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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

nennenswerthen Capital unterstützt, einzig und allein im Vertrauen auf seinen guten Muth, auf sein gutes Ziel und auf das Bedürfniß eines solchen Organs, zu einer Zeit, wo ein sehr wenig vorgebildeter Theil des Volkes in seiner Eigenschaft als Urwähler einer bessern Leitung bedurfte, als die der Demagogie war.

Der Erfolg krönte das Unternehmen mit beispielloser Schnelligkeit. Schon nach den ersten vierzehn Tagen war die Zahl der Abonnenten auf drittehalbtausend gestiegen, obgleich die Leitartikel durchaus mäßig gehalten waren und radicalen Demokraten für viel zu milde galten. Erst als Ende Mai das Urwählerrecht geschmälert, das allgemeine Wahlgesetz durch eine Octroyirung in das Dreiclassensystem umgewandelt wurde, begann die Urwähler-Zeitung einen energischen Kampf gegen die Regierung und die sogenannte constitutionelle Partei, welche die Regierung in ihrem Kampfe gegen Recht und Gesetz unterstützte. In diesem Kampfe, den Bernstein nicht blos mit einer bis dahin ganz ungekannten populären Sprache der Politik, sondern auch unterstützt von dem sittlichen Zorne gegen die Verderblichkeit jeder Verletzung des Rechtszustandes führte, wuchs die Theilnahme für die Zeitung so sehr, daß sie bereits im Herbste des Jahres 1849 an 10,000 Abonnenten hatte und somit die ganze Wuth der Reaction gegen sich wachrief.

Da jetzt noch nicht die Zeit gekommen war, die Presse gewaltsam zu unterdrücken, begann die Regierung die Urwähler-Zeitung durch Processe zu verfolgen. Die ersten Versuche scheiterten an dem Rechtssinn der Geschwornen, die Bernstein, als er auf der Anklagebank erschien, freisprachen. Erst als die Polizei, gegen die bestehende Ordnung, mitten im Monat zwölf neue Geschworne direct für einen Proceß gegen die Urwähler-Zeitung wählte, erfolgte eine Verurtheilung, so daß Bernstein eine viermonatliche Gefängnißhaft zu überstehen hatte.

In der richtigen Voraussetzung, daß mit seiner Verhaftung der Lebensfaden der Zeitung abgeschnitten werde, überließ sich die Polizei nun einer Maßregelungswuth, die in Preußen ohne Beispiel war. Sie confiscirte Tag für Tag die Zeitung für mehrere Wochen, selbst wenn sie ohne Leitartikel erschien, und begünstigte eine andere, der Urwähler-Zeitung nachgeahmte, die sie den Lesern derselben aufzuzwingen hoffte. Die Leser jedoch ließen sich weder durch die Maßregelungen abschrecken, noch durch die Manöver irre leiten. Sie blieben der Urwähler-Zeitung treu, obgleich diese oft gar nicht, oft verstümmelt erschien, bis denn der Polizei nichts mehr übrig blieb, als bei Gelegenheit eines von Polizeiagenten provocirten sogenannten Complotes, das mit ungeheurem Eclat „entdeckt“ wurde, die Urwähler-Zeitung gewaltsam zu unterdrücken.

Hierauf übernahm der Buchhändler Franz Duncker den Verlag der „Volkszeitung“, die sich offen als eine Nachfolgerin der unterdrückten Urwähler-Zeitung zu erkennen gab. Die Leser erkannten den Geist derselben sofort aus den Leitartikeln, und schon die erste Woche ihres Erscheinens reichte hin, ihr 5000 Abonnenten zu verschaffen. Allein damals – im April 1853 – war die Fluth der Reaction im vollsten Aufsteigen, und Bernstein erkannte, daß es nothwendig sei, der Volkszeitung noch in anderer Weise als durch die politischen Artikel eine gesicherte Grundlage zu schaffen, für die Zeit, wo sie vielleicht einmal gezwungen sein könnte, die Politik ganz ruhen zu lassen.

Aus Bernstein’s Feder erschien in Folge dessen durch volle drei Jahre neben den täglichen Leitartikeln noch täglich ein naturwissenschaftlicher Artikel, und diese Arbeiten fanden so außerordentlichen Beifall bei Laien und Fachkennern, daß die Volkszeitung dadurch ein beliebtes Blatt selbst in solchen Kreisen wurde, wo man ihre politische Richtung nicht theilte und bekämpfte. Diese naturwissenschaftlichen Arbeiten Bernstein’s – jetzt auch gesammelt erschienen – halten sich ebenso fern von Speculation, wie von irgend einer gemachten Tendenz und verfolgen nur den Zweck, durch die einfache Darlegung des Gesetzmäßigen in der Natur den Geist des Volkes für die Erkenntniß solch hoher Gesetzlichkeit zu wecken, eine Grundlage der Bildung zu schaffen, die für jeden Beruf, sei er welcher er wolle, fördernd und erhebend wirkt, Gedankenlosigkeit und Aberglauben zerstört und die Einsicht erzeugt, daß nur durch organisches Wachsen, durch ungehemmte Entfaltung innerer Lebenstriebe gesunde Gestaltungen entstehen. Gewiß ist die so liebevolle und gründliche Beschäftigung mit den Naturwissenschaften von großem Einflusse auf Bernstein’s ganz eigenthümliche Art gewesen, auch die Erscheinungen der Gesellschaft und des Staates von dem Punkte ihres ersten Werdens aus zu erfassen, im Gesetzmäßigen und Nothwendigen das Gute und Dauernde zu erkennen, sich von jedem Uebereilen fern zu halten und doch nie die Kraft und Energie in der Forderung dessen zu verlieren, was das naturgemäße Wachsen des Volksgeistes verlangt.

