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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

No. 37.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Des Kaufmanns Ehrenschild.

Von Dr. J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


Der Bediente führte mich in das Haus, in das Zimmer der Hausfrau. Den Polizeidiener ließ ich unten. Die Frau von Holberg ging in großer Aufregung in dem Zimmer umher; sie fuhr heftig erschrocken zusammen, als sie mich plötzlich sah. Dann trat sie mir doch, wie einem Hülfe, Schutz, Rath Bringenden entgegen. Sie war sehr blaß. Den Bedienten hatte ich unterwegs nicht weiter befragt. Bei meinem Eintreten in das Zimmer hatte er sich entfernt. Die Frau von Holberg war allein.

„Gnädige Frau, was ist hier vorgefallen?“ rief ich ihr entgegen.

„Wissen Sie nichts von meinem Mann?“ fragte sie hastig.

„Nichts, als daß die Bedienten mir sagten, er werde gesucht.“

„Er ist seit einer Stunde fort.“

„Aber nur auf einer Promenade. Die Nacht ist schön –“

„Nein, nein,“ rief sie. „Das ist es nicht. Es ist ein Unglück vorgefallen.“

„Welcher Art könnte es sein?“

Sie wollte mir etwas sagen. Sie stockte und wandte sich händeringend von mir.

„Gnädige Frau, hier ist wirklich ein Unglück vorgefallen. Theilen Sie es mir mit.“

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

„Sie müssen es mir mittheilen. Ich bin Holberg’s nächster Freund; ich bin Ihr Freund.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Gnädige Frau, Sie erschraken, als Sie mich sahen. Es fuhr mir durch das Herz. Sie müssen mir dennoch Alles sagen, gerade darum.“

Sie wandte sich zu mir; ihr Gesicht war leichenblaß. Sie sah mich entsetzt und doch fragend und hülfesuchend an. Einen Entschluß hatte sie noch nicht gefaßt, noch nicht fassen können. Wie Schweres mußte sie drücken! Ich mußte ihr entgegenkommen.

„Lassen Sie uns mit Ruhe sprechen, mit Ruhe überlegen, gnädige Frau. Theilen Sie mir mit, was hier vorgefallen ist.“

Sie konnte es nicht, nicht sogleich.

„Was führt Sie hierher?“ fragte sie in ihrer bebenden Angst. „So unerwartet? Mitten in der Nacht?“

„Ich werde es Ihnen nachher mittheilen.“

„Nicht sogleich? Warum nicht? Wen betrifft es? Meinen –?“

„Es betrifft nicht Ihren Mann, Niemanden der Ihrigen. Beruhigen Sie sich darüber völlig. Erzählen Sie mir jetzt.“

Sie konnte sich etwas mehr beruhigen.

„Setzen wir uns. Ich werde Ihnen erzählen. O, könnten Sie mir, könnten Sie uns Hülfe bringen! Sie wissen, ich bin mit den Kindern schon seit mehreren Wochen hier. Mein Mann kommt öfter zu uns heraus. Er kam auch heute – wir haben schon Morgen – er kam auch gestern Abend. Er war sehr still, verstimmt, gedrückt. Auf meine Frage, was ihm fehle, sprach er nur im Allgemeinen von unangenehmen Geschäften. Nachher wurde er mittheilender. Er hatte zum Amüsement der Kinder und der Leute des Gutes und der Nachbarschaft einer Truppe von Seiltänzern und Gauklern erlaubt, ihre Kunststücke auf dem Schloßhofe zu machen. Er kam selbst hin. Die Kinder freuten sich, und er wurde munter mit ihnen. Auf einmal, gegen Abend, kam Herr Jones hier an. Sie kennen ihn?“

„Ich kenne ihn,“ sagte ich. „Aber,“ mußte ich sie zugleich fragen, „hatte Holberg Ihnen seine Ankunft nicht vorher angekündigt?“

„Nein. – Es fällt Ihnen auf?“

„Fahren Sie fort, wenn ich bitten darf.“

„Er blieb eine Weile in unserer Gesellschaft, dann ging mein Mann mit ihm allein in sein Cabinet. Sie waren sehr lange dort. Erst nach halb zehn Uhr kehrte mein Mann in das Familienzimmer zurück. Er kam allein und sah fast wie zerstört aus. Ich konnte ihn in Gegenwart der Kinder nicht fragen, was ihm fehle. Ich fragte ihn nur nach Jones, der mit ihm zum Abendbrod hatte zurückkommen wollen. Er sei fortgegangen, gab er mir zur Antwort; es sei ihm zu spät geworden. Wir setzten uns darauf zum Abendessen, aber mein Mann konnte nichts anrühren. Er starrte nur schweigend vor sich hin. So hatte ich ihn noch nie gesehen, auch die Kinder nicht. Es herrschte die peinlichste Todtenstille im Zimmer. Niemand konnte etwas verzehren. Auf einmal sprang er vom Tische auf; er nahm seinen Hut, um das Zimmer zu verlassen.

„Wo willst Du hingehen?“ fragte ich ihn.

„Ich muß eine Promenade machen, im Park.“

„In so später Stunde?“

„Ich habe Kopfschmerzen; in der frischen Luft wird mir besser werden.“

Ich begleitete ihn aus der Thür; draußen im Gange waren wir allein.

„Holberg, Dir fehlt etwas Anderes?“

„Nein, nein.“

„Du hast etwas mit dem unheimlichen Menschen gehabt. Seine Gegenwart war Dir schon längst unangenehm, drückend. Es ist ein Geheimniß zwischen Euch, daß Dir Sorgen macht. Willst Du Deine Sorgen nicht mit Deiner Frau theilen?“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_577.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)