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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

fühlte, die begonnene Arbeit bis auf die offene Straße fortzusetzen, hielt er inne. „Entweder geh’ ganz von hier weg und gieb auf, was du unternommen,“ sprach er nach einer Pause vor sich hin, „oder schäme dich nicht dessen, was dich nährt; sei das, was du einmal bist, ganz und überlasse das Uebrige der Zukunft!“ und als gehe er daran, eine Heldenthat zu vollbringen, kehrte er den zusammengefegten Schmutz nach der Straße hinaus, machte sich dann an das Reinigen des untern Raumes und fegte sodann gründlich den Seitenweg der Straße, wie er dies oft von den Porters anderer Geschäftshäuser hatte thun sehen. Jetzt fühlte er, daß er den Berg überstiegen hatte und was nun noch kommen mochte, sollte ihn fertig und vorbereitet finden.




Reichardt’s Stellung im Hause hatte sich schon nach Verlauf der ersten Wochen eben so bestimmt herausgebildet, als er selbst einen klaren Einblick in die Verhältnisse seiner Umgebung erhalten hatte. Drei erwachsene Söhne waren in dem Geschäft thätig, von welchen der mittlere die Fabrik und das Lager beaufsichtigte, während der älteste, William, bereits Mitglied der Firma, die allgemeine Oberleitung an Stelle des alten, wenig sichtbaren Vaters versah, und der jüngste, James, als Clerk in der Office arbeitete.

Den controlirenden Geist in dem ganzen Etablissement aber bildete der alte Black, unter dessen Augen die jungen Johnsons herangewachsen, unter dessen Leitung sie ihre ersten Arbeiten begonnen und dessen überwachendem Einfluß sich selbst der junge Chef nicht zu entziehen vermochte. Reichardt’s Arbeitskreis wies ihn zunächst nach der Office. Er hatte die gewöhnlichen Geschäftsausgänge zu besorgen, war bei den Verladungen beschäftigt und für die Sicherheit und Ordnung der vordern Räume verantwortlich. In den ersten Tagen hatte der Buchhalter mit grämlichem Auge jede seiner Arbeiten bewacht und controlirt, während James von weitem das Thun und die ganze Erscheinung des Deutschen mit einem stillen Interesse zu beobachten schien; als aber der Kupferschmied, sobald er wahrgenommen, wie sich Reichardt in seine neue Lage gefunden, erzählt hatte, daß dieser nur Porter geworden sei, um das amerikanische Geschäft von unten auf kennen zu lernen, daß er aus einer der besten Familien in Deutschland stamme und so viel Kenntnisse besitze als nur irgend ein deutscher Buchhalter oder Correspondent – da hatte James hie und da ein Gespräch mit dem Neueingetretenen begonnen, und Reichardt’s freies, herzliches Entgegenkommen hatte bald ein Verhältniß zwischen Beiden geschaffen, das wenigstens, so lange Beide sich im Geschäft neben einander bewegten, den Deutschen oft die Stellung, in welcher er sich befand, vergessen ließ – der Buchhalter aber schien sich bald nur noch mit einzelnen sonderbaren Blicken, welche er auf den jungen Deutschen warf, zu begnügen, und dieser begann mit einem eigenthümlich wohlthuenden Gefühle das aufkeimende Vertrauen des Alten wahrzunehmen. Der Einzige, dessen Benehmen sich völlig gleich blieb, war William Johnson. Er schien entweder den neuen Porter gar nicht zu bemerken, oder wenn er ihm etwas zu sagen hatte, geschah es mit demselben sonderbar musternden Blicke über Reichardt’s Aeußeres und dem vornehm nachlässigen Tone, welche das erste Zusammentreffen Beider bezeichnet hatten; der Letztere aber hatte schon seit dem ersten Tage sich das Wort gegeben, sich durch eine Behandlungsweise, welche seine Stellung mit sich bringen konnte, niemals wieder aufregen zu lassen, und nahm sie als ein Uebel, das vorläufig ertragen werden mußte.

Eine so lebhafte Genugthuung nun auch der Kupferschmied über die Weise empfand, in welcher sich Reichardt in seine Lage und die ungewohnte Arbeit gefunden, so wenig war er doch mit dessen außergeschäftlichem Leben zufrieden. Er schien auf ein stetes Beisammensein, auf eine rechte Cameradschaft gerechnet zu haben; Reichardt aber, bei aller Herzlichkeit, mit welcher er den Freund behandelte, hielt sich doch fern von der Gesellschaft, in welcher der Letztere sich bewegte. Er nahm seine täglichen Mahlzeiten wie am ersten Tage seiner Ankunft mit dem Kupferschmied zusammen; wenn aber dieser dann irgend ein Bierhaus aufsuchte, ging jener nach dem geschlossenen Geschäft zurück, brannte sich in der Office eine Gasflamme an und begann sich hier den Abend auf seine eigene Art zu vertreiben – diese bestand aber in dem Studium der Unterschiede zwischen der englischen und deutschen Buchhaltung, wie er sie in einem der praktischen englischen Lehrbücher, das sich wie gebräuchlich in der Office befand, vorgefunden; sodann in der Durchsicht des Brief-Copirbuchs, welches ihm eine Menge noch unbekannter Wendungen im kaufmännischen Style zeigte, und wenn auch Meißner nicht begreifen konnte, wie ein Mensch nach anstrengender Tagesarbeit so den Abend verbringen könne, mit nichts als dem Hund und einer Cigarre zur Gesellschaft, so durfte er doch kaum etwas gegen ein Streben, wie es sich in des Freundes Beschäftigung aussprach, sagen und er ergab sich darein, wenn auch unmuthig und brummend.

