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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Rechts und links dufteten uns Blumen- und Obstgärten an, besonders Pfirsichbäume schwer fruchtbeladen. Also mitten in der großen Salzseestadt, dem neuen Jerusalem, modernen Zion oder „Deseret“, was „Land der fleißigen Biene“ bedeuten soll. Es liegt am Fuße der Wahsatsch-Gebirge in einer Ebene und am Flusse Jordan. Der obere Stadttheil steigt allmählich an einem Gebirgsabhange amphitheatralisch empor, so daß das Auge mit einem Male den ganzen Umfang übersehen kann. Die Straßen laufen in geraden Linien nach den Ufern des Jordan herunter und sind rechtwinkelig von Querstraßen durchschnitten. Eine starke Lehmmauer zum Schutze gegen Indianer umgiebt die ganze Stadt. Die Einwohner hielten uns für die Post-Karawane, die jeden Monat einmal aus den Vereinigten Staaten ankommt, sodaß wir nicht weiter auffielen. Wir fragten uns sofort nach dem Rathhause, wo wir uns von Gouverneur, Papst und Dictator Brigham Young Quartier ausbitten wollten. Statt „Seiner Excellenz und Hoheit, Heiligkeit und Majestät“ trafen wir nur Beamte und Schreiber, die uns an den Oberrichter des ganzen Utah-Landes und Besitzer des Union-Hotels, Mr. Kinney, wiesen. Ein untersetzter, fetter, achtbar gekleideter und aussehender Herr, gemüthlich vor seinem Hotel sitzend und rauchend, das war Mr. Kinney, Oberrichter von Utah im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Er zeigte sich höflich und herzlich und räumte uns nicht nur seine besten Gast-, sondern auch seine Privatzimmer ein. Erst wurden wir mit Porter und Cognac, dann mit Thee und Zubehör tractirt. Ein großes, schönes Haus, ein Feen-Palast nach zweimonatlicher Wüste! Ein niedliches junges Gebirgs-Schaf, mehr ein Reh, als ein Repräsentant der Dummheit, spielte um uns in der Stube herum und neckte sich mit uns und einem großen straußähnlichen Vogel, dessen langer Schnabel jedoch alle Verwandtschaft mit dem afrikanischen Original widerlegte.

Diese seltsamen, niedlichen, vollkommen zahmen Hausthiere in der Stube, diese Cultur, Stille und Behäbigkeit um uns erfüllten uns mit ungemeiner Freude und Erquickung. Abends hatten wir das Schauspiel eines Einzugs von England angekommener Mormonen, die mit großer Feierlichkeit und dem Orchester der Kirche empfangen und für die Nacht auf einem öffentlichen Platze zum Bivouakiren reichlich versorgt wurden. Diese Lagerscenen mitten in der Stadt, die gebräunten Gesichter, Maulesel, Ochsen und zahmen Indianer, welche ab und zu wanderten, brachten einen ungemein malerischen Eindruck hervor.

Am folgenden Tage durchwanderten und studirten wir die Stadt. Jede Straße ist 130 Fuß breit und geradlinig und ist auf beiden Seiten von einem kleinen Bergstrome klaren Wassers durchzogen, da man auf geniale Weise ein Gebirgsgewässer so zertheilt und gerichtet hat, daß es in so vielen Armen durch jede Straße doppelt herabfließt. Jedes dieser Flußärmchen ist mit doppelten Reihen baumartiger Weiden („Baumwollenholzbaum“) geziert. Da sich die Straßen rechtwinklig durchschneiden, bilden sie viereckige „Blöcke“ von Häusern von je 6–700 Fuß Länge auf jeder Seite. Jedes Haus steht wenigstens 20 Fuß hinter der Straßenlinie und ist von Obst- und Blumengärten umgeben, so daß die neueste und vollkommenste Stadt zugleich alle Annehmlichkeiten des offenen Landes und Dorfes einschließt (ein sociales Problem, das wir mit unserer alten Cultur noch nicht gelöst haben, so daß wir es erst aus der Mormonen-Hauptstadt lernen müssen). Dies giebt der verhältnißmäßig kleinen Stadt freilich auch eine Ausdehnung von mindestens drei englischen Meilen Durchmesser. Die meisten Häuser sind einfach, alle sehr rein, oft ziemlich elegant und auch in einzelnen Fällen palastartig und fast immer geräumig und gesund. Die Residenz Brigham Young’s ist ein Palast 100 Fuß lang und 40 breit, aber nicht zu groß für seine 17 Frauen und seine zahlreiche Nachkommenschaft, die in Abraham-, Isaak- und Jacob’scher Weise als ein himmlischer Segen, als Glorie vor Gott und den Menschen betrachtet wird, da „viele Kinder“ als das Hauptstück religiösen Verdienstes gelten. –

