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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

fürchten, – John aber brach mit einem: „Doch die Hauptsache, weshalb ich kam!“ ab und zog die Stirn in Geschäftsfalten. „Mr. Bell wird für zwei oder drei Tage abwesend sein,“ fuhr er fort, „ob er krank ist, ob er Hochzeit mit seiner Wirthin machen will, oder was sonst los ist, weiß ich nicht. Vater hat seine Zustimmung gegeben, und es fragt sich jetzt nur, ob Sie glauben, während der Zeit allein fertig werden zu können.“

Reichardt sah überrascht auf, und seine Backen singen an, sich wieder leicht zu röthen. „Ich denke, in voller Kenntniß über das Nothwendige zu sein,“ erwiderte er, „wenn mir so viel Vertrauen geschenkt werden soll –“

„Und so weiter!“ unterbrach ihn John; „um das Vertrauen handelt es sich jetzt nicht, das haben Sie, ohne Umstände gesprochen, vom ersten Tage an in noch größerem Maße besessen, als ich selbst vielleicht, wenn ich auch heute noch nicht weiß, wo der Haken steckt. Die Frage drehte sich um die Fähigkeit und die Arbeit. Sie erklären sich der Stellvertretung für gewachsen, also übergebe ich Ihnen in aller Feierlichkeit die Cassenschlüssel. Vater empfiehlt Ihnen nur noch an, Bell’s Bücher unberührt zu lassen und nichts als ein Memorandum bis zu dessen Rückkehr zu führen, und so ist mein Geschäft abgethan, Sir!“

Reichardt hatte mit einem Gefühle, das sein ganzes Innere hob und allen Schmerz der letzten Nacht in den Hintergrund drängte, die beiden Schlüssel ergriffen und verließ sein Pult. „Ich hoffe, das in mich gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, Sir,“ sagte er, „und ich bitte Sie nur um die Freundlichkeit, hier zu bleiben, bis ich den Cassenbestand mit dem letzten Tagesabschluß verglichen habe.“

Nach einer Stunde saß Reichardt wieder allein und blickte wie in tiefen Gedanken über seine Bücher weg. „Ich werde sein Vertrauen rechtfertigen, weiß ich auch nicht, woher es kommt,“ sagte er leise vor sich hin, „ich werde es rechtfertigen, selbst da, wo es am bittersten und schwersten ist. Das ist der gute Geist, der die bösen von mir halten soll!“


Drei Wochen nach dem soeben Erzählten waren vergangen, Wochen, von denen Reichardt meinte, daß sie ihn fünf Jahre älter gemacht, und doch hatten sie kaum etwas von besonderer Bedeutung gebracht. Bell hatte nach seiner Rückkunft mit deutlich ausgedrücktem Befremden Reichardt’s bisherige selbstständige Verwaltung seines Amtes bemerkt, hatte eine lange Prüfung des von diesem geführten Memorandums vorgenommen und dem alten Frost, als dieser beim Durchgehen des Zimmers lächelnd gefragt, ob Alles in Ordnung sei, kopfschüttelnd erwidert, er sehe bis jetzt noch nichts Unrechtes, indessen lasse sich das nicht im Augenblicke beurtheilen, und er liebe es nicht, Unverantwortliche mit Geschäften voller Verantwortlichkeit zu betrauen, worauf Jener mit einem leichten Kopfnicken bemerkt, daß alles Geschehene unter seiner eigenen Verantwortlichkeit erfolgt sei, was wohl genügen werde. Dem Cassirer schien es indessen nicht zu genügen, wenigstens sah Reichardt sein Memorandum, ohne in die Bücher übertragen zu werden, zur Seite gelegt, aber bei jedem darauf Bezug habenden Falle wie im regen Mißtrauen von Neuem geprüft, sah Bell’s eigenthümliche Schroffheit und Kälte gegen sich nur im Zunehmen, und ein Gefühl von Bitterkeit hatte sich in dem jungen Manne festzusetzen begonnen, das ihm alle frische Arbeitslust zu nehmen drohte.

Reichardt war am Ende der Woche nach langem, unangenehmem Rathpflegen mit sich selbst eben zu dem Entschlusse gelangt, sich um keine Miene des Cassirers mehr zu kümmern, und wenn auch ohne Freude, so doch ohne steten Aerger seiner Pflicht nachzuleben, als sich ihm John beim Verlassen der Office anschloß. „Meine Schwester möchte Sie sehen, Reichardt,“ sagte er, „sie hat Sie schon im Verlauf der Woche einmal erwartet, ich habe Sie aber entschuldigt und ihr eine so herzzerreißende Schilderung von Ihrem leidenden Aussehen gemacht, daß sie seitdem Ihrer mit keinem Worte mehr erwähnt hat – kommen Sie aber doch einmal Abends!“

Reichardt hatte nur zwei kurze Blicke in das Gesicht des Sprechenden geworfen; als er sich aber jetzt von diesem trennte, mußte er sich die eigenthümliche Miene wieder vor das Auge stellen, mit welcher Jener zu ihm getreten war. Ahnte er etwas von dem, was in Reichardt’s Innern vorging, und ließ im Stillen seinen Humor spielen? Es war ein unangenehmer Abend, welchen der Deutsche verbrachte. Er konnte Margaret’s Bild, von allem Reize umkleidet, wie er sie sich im Hause waltend dachte, nicht aus der Seele bringen. Daneben aber stand John, wie der lebendige Mephisto, ihr Reichardt’s „leidendes Aussehen“ schildernd und sich über den Aerger des Mädchens oder auch wohl ihre wegwerfenden Worte belustigend. Und doch stieg auch dazwischen wieder das große, seltsam forschende Auge, mit welchem sie ihn betrachtet, vor ihm auf, daß er sich hätte hinein versenken und alles Uebrige vergessen mögen.

