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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Unter den lebhaftesten Vorwürfen seiner zweiten Frau, denen er eine stoische Ruhe entgegensetzte, ging er zu Bett, betete sein Vaterunser, wie er es seit seinen Kinderjahren gewohnt war, und schlief ein.

II.

Am andern Morgen – die Weinstube von Lutter und Wegner war eben gereinigt und gelüftet – fand in derselben eine ernste Berathung zwischen den Besitzern derselben statt.

„Du magst sagen, was Du willst,“ sprach Lutter, „wir können es nicht länger so mit ansehen; wir müssen Devrient an seine Schuld mahnen.“

„Aber, Bester,“ lautete die Antwort, „habe doch Geduld. Ist denn nicht erst im October vorigen Jahres durch die Gnade des Königs Alles bezahlt worden?“

„Gott segne Se. Majestät dafür!“ sagte Lutter, „aber das geschieht nicht alle Tage.“

„Herzensfreund, machen wir denn nicht ein ganz gutes Geschäft, auch wenn Devrient gar nichts bezahlt?“ fragte Wegner seinen Compagnon. „Ist er’s nicht, der Abends unsre Weinstube füllt?“

„Man hört es Deinen Worten an, daß Du selbst ein arger Trinker bist, der sich den Kuckuk um das Gedeihen der Wirthschaft kümmert. Denk’ nur an Hamburg und an das schöne Geld, welches Du von dort mitbringen solltest, als Devrient Gastrolle auf Gastrolle vor stets überfülltem Hause gab! Was war das Ende vom Liede? Statt Geld zu erhalten, mußte ich, nachdem Ihr etliche tausend Mark losgeschlagen hattet, noch zweihundert Thaler nachschicken, um Euch auszulösen!“

„Ja, ja,“ lachte Wegner, „wir haben ein fideles Leben am Alsterbassin geführt, und die Hamburger haben noch lange von uns zu erzählen gewußt! Und doch sind wir nicht bankerott geworden! Wie viel beträgt denn gegenwärtig der Bettel?“

„Da haben wir’s! Vierzehnhundert Thaler nennt mein liebenswürdiger Socius einen Bettel!“

„Wahrhaftig, schon wieder 1400 Thaler? Bruderherz, das kann Devrient von seiner knappen Gage nicht zahlen!“

„Knappe Gage? erhält er nicht jährlich 2800 Thaler?“

„Ein Lumpengeld für solchen Mann! Ein Minister für 10,000 Thaler findet sich alle Tage; aber sie werden lange suchen müssen, ehe sie einen Ludwig Devrient wieder finden! Sei gescheidt, Lutter, und nimm meinen Vorschlag an: machen wir einen großen Strich durch Devrient’s Rechnung.“

„Ein köstlicher Vorschlag das!“ eiferte Lutter, „da möchte man ja gleich aus der Haut fahren.“

In dieser Weise wurde das Gespräch fortgeführt, bis endlich, wie sehr sich auch Lutter’s vertrocknete Geschäftsseele dagegen sträubte, nach langer Debatte festgesetzt wurde, von Devrient’s Rechnung die Hälfte der Summe, im Betrage von 700 Thalern, zu streichen.

Unmittelbar nachher schickte Lutter den Oberkellner zu Devrient, um ihm obigen Entschluß mitzutheilen, und ihn an die Zahlung der noch bleibenden 700 Thaler zu erinnern. Louis richtete seinen Auftrag in schonender Weise aus. Devrient hörte ihn schweigend an, schnitt, nachdem jener aufgehört hatte, ein höchst ergötzliches Gesicht und sagte endlich mit seinem unverwüstlichem Humor: „So? Dein Herr, der Pfennigfuchser, hat die außerordentliche Gnade gehabt, die Hälfte der Weinschuld zu streichen? Das ist Wegner’s Geschoß! Nun, ich nehm’s dankbar von Freundeshand an. Aber jetzt, Louis, gieb Acht und melde Deinem Herrn Lutter, daß, wenn er die eine Hälfte gestrichen hat, ich hiermit die andere streiche.“

Damit riß er die Rechnung mitten durch, stand auf, holte aus der Ofenröhre, denn diese vertrat Devrient’s Geldspinde, ein gutes Trinkgeld, drückte es dem ganz verdutzten Kellner in die Hand und sprach: „So, nun geh’, Louis, empfiehl mich Deinem Herrn. Ich werde gleich nachkommen.“

Wer Devrient wenige Minuten nachher in die Weinstube hätte eintreten sehen, würde in der gebrechlichen Gestalt, zu welcher er in der frühen Morgenstunde zusammengeschrumpft war, nimmermehr den lebenslustigen, liebenswürdigen Zechgenossen vom gestrigen Abend erkannt haben.

