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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Auch mit Pfarrfamilien der Gegend wurde viel freundschaftlicher Verkehr unterhalten, da der Vater, dessen von Natur heiteres, innerlich weiches Gemüth sich gedrückt fühlte von dem harten, schweren Beruf des Juristen, vorzugsweise den Umgang mit gebildeten Geistlichen liebte und suchte. Vor allem war es ein ganz nahe gelegenes Dörfchen, drüben über dem Neckar zwischen grünen Obstwäldern gebettet, dessen freundliches Pfarrhaus ein liebes Ziel viel fröhlicher Spaziergänge war – es war so lieblich hinüberzufahren über den blauen Neckar und weiter zu wandeln, bis der grüne Pfad sich im Obstwäldchen verlor.

Eine gesuchte Erzählerin war Ottilie zu jener Zeit, ohne alle Ahnung, daß einst auf diesem Gebiet ein Theil ihres Berufes liegen werde; den Brüdern ließ sie auf dem Spaziergang die Wahl: „Wollt Ihr eine Räuber-, eine Ritter- oder eine Geistergeschichte?“ In den Pausen der Schulstunden, in der Strickschule, in der Gartenlaube oder im grünen Gras unter dem Apfelbaum des Pfarrgartens – überall sammelte sich ein kleiner Kreis um sie, dem sie unermüdet gelesene oder selbsterfundene Geschichten vortrug; auch die Aufführungen auf einem kleinen Puppentheater fanden stets ein zahlreiches Auditorium.

Im sechsten Jahr, als ihr einmal Niemand mehr erzählen wollte, hatte sich die Kleine eingeschlossen in die Stube, um sich mit lauter Stimme selbst eine Geschichte zu erzählen. Sie war sehr erfreut über diese Entdeckung, daß man sich auch selbst erzählen könne, und erinnert sich fast keiner Zeit, wo sie dies nicht versucht hätte, bis in späterer Zeit die Phantasiebilder von ernsten Gedanken verdrängt wurden. Zu ihren ersten poetischen Versuchen fühlte sie sich angeregt durch die liebliche Umgebung ihrer Heimath, – ein paar Naturgedichte, ein paar Verse, um etwas Anderes als die langweilige Vorlage auf die Schulschrift schreiben zu können, ein begeistertes Gedicht an die junge Lebensretterin Susanna Breisacher in Baden, eine gereimte Satire auf die Lateinschüler, mit denen die Mädchenschule in beständigem kleinem Krieg lebte, eine Elegie auf den Tod von zwei kleinen Kindern, Geschwistern, die in einer Woche starben, das waren so ziemlich ihre ersten Versuche vom zehnten bis dreizehnten Jahr. Auch das Loos des verbannten Königs Karl X., von dem sie freilich wenig kannte, als sein trauriges Geschick, rief ein paar Klagelieder um „das graue Königshaupt“ hervor, während sie später mit glühender Begeisterung Polenlieder dichtete.

Das kleine Talent wurde von Eltern und Freunden gerne bemerkt, doch in keiner Weise gesteigert, noch weniger in der Erziehung darauf Rücksicht genommen. Wenn sie später bedauert hat, daß ihr Gelegenheit zu gründlicher Schulbildung fehlte, so hat sie dagegen immer als großen Segen erkannt, daß ihr durch die tüchtige Leitung der Mutter die häuslichen Geschäfte lieb und vertraut geworden sind, die für Körper und Geist die gesunde Grundlage eines Frauenlebens bilden.

Die einzige längere Trennung vom Vaterhause außer kleinen Reisen zu Verwandten und Freunden rings im Lande, war ein siebenmonatlicher Aufenthalt in der Residenz „zur Ausbildung“, wie das vor dem Zeitalter der höhern Töchterschulen bei jungen Mädchen vom Lande noch mehr als jetzt Sitte war. Diese Ausbildung bestand außer französischen Lectionen im Besuch einer Tanzstunde, in Lectionen im Kochen, Bügeln, Kleidernähen; all diese Lehrstunden bildeten heitere Landcolonien, in denen die feinern Töchter der Residenz nur die zweite Rolle spielten, harmlose Mädchenstaaten im Staat, die von Glanz und Geräusch des Residenzlebens wenig berührt wurden. Durch liebe Herzensfreundinnen und Verwandtenhäuser wurde Ottilien auch später noch die Residenz fast zur zweiten Heimath. Große Reisen hat sie nie gemacht, und viel später erst auf der Hochzeitreise zum ersten Mal die Grenze ihres kleinen Vaterlandes überschritten.

Daheim gestaltete sich das Leben des erwachsenen Mädchens noch heitrer und vielgestaltiger, als die Brüder in der Ferienzeit den Hauch eines frischen, geistig regen Studentenlebens mit nach Hause brachten, als die weiten Räume der alten Amtswohnung einen fröhlichen Sammelpunkt bildeten für die zahlreichen Vettern und Bäschen mit denen die Familie gesegnet war, als in den stillern Zwischenzeiten zahlreiche Briefe, kleine Gedichte, scherzhafte Drama’s, welche die kleinen Begebenheiten des Beisammenseins schilderten, hin und wider flogen. Der Vater ließ die Jugendlust gewähren und zog sich höchstens zurück, wo es ihm zu bunt wurde; die Mutter, selbst noch frischen und jugendlichen Sinnes, belebte und erhöhte nur die Freude der Jugend; Sprüchwörterspiele, Landpartien und Wasserfahrten machten die Ferienzeiten fröhlich und wechselreich.