Indessen vergingen zwei Monate in der sich gleichmäßig abspinnenden Arbeit; Reichardt hatte einsehen lernen, daß der Kupferschmied wahr gesprochen, daß trotz aller Anerkennung, die ihm wurde, von einer Aenderung seiner Lage im Geschäfte selbst keine Rede sein könne, und oft, wenn er Nachts, den Hund zu seinen Füßen, wachend im Bette lag, wenn alle die Bilder seiner amerikanischen Erlebnisse an ihm vorüberzogen, begann er sich Phantasien zu machen, auf welche Weise ihm wohl von auswärts ein Glück kommen könne.

Es war ein heller Spätnachmittag zu Anfang des December. Bis Mittag hatte es einen leichten Schnee geworfen, dann war die Sonne durchgebrochen und hatte in den Straßen ein Meer von flüssigem Schlamm geschaffen. Reichardt hatte sich einen starken Besen hervorgesucht, um den Seitenweg, so weit sich das Haus erstreckte, zu reinigen, und begann seine Arbeit mit vollem Eifer. Eine Equipage, die, einem andern Fuhrwerk ausweichend, nahe dem Fußwege herangerollt kam und ihn zu bespritzen drohte, machte ihn zurücktreten und aufsehen; der Wagen war vorüber, aber der Deutsche stand ihm wie gebannt nachstarrend, eine jähe Röthe hatte sein Gesicht übergossen und war einer gleich rasch folgenden Blässe gewichen. Reichardt hatte in ein Paar Augen gesehen, die plötzlich eine Erinnerung wie an einen verschwundenen, glänzenden Stern in ihm wachgerufen – aber die Augen hatten sich bei seinem Anblicke wunderbar belebt, es war ihm fast gewesen, als habe die feine Gestalt, welcher sie gehörten, eine Bewegung der Ueberraschung gemacht – Reichardt hatte von Allem, was der Wagen enthielt, nichts gesehen als dies eine Gesicht, es war vor ihn getreten, wie die Verkörperung seiner süßesten Träume, er hatte den milden Stern wieder erkannt, der ihm an der Seite Harriet’s, die wie ein Meteor in sein Leben geschweift, in Saratoga ausgegangen war, dessen Erinnerung selbst in den verlockendsten Augenblicken seiner letzten Vergangenheit nicht von ihm gewichen – und hier hatte sie ihn, die Straße fegend, wieder gesehen.

Ein halbes Dutzend Häuser etwa mochte die Equipage passirt haben, als sie plötzlich nach dem Seitenweg bog und hier anhielt. Ein junger, eleganter Mann sprang heraus und nahm raschen Schritts seinen Weg zurück, direct auf den jungen Deutschen los, der krampfhaft seinen Besen gefaßt, das Halten des Wagens beobachtet hatte. Ein Lächeln der Befriedigung glitt über das Gesicht des Herankommenden, als er den gespannten Ausdruck in Reichardt’s Mienen bemerkte, zugleich aber schien sein Auge begierig jede Einzelnheit in dem Aeußern des Dastehenden erfassen zu wollen. „Pardon, Sir,“ sagte er herantretend, „ich möchte mir Ihren Namen erbitten!“

„Max Reichardt, Sir!“ erwiderte Jener, während er langsam den Kopf hob und seine Augenbrauen sich wie in einem aufsteigenden Gedanken leicht zusammenzogen.

Very well, Sir! und sagen Sie mir wohl auch mit gleicher Liebenswürdigkeit, wo und in welcher Stellung Sie sich hier befinden?“

„Halloh, was ist denn das?“ klang plötzlich eine Stimme seitwärts, „der elegante Charles Frost zu Fuß bei diesem Schmutze?“ William Johnson war es, der soeben vom Pferde gesprungen war und sich jetzt näherte.

Der Angeredete wandte nur leicht den Kopf zurück. „Ah, Johnson!“ sagte er, „Sie entschuldigen mich, ich habe einige Worte mit dem Gentleman hier zu reden, und meine Schwester erwartet mich mit dem Wagen.“

Der junge Geschäftsherr hob den Kopf, und eine sichtliche Befremdung ging durch seine Züge, als der von ihm Begrüßte seinen Arm vertraulich unter den des Deutschen schob und diesen einige Schritte seitwärts führte.

„Sie verschwenden jedenfalls Ihre Freundlichkeit an mir, Mr. Frost,“ begann jetzt Reichardt stehen bleibend, während ein lebendiges Roth in sein Gesich, trat, „ich bin nichts als gewöhnlicher Porter in dem Geschäft von Johnson und Sohn, also augenblicklich keine Person, die Ihrer Aufmerksamkeit werth ist.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_402.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)