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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

ausgeworfenen Elementen der verschiedensten Zonen und Nationen sie zusammengesetzt ist und sich immer frisch bereichert. Sie besteht aus Engländern, Amerikanern, Schotten, Canadiern, Dänen, Schweden, Norwegern, Deutschen, Schweizern, Polen, Russen, Italienern, Franzosen, Negern, Hindu’s, Indianern, Australiern und Chinesen (das ist die Reihenfolge der Zahl der einzelnen Bestandtheile nach). Alle Nationen, Racen, Farben, Religionen, Sprachen, Sitten und Gebräuche schmelzen hier in Eine friedliche Gemeinschaft von großer Kraft und Energie zusammen (die erst neuerlich, 1856–1858, der ganzen Regierung aller vereinigten Staaten und den Truppen derselben trotzte, sich anfangs wehren wollte und dann zum dritten Male auszuwandern im Begriff war, statt sich zu beugen, so daß die amerikanische Regierung nachgeben mußte). Diese Elemente und Widersprüche aller Nationen leben hier in praktischer Verbrüderung und Harmonie und vermehren sich fast noch täglich aus allen Himmelsgegenden. Hier im Herzen der amerikanischen Wildniß ist eine kosmopolitische Nation emporgeblüht, unabhängig, compact und durchweg aus eigener Kraft und fanatischer Energie hervorgewachsen – eine Vorbildung (und vorläufig auch noch eine Verbildung als erster Versuch) der allgemeinen, kosmopolitischen Verschmelzung aller Nationen und Religionen zu Einer großen Menschengemeinde, die den Heiligen der letzten Tage denn auch wirklich als Ideal und Ziel vorschwebt,“ – an deren Verwirklichung in anderer Weise besonders die in aller Welt zerstreuten Deutschen unbewußt aus ihrer wahren Natur und Bestimmung heraus arbeiten.

Dies Mormonenreich am Jordan ist wesentlich ein Werk Brigham Young’s, des Präsidenten, Papstes, Sultans und Souverains, des aus der Volkswahl hervorgegangenen Gouverneurs von Utah, des Propheten, Offenbarers und Sehers. Er ist ein Mann von 54 Jahren (im Jahre 1855), hellhaarig, mittelgroß, stark und dick. Sein Gesicht ist regelmäßig, die Stirn breit und hoch, die Augen scharf und fest, der Mund freundlich umzogen. Auf den ersten Anblick sieht er wie ein ehrlicher Landmann aus, doch merkt man bald aus seinen Thaten und Reden den geistig und physisch energischen Mann heraus.

Bruder Brigham, wie ihn seine Heiligen nennen, hat einen Serail mit 17 Frauen verschiedenen Alters. Eine, die wir zufällig im Garten sahen, war auffallend schön. (Wahrscheinlich ist jetzt sein Palast für 30 Ehehälften fertig und der jetzige Sechziger doppelt beweibt.) Die Zahl seiner Kinder ist unbekannt. Im vorigen Frühlinge (1854) wurden ihm in einer Woche neun Stück geboren. Jedermann fließt über vom Lobe über die Sorgfalt dieses Patriarchen für seine Nachkommenschaft. Zu diesem Autokraten der Seelen und Leiber seiner Unterthanen sollten wir nun in unseren schmutzigen Reisecostümen eingeführt werden. Wir fanden ihn in seinem officiellen Bureau, Schreibern dictirend und ein Stück virginischen Tabak zum Kauen zurechtschneidend. Er kauerte in einem Lehnstuhle mit einem breitkrämpigen Filzhute auf dem Kopfe und einen für seine Dicke immer noch viel zu weiten grünen Rock an. Er dictirte noch eine halbe Stunde fort, ohne von uns Notiz zu nehmen. Endlich wurden wir ihm vorgestellt. Er gab uns die Hand und hieß uns Platz nehmen, während er sich selbst wieder setzte, ohne uns eines Wortes zu würdigen. Stumm mir dem Kopfe bis beinahe auf die Kniee gebeugt blieb er sitzen. Ich richtete endlich eine Frage an ihn, die er mit Nein beantwortete, ohne weiter zu reden. Wir baten ihn mehrmals um eine Privat-Audienz, um besondere Anliegen anzubringen. Er antwortete jedesmal bejahend, ohne sich zu regen. Endlich sagte er: „Auf der Straße“. So gingen wir zur Privat-Audienz auf die Straße. Hier antwortete er uns gefällig, aber zurückhaltend, bis er uns plötzlich stehen ließ und rasch davon lief, um ein Paar durchgehende Zugochsen aufzuhalten. Er packte sie und hielt sie, bis der Knecht oder Eigenthümer herankam. „Warum läßt du die Ochsen durchgehen?“ fragte er den Mann.