Die Residenz des Mormonen-Papstes ist von Granit und andern kostbaren Gesteinen gebaut, sieht mit ihren hervorspringenden Ogiven über den langen Fenstern sehr majestätisch aus und soll im Innern fürstlich ausgestattet werden für 30 Sultanas, die sich dieser alte Held von Sultan und Papst noch anzuschaffen gedenkt. Jetzt (1855) wohnt er mit seinen 17 Ehehälften in einem Hause dicht daneben, das einen großen Bienenkorb als Symbol des Fleißes auf dem Dache trägt. Daneben befinden sich die Staats- und Regierungsgebäude und eine unentgeltlich zugängliche Bibliothek, unweit davon die große Gesellschaftshalle und der ummauerte Raum, auf welchem sich der große Mormonentempel mit sechs hochemporsteigenden gothischen Thürmen erheben soll, über 150 Fuß lang, 119 breit und mit Granitmauern von 9 Fuß 9 Zoll Dicke, eine Schöpfung kirchlicher Baukunst, die alle andern in der Welt übertreffen wird, wie sich wenigstens die Mormonen selbst rühmen. Bis jetzt halten sie ihren Gottesdienst in einem großen Tabernakel daneben, das von der „Bowery“ begrenzt wird, einem ungeheuern Schuppen für neue Ankömmlinge, die noch kein Dach und Fach haben. Neben dem Tabernakel das Stiftshaus für die Mysterien der eigentlichen Heiligen, Bischöfe und obersten Hierarchen, das kein Mormone niedrigeren Grades betreten kann. Hier nehmen die Heiligen die noch immer lebendigen Offenbarungen ihres Stifters und Propheten, des von amerikanischer Volkswuth ermordeten Joseph Smith, und die Eingebungen des heiligen Geistes in Empfang. Hier werden die höchsten Kirchenbeamten geweiht und vereidigt und mit der heiligen Tunika bekleidet, einem langen, weißen Gurt, der vor jeder Gefahr schützt, so lange er den Körper umgiebt. In der Nähe dieser Staats- und Kirchengebäude sind auch Werkstätten und Schlafstellen für jeden Mormonen ohne Beschäftigung und Arbeit, außerdem Magazine und Kornkammern der Kirche.

Auf unsern Wanderungen durch die Stadt fiel uns nichts so angenehm auf, als die durchgehende Reinlichkeit, Behäbigkeit und Arbeitsamkeit, die friedliche Ruhe und Ordnung und der gebildete Wohlstand an allen Häusern und Menschen. (Es ist wirklich ein Deseret, ein Bienenschwarm, aber ohne – Drohnen, ohne Militär und Polizei und Beamte – als besondere vom Volke lebende Stände. Jeder arbeitet und schämt sich auch der gemeinsten Arbeit nicht – das ist das ganze Geheimniß.) – Maurer und Zimmerleute bauen, schneiden, sägen und behacken Holz, Tischler Hobeln und leimen, Gärtner graben und wässern, Schmiede hämmern zwischen sprühenden Funken, Kürschner bearbeiten kostbare Felle und Rauchwerke, Kinder enthülsen Mais, Hirten weiden fröhliche, runde Heerden, Holzfäller kehren mit schweren Lasten aus bewaldeten Felsenklüften zurück, Wollkämmer bereiten schneeige Vließe zum Spinnen und Weben, Erdarbeiter graben Canäle für Bewässerung der Gefilde und Gärten, Schneider, Schuster, Ziegler, Töpfer, Salpeter- und Pulvermacher, Müller, Säger, Waffenschmiede – alle Sorten und Arten von Handwerkern und Fabrikanten arbeiten lustig darauf los und brauchen wenig oder nichts für ihre Heiligen und Heroen zu steuern, da diese alle selbst tüchtig mit arbeiten. (Müßiggänger und Arme giebt es nicht, darf es nicht geben, da die Aermsten ohne Mittel oder ohne augenblickliche Arbeit sofort von der „Kirche“ – allen Respect vor ihr in dieser Eigenschaft! – mit dem Nöthigen versehen werden.)

Keine Spiel- und Trink-, keine Spur von „liederlichen“ Häusern. Ihre Erholung sind Kirche, Schule, Turn- und Exercirplatz (Jeder ist Vaterlandsvertheidiger, deshalb Keiner Soldat) und die große Gesellschaftshalle, wo gesungen, getanzt, musicirt und Theater gespielt wird, wenn die wissenschaftlichen Vorlesungen zu Ende sind. Niemals Rohheit oder Trunkenheit auf der Straße, keine Verbrechen, so daß die Gerichtshöfe kaum etwas zu thun haben, als Streitpunkte über „Sollen und Haben“ zu schlichten. Das Trinken gebrauter und spirituöser Getränke ist nicht verboten, aber man verkneipt sein Geld und seine Zeit nicht. Abends plaudern, lesen, predigen und singen die Familien mit einander, da sie fast alle gläubig und abergläubisch unter dem Einflusse ihrer alttestamentlich fabricirten Bibel und der Autorität ihrer Apostel und Heiligen stehen. Mit Eintritt der Dunkelheit sieht man kein weibliches Wesen mehr auf der Straße.

Die Vielweiberei bringt etwas Türkisches mit sich, eine auffallende Sittenstrenge, womit man von sich und der Welt den naheliegenden Verdacht der Unsittlichkeit und geschlechtlichen Ausschweifung abzuwehren sucht. Auf Ehebruch folgt Todesstrafe, die noch nie Jemandem zuerkannt worden ist. Was die Frauen betrifft, so ist es psychologisch nothwendig und deshalb auch Thatsache, daß sie ihre durch „Colleginnen“ Verlorne innerste Ehre durch möglichste Sittlichkeit mit Religiosität zu entschädigen suchen. Sie berufen sich auf ihre religiöse Vorschrift, auf das alte Testament und die vielbeweibten Erzväter.

„Ein seltsamer Anblick“, fährt unser Gewährsmann fort, „diese Gesellschaft so arbeitsam und nüchtern, so friedlich und ordentlich, namentlich wenn man erwägt, aus welchen widerspruchsvollen und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 505. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_505.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)