Einen tiefern Reiz als durch diesen heitern Verkehr erhielt das Leben des jungen Mädchens durch die innige Freundschaft mit einer jungen Frau, der treubewährten Freundin, der sie später in dem kleinen Buche „Auguste“ versuchte ein Denkmal zu setzen. Zu jeder Zeit übrigens, neben allem Sinn für heitern Umgang, war ihr die Einsamkeit, stille Gänge in der klaren Morgenfrühe, auf den grünen Hügeln, in den lieblichen Thälern der Gegend der liebste Genuß. Diesen tiefen Zauber der Einsamkeit, den die Jugend unbewußt mit vollen Zügen genießt, sucht wohl das spätere Alter vergeblich, bis wir höher gestiegen, immer höher, und immer stiller geworden sind, so daß wir in Ahnung des Lichtes der stillen Ewigkeit Ersatz finden für die verblichenen Jugendträume.

Die glückliche Gabe der Erinnerung ist, daß sie meist heitre Bilder aufbewahrt. Kommt es vielleicht daher, daß das Helle, Fröhliche mehr auf der Oberfläche des Daseins schwimmt, das Dunkle, Ernste sich mehr auf den Grund senkt und wieder hervorgeholt sein will? So scheint auch diese Lebensskizze sich zu einem Lichtbild ohne Schalten zu gestalten, während es auch diesem Leben, wie jedem, nicht an ernsten, trüben Erfahrungen gefehlt hat.

Es ist schwer, die Schatten, die schon durch die vielgepriesene, vielbesungene goldne Kinderzeit gehen, zu Tage zu legen; – das Kind, dem seine innersten Regungen selbst nicht klar sind, kann sie auch nicht ausdrücken, es wird leichter, als man denkt, verschüchtert, gekränkt, mißverstanden, und doch lassen sich auch die Leiden der Kindheit meist auf den alten Spruch zurückführen:

„Der Uebel größtes aber ist die Schuld.“

Wie leicht oder wie schwer die Fehler und Vergehen der Kindheit wiegen mögen auf der Wage der spätern, nüchternen, praktischen Lebensanschauung, das thut nichis zur Sache; jedes Gewissen hat seine eigene Wage, eine Wage, deren Gewichte von höherer Hand geregelt worden sind. Wenn nun auch auf die Freuden dieser Kindheit Leid und Kummer, Reue und Angst schon ihre dunkeln Schatten geworfen, so ist durch sie auch der Zug der ewig treuen, suchenden Liebe gegangen, die sich ausspricht in den schönen Worten: „ich habe dich je und je geliebet, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“

Auch dem reifern Mädchenleben fehlte es nicht an ernsten Mahnungen an die Vergänglichkeit des Irdischen, an das Eine, was Noth thut. Zwei geliebte Freundinnen ihrer Kindheit und Jugendzeit starben in blühendem Alter, die Eine unerwartet schnell, die Andere nach langem, schwerem Hinsiechen. Die vielen stillen Stunden, durch lange Monate an diesem Krankenbette verbracht, gehören zu den ernstesten ihres Lebens, gewiß aber nicht zu denen, deren Erinnerung sie auslöschen möchte.

So konnte sie die leichten Vergnügungen, die man so gewöhnlich Jugendfreuden nennt, harmlos genießen, ohne von ihnen hingerissen zu werden. Die Schlange unter diesen Rosen, mit welcher man so oft der Jugend bange macht, hat sie nicht entdecken können, aber ihre fröhlichsten und glücklichsten Erinnerungen liegen nicht da, und sicher ist es eher ein Gewinn, als ein Abzug an echter, frischer Jugendlust, wenn die äußeren Verhältnisse oder der Gang der inneren Entwickelung den Genuß solcher Freuden ausschließen.

Als Schriftstellerin je einmal aufzutreten, ist Ottilien zu jener Zeit auch nicht im Traume eingefallen. Ernste und heitre Gedichte, jene scherzhaften Dramen, die kleine Ereignisse des Mädchenleben darstellten, waren all ihre poetischen Versuche, die im nächsten Kreise der Freundinnen gehört und vergessen wurden. Eine Schriftstellerin erschien ihr als ein seltsames Ausnahmsgeschöpf, ihr Loos ein interessantes, aber keineswegs ein wünschenswerthes.

Briefe, zahllose Briefe an ernste, an heitere, an sentimentale, an nüchterne, an fromme, an weltlichgesinnte Freundinnen waren das Einzige, was sie schrieb; dazwischen suchte sie da und dort die Lücken ihrer Bildung etwas auszufüllen, sich wenigstens die französische und englische Sprache, für welche letztere sie große Vorliebe hegte, mehr zu eigen zu machen.

Der schnelle Tod eines geliebten Bruders im Jahr 1841 bildete den innern Wendepunkt, der wohl in jedem Leben eintritt; die tiefste Tiefe des Leides, den ganzen furchtbaren Ernst des Lebens und des Todes, aber auch Gottes erbarmende Treue hat sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_374.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)