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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

weniger die Todesfurcht, welche Viele bei dem Gedanken an testamentarische Verfügungen beschleicht und sie davon abhält; es schien vielmehr ein anderes Gefühl die Triebfeder zu sein: das war die Sorge, es könnten sich etwa in die Liebe und Anhänglichkeit seiner Tochter, die sie ihm frei und uneigennützig entgegentrug, eigennützige Motive mischen und so seine reine Freude an ihr trüben, denn er fürchtete, eine Testamentserrichtung bleibe nicht verschwiegen; er hatte auch bisher seiner Clara sorgfältigst verheimlicht, daß er außer seiner Pension noch ansehnliche Zinsen einnahm. So mußte ich denn die Sache gehen lassen und zunehmender Altersschwäche oder eintretendem Siechthum anheimgeben, eine Sinnesänderung meines Nachbars herbeizuführen.

Inzwischen war Clara zur stattlichen Jungfrau erblüht, und es konnte nicht fehlen, daß manche junge Männer sich zu ihr hingezogen fühlten und ihr auf Bällen oder sonst Aufmerksamkeiten erwiesen. So oft solches geschah, war unschwer zu bemerken, daß düstre Wolken meines Nachbars Stirn umzogen, und, wie wir denn in offenem und vertrautem Verkehre mit einander standen, so unterließ ich nicht, ihm meine Verwunderung hierüber zu erkennen zu geben. Er räumte ein, daß diese Mißstimmung eine Schwäche von ihm sei, und entschuldigte sich damit, daß es ihm zu schwer auf’s Herz falle, wenn er denke, Clara werde ihn verlassen und in eines andern Mannes, ihres künftigen Gatten, Haus folgen; er werde sich aber nöthigenfalls darein fügen und sei weit entfernt, seiner Clara irgend welchen Zwang anzuthun. Diese war indeß zu feinfühlend, als daß ihr der Seelenzustand ihres Pflegevaters bei solchen Gelegenheiten hätte entgehen können, und sie nahm daher, um ihn nicht zu kränken, alle Huldigungen mit Gleichgültigkeit, ja mit Kälte auf. Dies wurde ihr so lange auch nicht schwer, als ihr Herz frei blieb.

Da tauchte am geselligen Horizonte unserer Stadt ein junger Mann, Namens Adolf, auf, der Sohn eines Fabrikherrn, von angenehmem Aeußern, der seit seinem Austritte aus der Schule in der Ferne gelebt, viele Länder bereist hatte und durch dies Alles, sowie durch das seiner Erscheinung anhängende Fremdartige die junge Mädchenwelt mehr oder weniger bezauberte. Obwohl fast gegen Jede freundlich und artig, gab er doch Keiner einen Vorzug, so sehr man ihm auch entgegen kam. Was mich hierbei interessirte, war die nicht zu verkennende Thatsache, daß Clara nicht gleichgültig gegen ihn war.

Gerade in dieser Zeit hatte mein Nachbar unerwartet um meinen Rath darüber gefragt, wie man auf möglichst verborgene Weise sein Testament machen und wie es namentlich seiner Clara verheimlicht werden könne; denn er werde doch immer älter, und er wünsche Clara’n sein Vermögen nach seinem Tode zuzuwenden, da er nur ganz entfernte, dazu noch sehr reiche Verwandte habe. Ich zeigte ihm hierzu den schicklichsten Weg, da er aber, während ich doch in allen Rechtsgeschäften sein Beistand war, wieder eine ziemliche Zeit verfließen ließ, ohne auf die Testamentserrichtung zurückzukommen, so lenkte ich das Gespräch darauf. Er erwiderte: „Sie haben doch wohl bemerkt, wie der junge Adolf meiner Clara in die Augen gestochen hat? Ich habe auch nichts gegen ihn einzuwenden, aber wie gleichgültig ist er gegen sie! Er wird gewiß erfahren, daß ich jetzt mein Testament gemacht habe, und denken, daß ich ihn damit ködern will, meine Clara zu heirathen; denn er ist Kaufmann und speculativ; so würde ich meinen unschätzbaren Schatz verhandeln, wie eine Waare.“ Von dieser Idee war er auch nicht abzubringen. Inzwischen hatten sich Adolf und Clara zwar auf verborgene, mir jedoch bekannt gewordene Weise genähert. Es war zwischen ihnen zu Erklärungen gekommen; Clara konnte sich jedoch, theils aus Zärtlichkeit für ihren Pflegevater, theils weil dieser ja dem Gespräche über Adolf geflissentlich auswich, nicht entschließen, sich ihrem Pflegevater zu entdecken, und verschob dadurch die Entscheidung von einer Zeit zur andern, während Adolf, bei dem abgemessenen Wesen, das mein Nachbar gerade gegen ihn beobachtete, ohne vorgängige Sondirung Seiten Clara’s in Bezug auf ihres Pflegevaters Gesinnungen sich nicht vorwärts wagte.

So verging zwischen Schwanken und Hoffen wohl ein halbes Jahr, als plötzlich Adolf abbrach und, weniger seiner Neigung folgend, als dem Drängen seines Vaters nachgebend, sich mir einem reichen Mädchen verlobte. Adolf’s Vater hatte gewünscht, daß sein Geschäft einst auf seinen Sohn übergehen möchte; da er aber noch mehrere jüngere Kinder hatte, so war dies nicht wohl möglich, wenn Adolf nicht eine reiche Partie machte. Gegen Clara’s Person hatte er nicht das Geringste einzuwenden, auch auf sofortige Mitgift wollte er verzichten, nur das sollte sicher sein, daß sie ihren Pflegevater einst beerbe; diese Garantie sei aber nicht da.