Die zweite Woche hatte ihren Anfang gleich der vergangenen genommen, nur daß Reichardt sich bestrebte, die möglichste Gleichgültigkeit dem Wesen des Cassirers entgegenzusetzen und diesen nur in Fällen, wo es sich nicht umgehen ließ, als überhaupt anwesend zu betrachten, und er fühlte schon nach den ersten zwei Wochen, daß sein Verfahren nicht ohne Wirkung blieb. Bell schien bei der angenommenen zwanglosen Weise, mit welcher der junge Mann sich von seinem Platze erhob und das Zimmer durchschritt, die Papiere auf des Cassirers Pult niederlegte oder wortlos beim Schluß der Arbeitszeit die Office verließ, sich unbehaglich zu fühlen. Er griff oft rasch Reichardt’s vollendete Arbeit auf und richtete, als wolle er nur eben etwas sagen, verschiedene Fragen darüber an den Deutschen, die von diesem nur leicht und kurz beantwortet wurden. Es kam schließlich zu Erklärungen und scharfen Worten, die zwar die Schranken der Höflichkeit nicht überschritten, das gegenseitige Verhältniß aber in scharfe Grenzen zogen.

Von diesem Augenblicke an schien sich Keiner der Beiden mehr um den Andern zu bekümmern. Reichardt’s bereits gesammelte Erfahrung ermöglichte es ihm, seine Arbeit ohne ein Wort der Frage zu verrichten, und Bell schien von des Andern Thätigkeit nur Notiz zu nehmen, wenn dessen Arbeiten auf seinem Pulte lagen.

An demselben Tage aber schien John den Deutschen erwartet zu haben, als dieser die Office verließ. „Well, Sir,“ sagte er leicht, „Sie sind der Einladung meiner Schwester nicht gefolgt – geht mich auch nichts an, und Sie mögen das mit ihr abmachen. Vater äußerte aber gestern Abend, daß er Sie gern einmal wieder spielen hörte, und wunderte sich über Ihr Ausbleiben.“

„Ich werde kommen, Sir, wenn es gewünscht wird,“ erwiderte Reichardt, „sagen Sie mir nur den Abend.“

Der junge Frost blieb, wie von dem Tone des Sprechenden betroffen, plötzlich stehen und sah diesem in’s Gesicht. „Jetzt, Reichardt,“ sagte er, des Andern Arm fassend, „kommen Sie mir einmal nicht weg, bis ich weiß, was mit Ihnen los ist. Hat Sie etwas in unserm Hause gebissen, daß Sie dort krank wurden und nicht wieder hin mögen?“

„Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß ich nur die Angabe der Zeit erwarte?“ erwiderte Reichardt, während das Blut leicht in sein Gesicht stieg.

„Zeit! man kommt zu irgend einer Zeit, wo man gern hingeht, Sir!“ gab John mit einem halben Kopfschütteln zurück. „Ich will Ihnen nichts entlocken, was Sie für sich behalten wollen, aber Sie sind mir seit dem Danksagungstage eine ganz fremde Persönlichkeit geworden.“

„Lassen Sie nur, Sir, und bestimmen Sie mir einen Tag!“

„Gut, so kommen Sie heute und Sie treffen uns sämmtlich zu Hause.“

Reichardt schlug einige Stunden später, fast ohne Erregung, den Weg nach Frost’s Hause ein. Er war sich jetzt seiner Gefühle völlig bewußt, aber sie lagen bewältigt tief im Allerheiligen seines Herzens, und wenn er auch wußte, daß er einem fortgesetzten leichten Verkehr in Margaret’s Gesellschaft nicht gewachsen war, so glaubte er doch für die Dauer eines Abends eine volle Herrschaft über sich bewahren zu können.

Er traf nur den alten Frost in dem Zimmer, in welches er gewiesen ward. Dieser aber hieß ihn mit sichtlicher Befriedigung sich niederlassen, sprach erst über allgemeines New-Yorker Leben und äußerte sein Befremden, als er von Reichardt’s Zurückgezogenheit hörte. Als aber John geräuschvoll mit der Nachricht von dem bevorstehenden Fallissement eines Handelshauses eintrat, spann sich das Gespräch auf das geschäftliche Feld hinüber, und ehe Reichardt, der sich bei dem zwanglosen Tone fast heimisch zu fühlen begann, nur wußte, wie er dazu gekommen, sah er sich schon mitten in einer warmen Erörterung über europäische und amerikanische Geschäftsehre, kritisirte er New-Yorker Speculation im Vergleiche mit deutscher Solidität, und mit einem leisen Lächeln folgte der alte Geschäftsherr seinen Darlegungen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_495.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)