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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Er konnte meinen Bitten nicht ferner widerstehen.

„Ja, der Mensch ist mein Unglück, unser Aller.“

„Und was hast Du mit ihm?“

„Ich habe alte Verbindlichkeiten gegen ihn. Ich kann sie nicht lösen. Er will unser Kind dafür.“

„Therese? “

„Unser braves, gutes, engelreines Kind.“

„Der entsetzliche Mensch?“

„Der Betrüger, der Schurke! “

„Für alte Verbindlichkeiten? Gieb ihm Alles, Alles an Geld und Vermögen, was wir haben, wenn wir nur unser Kind dafür retten können.“

„Ich kann ihn mit all’ unserem Geld und Gut nicht abkaufen.“

„Grosser Gott, was ist es denn?“

„Morgen. Ich muß mich sammeln, ehe ich es Dir mittheilen kann. Morgen sollst Du es erfahren.“

Ich wollte ihn beschwören, mich nicht in der fürchterlichsten Ungewißheit zurückzulassen. Er stürzte fort. Ich konnte ihn nicht halten, wenn ich nicht vor den Kindern und den Domestiken Alles bloßstellen wollte. Er ist noch nicht zurückgekehrt. Als es Mitternacht geworden war, sandte ich Leute aus, ihn zu suchen, sie hatten ihn nicht gefunden; ich schickte mehrere aus, zu genauerer Nachsuchung in weiterer Ferne. Die Leute waren selbst unruhig; sein gedrücktes, verstörtes Wesen war ihnen aufgefallen. Keiner hat mir Nachricht über ihn bringen können. Darf ich noch die Hoffnung liegen, daß er sich nicht ein Leid zugefügt habe? Sich – oder?“

Sie stockte.

„Oder?“ mußte ich fragen, und eine schreckliche Ahnung ergriff mich.

Sie kämpfte mit sich, ob sie mir antworten, ob sie die schwere Last, die sie noch drückte, von sich abwälzen solle. Sie konnte es nicht, wenigstens nicht ganz. Ich sah es ihr an.

„Jones!“ sagte sie nur. „Der Amerikaner.“

Es war meine Ahnung gewesen. Er war nicht im Schlosse und war auch nicht zu dem Gasthofe zurückgekehrt. Sein Pferd war noch dort.

„Wie kommen Sie auf ihn?“ fragte ich dennoch.

„Einer der Gutsknechte hatte ihn noch spät im Parke gesehen.“

„Wann?“

„Gegen zehn Uhr. Der Mann wußte die Stunde nicht genau. Es muß ungefähr um dieselbe Zeit gewesen sein, als mein Mann fortgegangen war. Der Amerikaner hatte mit einem der Seiltänzer gesprochen.“

„Mit einem Seiltänzer?“ Eine sonderbare Helle wollte in mir auftauchen. „Wo war das gewesen? “

„Hinten im Park, nach der Grenze von Alsleben hin.“

„In dem Dorfe haben die Seiltänzer ihr Quartier?“

„Ja, bis morgen.“

„Was hatten die Beiden gesprochen?“

„Der Knecht hat es nicht verstanden.“

„Können Sie auf der Stelle den Knecht zu mir schicken?“

„Er ist mit den Uebrigen zum Aufsuchen meines Mannes fort. Aber welches Gewicht legen Sie auf den Umstand?“

Ich mußte ihr jetzt mittheilen, was mich hergeführt hatte.

„Der Amerikaner ist wahrscheinlich ein Betrüger, ein Mitglied einer herumziehenden Gaukler- und Seiltänzerbande, und der Mörder des Mannes, dessen Namen er führt und dessen wahre oder fingirte Rechte er auch gegen Holberg geltend machen will.

Ein englischer Polizeibeamter ist mit mir zu seiner Verfolgung herübergekommen. Er wartet draußen im Gasthofe an der Chaussee.“

Ein neuer Schreck halte die Frau ergriffen; dann lebte doch ein neuer Hoffnungsschimmer in ihr auf. Auch sie hatte nur jetzt noch etwas mitzutheilen. Sie hatte bisher nicht darauf geachtet; auf einmal wurde es ihr wichtig, und auch mir.

Der Amerikaner war zu dem Spiele der Seiltänzer auf den Hof gekommen. Er hatte, was ihr gleichfalls jetzt erst auffiel, nur mit Widerstreben und nur auf kurze Zeit von ihrem Manne sich hinführen lassen. Einer der Gaukler hatte ihn gleich nachher fixirt. Es war ein großer, fast riesiger, kräftiger Mann, mit einem großen, schwarzen Barte, rohen Zügen, stechenden Augen. Als, schon nach wenigen Minuten, auf das Drängen des Amerikaners, Holberg mit diesem fortgegangen, war der Mensch ihnen gefolgt; er war an den Amerikaner herangetreten und hatte ihm, wie um eine Gabe bittend, die Mütze hingehalten. Der Amerikaner hatte ihm schnell ein Geldstück in die Mütze geworfen und sich dann in das Schloß entfernt. Die Frau von Holberg wollte dabei bemerkt haben, daß der Amerikaner sich verfärbt habe und in seiner Hast ihr verwirrt vorgekommen sei. Auffallend war ihr auch noch das Benehmen des Seiltänzers, den ihr Mann vollständig für die ganze Vorstellung bezahlt und der auch nur von dem Amerikaner eine Gabe gefordert hatte.