Bei Clara’s sanftem Wesen äußerte diese Wendung ihres Schicksals sich zwar nicht in leidenschaftlicher Weise; aber ein innerer Gram zehrte sichtlich an ihr, und sie zog sich von aller Welt zurück. Auch ihr Pflegevater war selten sichtbar. Was damals zwischen ihnen Beiden vorgegangen sein mochte, habe ich nie erfahren können. Plötzlich eines Morgens kam athemlos und in voller Hast meines Nachbars alter Diener mit der Botschaft zu mir, sein Herr sei plötzlich bewußtlos umgefallen, zwar wieder zu sich gekommen, aber ganz schwach; er verlange nach mir. Ich eilte hinüber und fand ihn mit verstellten Zügen im Bette liegend; mit der einen Hand hatte er krampfhaft die seiner Pflegetochter gefaßt, welche schluchzend an seinem Bette stand, die andere drückte er gegen die Brust, als wolle er einen tiefen Schmerz niederkämpfen. Die Sprache war fast verschwunden. Doch lispelte er mir zu: „Testament machen, Testament machen, Alles meiner Clara.“ Ich sendete sofort nach dem Gerichte, während ich in kürzester Form diese seine Willensmeinung zu Papier brachte. Ich las ihm dieses vor und fragte nochmals, ob das so sein letzter Wille sei, den er auch nachher vor der Deputation des Gerichts anerkennen wolle. Er antwortete hastig: „Ja, ja, ja,“ darauf ließ ich ihn das Papier unterschreiben; es gelang, zwar in ungewöhnlich großen, zitterigen Zügen, aber doch deutlich war sein Name zu lesen. Es fehlte nur noch, daß das Testament dem Gerichte übergeben werde. Ich stand in der gespanntesten Erwartung am Fenster und schaute auf die fast noch menschenleere Straße, um nach den Gerichtspersonen zu sehen; jede Minute, die verging, erschien mir wie eine Stunde; der Kranke stöhnte ängstlich und preßte wiederholt zwischen seinen bleichen Lippen die Frage hervor: „kommt denn Niemand?“ und drückte die Hand seiner Tochter an Mund und Herz. Ich sah, daß wir einen Sterbenden vor uns hatten, auch der inzwischen erschienene Arzt bestätigte dies, aber keine Gerichtsperson erschien. Endlich, endlich unten am Ende der Straße erscheint der Richter mit einem Actuar; sie gehen rasch, aber rascher noch breitet der Tod seine Schatten über das Gesicht des Sterbenden; doch sein Auge drückt noch Bewußtsein aus; mich bald ängstlich fragend, bald seine Tochter anblickend. Wenn er nur noch so lange lebte, daß er die Frage des Richters, ob dies sein letzter Wille sei, was er vor sich liegen hatte, zu beantworten vermochte! so dachte ich um der armen Clara willen in meinem Inneren. Ja, es ist Hoffnung dazu! Die Gerichtspersonen erscheinen am Hause, sie treten ein, man hört sie deutlich die Treppe herauf eilen; die Thüre öffnet sich, der Kranke hört’s, er will sein Haupt erheben, da zuckt es noch einmal über sein Antlitz, er stirbt, ehe das Gericht in’s Zimmer tritt. Das Testament war nicht gemacht!

Clara war wieder eine arme Waise; verwaist von dem, dem sie ihr Lebensglück geopfert hatte. In tiefstem Schmerze noch verloren saß sie, als ihr Pflegevater kaum begraben war, in ihrem einsamen Zimmer, da erschien der unbekannte, theilnahmlose Vetter des Verstorbenen, welcher mit kaum verhehlter Freude das ziemlich bedeutende Vermögen in Empfang nahm. Ich suchte ihn unter Eröffnung alles dessen, was vorgefallen war, zu bewegen, der armen Clara wenigstens so viel auszusetzen, daß sie nothdürftig leben könne. Er bot ihr darauf ein Geschenk von hundert Thalern an, womit er nach seiner Meinung etwas Besonderes zu thun glaubte. Sie lehnte dies aber in gerechtem Stolze ab, verließ Stadt und Haus und ward Diakonissin.

Es existirt ein alter Aberglaube, daß der Tod nahe vor der Thüre stehe, sobald man sein Testament mache. Wie viel Beeinträchtigungen, Streit und Unglück diese von Vielen geglaubte Albernheit schon zur Folge gehabt, davon wissen am besten die Gerichte und Sachwalter zu erzählen. Wenn nun mein Nachbar auch nicht zu diesen Abergläubischen gehörte, so lag doch der tiefeingewurzelte Widerwille gegen das „Testamentmachen“ auch bei ihm vor und vernichtete schließlich seinen Lieblingswunsch, die treue Pflegerin seines Alters vor Sorge und Noth zu schützen. Tausend ähnliche Fälle lassen sich noch anführen, und nicht dringend genug kann es jedem Besitzenden an das Herz gelegt werden, in Zeiten der Gesundheit und des Wohlbefindens über die Verwendung seines Eigenthums zu bestimmen, d. h. sein Testament zu machen.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_459.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)