten ist, was des Verfassers tiefe Kenntniß der menschlichen Natur, seine gereifte Erfahrung, sein Ehrfurcht vor der Wahrheit darthut? Je unbedeutender Masham erscheint, desto interessanter, desto anziehender, desto lehrreicher die Liebe der Königin, wie der kleinen Abigail, wie der Frau des berühmten General Marlborough, zu ihm. Nur Shakespeare und Scribe besitzen die Meisterschaft, konnten so ein psychologisches Wunder entdecken, nur Shakespeare und Scribe besitzen die Meisterschaft, ein solches Wunder darzustellen. Nur wer das Höchste in der Kunst erreicht hat, kann es wagen, auf diese Weise mit den geheimen Feinden des menschlichen Herzens zu spielen.“ Ein großer Kreis hatte sich um die beiden Vertreter entgegengesetzter Meinungen gesammelt, und es war zu sehen, daß die meisten der Umstehenden, von diesen Worten hingerissen, Herrn Fournier beitraten.

„Das Bild selbst, wenn es wahr ist, bleibt unerquicklich und unmoralisch,“ versetzte der Tadelnde, der sich wenig darum zu kümmern schien, ob die Zeugen des Widerstreits ihm oder seinem Gegner beipflichteten. Da Herr Fournier nicht sogleich Argumente bei der Hand hatte, die wohl auch schwer zu finden sein mochten, um sie der neuen Anklage des unliebsamen Beurtheilers entgegen zu stellen, und doch denselben nicht gelten lassen wollte und konnte, so half er sich durch allerlei Gemeinplätze aus der Verlegenheit.

„In was für einer schlimmen Zeit leben wir,“ rief er im Tone eines zürnenden Propheten, „wo der Kranz auf dem geheiligten Haupte des Genie’s nicht mehr unbeneidet, nicht unangetastet bleibt, wo Götterfunken für Irrlichter, hochgehende Gedanken für Lästerungen, reine Gesinnung für Mangel an Erkenntniß gehalten werden!“ Während er jedoch mit diesen hohlen Phrasen um sich schlug, fiel ihm eine Betrachtung ein, die er dem Tadler gegenüber mit Vortheil verwenden zu können hoffen durfte, und er fuhr fort: „Die Liebe der drei Frauen zu Masham unmoralisch! Kommt er der Königin, kommt er der Frau des General Marlborough in unerlaubte Nähe? Wird das Princip der Ehe nicht in Ehren gehalten? Der Officier liebt die kleine Abigail, und die kleine Abigail liebt ihn, und sie heirathen sich. Was kann die strengste Moral mehr verlangen?“

Die Umstehenden nickten zustimmend. Sie zerstoben, da die Glocke den Beginn des folgenden Actes ankündigte und dem Streit ein Ende machte. Durch die Worte des Herrn Fournier überzeugt, kehrten sie in das Schauspielhaus zurück und beklatschten jede wirksame Scene, jedes geistreiche oder witzige Wort, jede überraschende Wendung der Vorgänge.

Es war nicht etwa aus Freundschaft, daß sich Herr Fournier der Stücke des Herrn Scribe so warm, so heldenmüthig annahm, er erfüllte ein Amt, das ihm der dramatische Schriftsteller übertragen und welches ihm weit mehr eingebracht haben soll, als seine Anstellung im Unterrichtsministerium.

Herr Scribe war ein praktischer Mann, ein berechnender Kopf, der seine Nation zu genau kannte, um nicht zu wissen, wie nützlich und schädlich jedem Unternehmen in Frankreich eine kühne, geläufige Zunge, verbunden mit einer imposanten Körperlichkeit, sein kann. Vertraut mit den Intriguen und Kämpfen des Foyer und überzeugt, daß ihre Einwirkungen die bestabgerichtete Claque nicht aufzuheben vermag, verfiel er auf den glücklichen Gedanken, sich einen Sprecher zu seinen Gunsten, einen Agenten im Foyer zu unterhalten, und in Herrn Fournier, der ihm bei seinen literarischen Arbeiten ein wenig behülflich war, glaubte er den Mann gefunden zu haben, der geeignet war, seine Interessen im Foyer zu vertreten.

Mit Eifer, Geschick und Erfolg erfüllte Herr Fournier die ihm gestellte Aufgabe; aber nicht immer wurde es ihm so leicht, wie bei der oben angedeuteten Gelegenheit, das letzte Wort zu behalten und seine Gegner durch einen Phrasenschwall zu erdrücken. Manchmal traf er auf einen geistreichen Widersacher, der ihn verspottete und dem Gelächter preisgab; ein ander Mal stand ein noch Reicherer an Worten, als er selber, ihm entgegen, so daß er durch die eigene Waffe geschlagen wurde; dann stieß er bisweilen auf einen Heftigen, der ihn hart anließ, der seine Zudringlichkeit zurückwies. Allen diesen Widerwärtigkeiten hielt Herr Fournier jedoch mit einem stoischen Gleichmuthe Stand, durch den er das Vertrauen des Herrn Scribe mehr als rechtfertigte.

Eines Abends sollte aber Herr Fournier gar arg aus der Fassung gebracht werden. „Une chaine à rompre“ vom Herrn Scribe wurde im Français gegeben, und ein älterer Mann mit grauem Schnurr- und Knebelbart eiferte im Foyer gegen das Stück, dem er einen verderblichen Einfluß auf die Sitten vorwarf, das er gemein und nichtswürdig schalt. Kaum hatte Herr Fournier dieses vernichtende Urtheil vernommen, als er erwiderte: „Ein Dichter, welcher die Gebrechen der Zeit aufdeckt, kann nicht Jedem Willkommenes vorführen, kann unmöglich alle Empfindlichkeiten schonen, und was den Einen erheitert, kann den Anderen verletzen.“ Ein höhnisches Lächeln zeigte sich auf den Lippen der Umstehenden, und der Mann mit dem grauen Schnurr- und Knebelbart gerieth in eine förmliche Wuth.

„Unverschämter!“ rief er dem Vertheidiger des Stückes zu, zog hastig ein Portefeuille aus der Tasche und reichte dem betroffenen Anwalt des Herrn Scribe seine Karte hin. Und als Herr Fournier zauderte sie anzunehmen, versichernd, daß er auf keine bestimmte Persönlichkeit angespielt habe, rief der Andere: „Nehmen Sie, oder ich beschimpfe Sie auf’s Gröblichste,“ so daß dem armen Fournier nichts Anderes übrig blieb, als die Karte anzunehmen und die seinige zu geben, wollte er sich nicht den Mißhandlungen jenes ungestümen Gegners und dem Gelächter der Anwesenden aussetzen.

Er entfernte sich und eilte in die Loge des Herrn Scribe, den er in bester Laune, sichtlich vergnügt über den Erfolg des Stückes fand.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_362.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)