Das erzählte sie mir. Es gab mir ein neues Licht auf den Weg, den ich als Criminalbeamter zu nehmen hatte, eine neue Spur für die Verfolgung des Verbrechers. Aber auch zu Gunsten des Freundes, dessen Schicksal sich mir mit jedem Augenblicke trüber gestalten wollte? Vielleicht war das Eine mit dem Anderen in eine neue Verbindung getreten. Ich mußte vor allen Dingen dieser letzten Spur weiter nachgehen. Ich mußte sofort den Gaukler befragen und überraschen.

Den mitgebrachten Polizeidiener sandte ich zu dem Gasthofe zurück, mit dem Ersuchen an den Polizeidirector, zur Verfolgung des Amerikaners außer dem Gasthofe auch noch das Schloß bewachen zu lassen und mir nach Alsleben einige Gensd’armen nachzusenden. Dann ließ ich mich durch einen Bedienten des Schlosses nach dem Dorfe Alsleben führen, in dem die Seiltänzer sich befanden. Der Diener brachte mich in die elendeste Schenke des Dorfes. Dort lagen die Künstler, die auch in ihrer Weise durch die Kunst die Welt darstellen, freilich auf dem Seile, also nur etwas mehr in der Luft – dort lagen sie in dem elendesten Raum des Hauses, in der Scheune und in den leeren Ställen zu beiden Seiten der Scheune. Ihre Ruhestätte waren Stroh, Steine, Lumpen, Dünger. Der Schnaps hatte sie in den Schlaf gewiegt, manchen auch wohl der Hunger.

Der Tag graute, als ich an der Schenke angekommen war.

Ich ließ den Wirth wecken und fragte ihn, ob der Anführer der Truppe noch da sei. Jener riesige Gaukler, der an den Amerikaner herangetreten war, war der Anführer, wie mir die Baronin Holberg gesagt hatte. Sie seien alle in der Scheune, sagte der Wirth, auch der Signor Trapani Simo. So ließ also der große Künstler sich nennen. Ich fragte, wann der Signor am gestrigen Abende oder in der vergangenen Rächt nach Hause gekommen sei.

Sie seien nach Beendigung der Kunststücke auf dem Schloßhofe Alle zusammen zurückgekommen und sofort in die Scheune gegangen. Dort habe er nach Dunkelwerden nichts weiter von ihnen gehört. Sie wollten um sechs Uhr Morgens aufbrechen, da hätten sie sich wohl früh zur Ruhe gelegt. Ob Einer später die Scheune wieder verlassen habe, wußte der Wirth nicht; die Scheune hatte einen besonderen Ausgang unmittelbar in’s Freie.

Die Gensd’armen waren vom Gasthofe schnell angekommen. Ich trat mit ihnen in die Scheune. Gerade ging die Sonne auf; ihre ersten Strahlen fielen durch ein breites Fenster in den Raum.

Welch ein Bild beschienen, zeigten sie! Halb bekleidet, halb nackt lagen über ein Dutzend menschlicher Gestalten am Boden, bunt durch einander; Männer, Weiber, Kinder; kräftige Glieder, abgemagerte und abgehärmte Figuren, vom Schnaps des gestrigen Tages noch geröthete, von Hunger und Kummer gebleichte Gesichter, Eine leichenblasse Frau, einen Säugling an der Brust, in der Brust die Schwindsucht, über Brust und Kind unordentlich dichte, lange, glänzend schwarze Haare herabhängend, vergesse ich nie. Auch nicht ein Mädchen von zwölf bis dreizehn Jahren, schön wie ein Engel, aber auch bleich wie der Todesengel. Man konnte kein schöneres schlafendes Gesicht sehen. Wie könnte ich je das ganze Bild vergessen! Die Frau schlief nicht, sie war die Erste, die uns sah. gleich bei unserem Eintreten.

„Gensd’armen!“ schrie sie laut auf.

Sie mochte wohl noch mehr als die Auszehrung in der unglücklichen Brust tragen. Im Nu waren sie Alle aufgesprungen, nur die Kinder suchten sich zu verkriechen, nicht unter Decken, denn die hatten sie nicht, aber in den ärmlichen Lumpen, mit denen sie ihre Blöße halb bedeckt hielten. Ein riesiger Mann mit schwarzem Barte stand vor mir. Er wäre ein schöner Mann gewesen, wenn er nicht gar zu verkommen und gemein ausgesehen hätte. Er stand halb drohend und halb erschrocken da. Er war der Signor Trapani Simo, der, den ich suchte. Ich redete ihn deutsch an, trotz seines italienischen Namens.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 578. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_578.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)