„Louis, einen Gift!“ rief Devrient.

Unter diesem Namen pflegte er einen überaus starken Liqueur zu fordern, um seine ermatteten Lebensgeister anzuregen. Mit zitternden Händen griff er nach dem Glase und stürzte dessen Inhalt mit einem Male hinunter: dann schüttelte er sich und rief:

„Louis, einen Lafitte!“

Mit jedem Glase, das er von diesem edlen Gewächs hinunterstürzte, streckte sich die wie zu einem Fiedelbogen zusammengezogene Gestalt des großen Histrionen, bis er bei der zweiten Flasche völlig aufthaute. Nun kam Leben in die frostige Gestalt; hoch aufgerichtet saß er da; aus seinen Augen leuchtete jugendliches Feuer, auf seinen Mienen lag unendliches Wohlbehagen, und er war wieder der alte liebenswürdige, von Witz und Heiterkeit sprudelnde, von Allen verehrte, von Niemand beneidete oder gehaßte Künstler.

Noch war Niemand außer ihm in der Weinstube, in welche die Morgensonne durch die Jalousien neugierig hineinlugte. Nach etwa einer Stunde trat ein zweiter Gast ein, dem man an seinem ganzen Habitus den heruntergekommenen Schauspieler ansah. An der übergroßen Höflichkeit, mit welcher er bei Louis nach Herrn Devrient fragte, erkannte des Kellners geübtes Auge einen Hülfesuchenden; er hatte nicht übel Lust, ihn abzuweisen, doch wagte er es nicht, da Devrient schon aufmerksam geworden war.

„Dieser Herr wünscht Sie zu sprechen!“ Mit diesen Worten führte Louis den Fremden zu Devrient.

Ohne nach dem Namen des Angekommenen zu fragen, bat Devrient den Fremden, Platz zu nehmen, und bald saßen Beide in tiefem Gespräche beisammen. Der Fremde zeigte sich als wohlunterrichtet. Der dritten Flasche folgte die vierte, aber während jener, ein ächter Dionysosjünger, in langen Zügen schlürfte, nippte dieser nur von dem Rothwein; es saß ihm etwas auf dem Herzen, was nicht recht herunter wollte. Endlich faßte er Muth und sagte:

„Herr Devrient, ich habe gehört, daß Sie vielfach von unseren Kunstgenossen in Anspruch genommen werden; verzeihen Sie deshalb, wenn schon wieder ein Unglücklicher es wagt, Sie um eine Unterstützung zu bitten.“

„Herr College,“ antwortete Devrient, „kommen Sie endlich mit der Sprache heraus! Ich mag das lange Drucksen nicht leiden! Was ist’s mit Ihnen?“

„Ach, es ist eine klägliche Geschichte,“ lautete die Antwort. „Vor vierzehn Tagen habe ich ein ganz gutes Engagement in Posen erhalten.“

„Nun, und das nennen Sie kläglich?“

„Ich habe mich wohl in meiner Befangenheit undeutlich ausgedrückt. Ich wollte sagen, daß ich in einer gar traurigen Lage bin, weil ich nicht nach Posen kommen kann.“

„Was hindert Sie an der Reise?“

„Meine Geldmittel sind mir ausgegangen. Als ich vor mehr denn acht Tagen hier ankam, wurde mir das eine meiner Kinder so schwer krank, daß ich im Gasthofe liegen bleiben mußte. Arzt, Apotheke und Hotelrechnung haben jetzt meine letzte Baarschaft aufgezehrt; seit gestern habe ich und meine Familie nichts genossen.“

„Louis, ein Beefsteak für den Herrn!“ rief Devrient. „Soweit,“ setzte er hinzu, „reicht mein Credit schon noch, um Sie satt zu machen; aber damit ist’s auch zu Ende, Herr College!“

„O sagen Sie das nicht, bester Herr! denn auf Sie habe ich meine letzte Hoffnung gesetzt. Ich beschwöre Sie im Namen der Kunst, der Sie huldigen, im Namen alles Heiligen, für das Ihr edles Herz schlägt, mir zu helfen!“

„Herr College! Wenn ich in der That Ihre letzte Hoffnung bin, so sieht es schlimm mit Ihnen aus. Meine Gage reicht selten über die erste Hälfte des Monats hinaus, und heute ist, wie Sie wissen werden, bereits der 24. April.“

„Sie haben Credit, Herr Devrient! Der größte Schauspieler Deutschlands wird doch in seiner Vaterstadt 20 oder 30 Thaler auftreiben können, um eine unglückliche Familie zu retten!“

(Schluß folgt.)



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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_427.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)