Die Leichtigkeit, mit welcher die naturwissenschaftlichen Arbeiten die verwickeltsten und schwierigsten Probleme ohne irgend welche Abbildung dem Verständniß einfacher Leser zugänglich machen, hat ihnen auch den Beifall des Auslandes gewonnen. Es erschienen Uebersetzungen davon in dänischer, schwedischer, polnischer und holländischer Sprache. Von der holländischen Uebersetzung sind bereits fünf Auflagen veranstaltet, von welchen die vierte Auflage in 16,000 Exemplaren so schnell vergriffen wurde, daß eine Concurrenz-Uebersetzung erscheint. – Die deutsche Originalarbeit wurde nicht blos in der Hamburger Reform nachgedruckt, sondern auch die deutsche Zeitung in New-York brachte dieselbe regelmäßig, und gegenwärtig erscheinen daselbst die sämmtlichen Bände im Nachdruck. Und dennoch hat selbst diese zwiefache Thätigkeit weder der Productivität noch der geistigen Beschäftigung Bernstein’s eine Grenze gesetzt. Im Jahre 1856 ertheilte ihm die preußische Regierung ein Patent für die Erfindung eines telegraphischen Problems, welches bisher noch kein Anderer zu lösen vermochte. Bernstein stellte im königlichen Telegraphenamt zu Berlin einen Apparat auf, der zwei Depeschen sowohl in gleicher, wie in entgegengesetzter Richtung auf einer Leitung telegraphiren kann, und die Bedeutung der Erfindung überwand die Schwierigkeiten, welche sich sonst wohl dem demokratischen Schriftsteller bei den Behörden entgegengestellt hätten; die Telegraphendirection stellte ihm zur Lösung dieser wie anderer telegraphischer Probleme die Leitungen zu Gebote. Die nähere Darstellung derselben würde uns zu weit abführen, wir wollen nur bemerken, daß die königliche Regierung die Lösung der Probleme, aber zugleich auch die Nothwendigkeit umfassender Verbesserungen im ganzen Telegraphenwesen anerkannte, um sie praktisch durchzuführen. Wenn einmal die Telegraphie, wie das nothwendig erfolgen muß, in die Hände von Privatgesellschaften übergegangen ist, dann werden auch diese Erfindungen ihre volle Wichtigkeit bewähren.

Inmitten all dieser Arbeiten trat aber in Bernstein der Drang nach freier poetischer Gestaltung, der in seiner Jugend so lebendig gewesen war, wieder hervor, und er schrieb für zwei folgende Jahrgänge des jüdischen Kalenders zwei Novellen, welche später in einer besonderen Ausgabe erschienen. „Vöggele der Maggid“ und „Mendel Gibbor“ sind Erzählungen aus dem jüdischen Gemeindeleben einer kleinen Stadt im Großherzogthum Posen und stellen so höchst eigenartige, unserm ganzen Culturleben anscheinend fernliegende Zustände dar, daß wir uns staunend fragend, ob wir denn mit diesen Menschen in demselben Staate und zu derselben Zeit leben. So ist das Stoffliche von ganz besonderm Interesse, wird aber weit überboten durch den sprudelnden, frischen Humor in der Darstellung der Verhältnisse, durch Zartheit und Tiefe in der Schilderung von Seelenzuständen und durch die echteste poetische Kraft, Gestalten so lebensvoll vor uns hinzuzaubern, daß uns ist, als hörten wir ihren Herzschlag und hätten Theil an ihrem innersten Sein. In diesen beiden Novellen sind Frauengestalten von solch seelischer Anmuth und unvergeßlich ergreifender Herztiefe, daß wir sie den idealsten Schöpfungen auf diesem Gebiete unserer Literatur an die Seite stellen können. Und wohl glauben wir, daß Eine von ihnen, wie uns die Freunde Bernstein’s versichern, das verklärte Bild der Frau ist, die sein höchstes Glück gewesen und deren Verlust über sein ganzes Leben den Schleier einer oft so tiefen Wehmuth breitet, denn das Bild ist von einem so lichten Glanze umgossen, wie ihn nur die Liebe giebt. Der Genuß dieser Erzählungen wird manchen Lesern durch die häufige Anwendung des jüdischen Idioms erschwert, obgleich ebenso Viele es wie etwas durchaus Aeußerliches kaum empfinden und sich mit ungetrübter Freude dem umfangenden Zauber dieser Darstellungen hingeben.

Indem wir noch hinzufügen, daß im Fache der Photographie und hauptsächlich der Stereoskopie auf Glas Bernstein’s Arbeiten mit den Leistungen der Pariser Meister wetteifern, brauchen wir unsern Lesern nicht mehr zu versichern, daß eine so vielseitige Thätigkeit nur durch ein strengem Fleiße gewidmetes Leben möglich ist. Diese unausgesetzte Arbeit nach so vielen Richtungen des geistigen Lebens, vereint mit einer großen Zurückhaltung und Bescheidenheit, bewirken es, daß Bernstein nur in einem verhältnißmäßig

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_455.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)