„O Bruder Brigham! Wie geht’s heute? Ja, diese Ochsen wollten heute nicht pariren, wie ich auch manchmal,“ war die Antwort des Ochsenmannes.

Der Sultan und Papst wendet sich jetzt wieder zu uns, giebt Jedem die Hand und läßt uns stehen.

Wir sprachen unser Erstaunen über diese seltsame Behandlung gegen einen ihm näher Stehenden aus, der ihn und uns bald aufklärte. Er ist mißtrauisch gegen Fremde, die ihm nicht von zuverlässigen Freunden vorgestellt werden, da er Feindschaft, Gift, Dolch oder Kugel von Attentätern der Frommen in den Vereinigten Staaten fürchtet. Ordentlich vorgestellt wurden wir am nächsten Tage um so freundlicher und zutraulicher behandelt. Er nahm uns mit in sein Schlafzimmer, wo er als Junggeselle schlummert und keine seiner Frauen ohne besondere Erlaubniß Zutritt findet. Da wir nicht Alle Stühle fanden, mußten sich der Vice-Papst Kimbal und ein Anderer auf’s Bett setzen. Hier sprachen wir über eine Stunde, wobei er sich’s angelegen sein ließ, seine Ueberzeugung recht klar und warm auszusprechen, daß sein Glaube und sein Reich bald die ganze Menschheit umgestalten und erlösen werde. – Dieser Glaube ist bei ihm ehrlich, fest und feurig. Das ist hauptsächlich seine Kunst und die Quelle seiner sonst nicht sehr feinen Beredsamkeit. Er war einst Tischlergeselle und hat sich nie große Gelehrsamkeit verschaffen können. Aber er hat das merkwürdigste Reich geschaffen und bisher entwickelt, die verschiedensten Nationen unter Einem rohen, seltsam aus Christenthum, Köhlerglauben, Heidenthum und Cynismus zusammengebrauten Cultus und geistlichen, wie weltlichen patriarchalischen Absolutismus vereinigt und ihn ausgedehnt über alle Welt, der in keinem Lande der Erde mehr seine Missionäre und Agenten fehlen, die ihm jährlich immer mehr Tausende zusenden.




Der Frauenverein für Gesundheitspflege in England.

Eine Mittheilung von Dr. Schildbach,
zweitem Director der Schreber’schen gymnastisch-orthopädischen Heilanstalt zu Leipzig.

Immer allgemeiner wird die Erkenntniß der Wahrheit, daß die Völker selbst es sind, welche sich ihre Zustände schaffen, und daß die Entwickelung ihrer geschichtlichen Bedeutung, ihres innern Staatswesens und ihres Wohlstandes gleichen Schritt hält mit der Zu- und Abnahme ihres sittlichen und geistigen Werthes. Es ist eine Frucht dieser Erkenntniß und eine praktische Anwendung der alten Regel, daß man beim Bauen mit dem Grund anfangen müsse, wenn diejenigen, die für das Volk ein Herz haben, ihr Hauptaugenmerk gegenwärtig auf die Erziehung richten.

Solchem Streben für die Hebung des Volks durch Verbesserung der Erziehung verdanken wir bereits eine große Anzahl Schriften. Der Erfolg derselben mußte aber so lange ein mangelhafter und beschränkter bleiben, als man nicht dafür sorgte, daß die große Masse des Volks solche Schriften auch wirklich in die Hände bekam. Diese Erwägung hat jetzt in England und Deutschland Unternehmungen hervorgerufen, welche richtige Grundsätze über Erziehung und Gesundheitspflege zum Eigenthum des ganzen Volks machen wollen.

„Wir machen die Erfindungen, und die Engländer beuten sie aus!“ so hat wohl mancher Deutsche in patriotischem Unmuthe gerufen, und so ist in der That oft genug der Gang der Dinge gewesen. Aber solch ein Wort trifft doch nicht immer zu; und ich glaube, es läßt sich auch in dem Falle, über den ich berichten will, behaupten, daß ein auf fremdem Lande gewachsener und sorglich gepflegter Gedanke doch erst bei uns einen ihm völlig zusagenden Boden gefunden habe.

Oft ist uns erzählt worden von der entsetzlichen Verkommenheit des englischen Proletariats, welches uns als eine Menschenclasse geschildert wird, für die nicht nur die staatsbürgerlichen Rechte nicht vorhanden sind, sondern auch das erste natürliche Recht jedes Geschöpfes, zu leben und die für Gesundheit und Leben schädlichen Einflüsse abzuwehren, in hohem Grade gefährdet erscheint. Wo der dritte Theil aller lebend gebornen Kinder vor dem fünften Jahre wieder zu Grunde geht, wie es uns von England berichtet wird – da müssen wirklich die sittlichen und Lebensverhältnisse trostlose sein; denn die durchschnittliche Lebensdauer giebt sicherlich den besten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_506.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)