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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)


„Später, als es dunkler Abend war, haben Sie mit ihm gesprochen.“

„Ich?“ – Er sprach das Wort völlig unbefangen.

„Gewiß, Sie.“

„Wo wäre das gewesen?“

„Im Schloßpark.“

„Ich war nicht in dem Park.“

„In der Nähe des Flusses, der den Park auch von der Feldmark dieses Dorfs trennt.“

Ich hatte ihn fest und scharf angesehen, absichtlich, daß er es merken, das Stechen meines Blicks gleichsam fühlen sollte. Er mußte wirklich plötzlich die Augen niederschlagen. Aber es dauerte keine halbe Secunde lang.

„Ich war da nicht,“ sagte er, und er sah mich eben so fest an, wie ich ihn.

Er log. Auch ohne das Zeugniß des Bedienten, der ihn gesehen hatte, wußte ich es. Aber mußte die Lüge sich auf den Tod des Amerikaners beziehen? Konnte sie nicht im Gegentheil eben so sehr und noch mehr zum Zweck haben, den Amerikaner nicht zu verrathen?

„Wann hatten Sie Ihre Vorstellung auf dem Schloßplatze gestern Abend beendet?“ fuhr ich fort.

„Es konnte gegen acht Uhr sein.“

„Wohin gingen Sie von da?“

„Wir kehrten hierher zurück.“

„Sie mit den Andern?“

„Wir Alle zusammen.“

„Auf geradem Wege?“

„Auf dem kürzesten, am Rande des Parks entlang.“

„Hierher in diese Schenke?“

„In jene Scheune.“

„Haben Sie die Scheune seitdem verlassen?“

„Nein. Doch, ich war einmal auf dem Hofe nebenan, um nach meinem Wagen zu sehen, ob er zur morgenden Abreise im Stande sei.“

„Wann war das?“

„Unmittelbar vorher, ehe ich mich zum Schlafen legte, vielleicht um halb zehn Uhr.“

„Waren Sie lange draußen gewesen?“

„Vielleicht zehn bis fünfzehn Minuten.“

„Hat Jemand Ihre Rückkehr bemerkt?“

„Ich weiß es nicht; die Leute schliefen schon.“

„Sind Sie verheirathet?“

„Ja.“

„Ist Ihre Frau mit hier?“

„Sie gehört zur Gesellschaft.“

„Wer ist das blasse Mädchen von ungefähr zwölf Jahren?“

Die plötzliche Frage erschreckte ihn sichtlich; sie hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen.

„Das Mädchen?“ wiederholte er, mit verwirrt umher irrenden Augen.

„Sie lag in der Nähe der blassen Frau mit dem Säugling im Anne.“

„Das war meine Frau mit unserem Kinde.“

Er wollte durch die Antwort Zeit gewinnen, sich von seinem Schreck zu erholen.

„Und das Mädchen?“ fragte ich.

Er hatte sich erholt.

„Sie ist von ihrer frühesten Kindheit bei meiner Gesellschaft.

Ein früheres Mitglied, ein liederlicher Mensch, ging mir durch und ließ sie mir zurück.“

„Er war ihr Vater?“

„Ja. Die Mutter war schon früher gestorben.“

„Sein Name?“

„Rosenberg hieß er.“

„Wo ist er jetzt?“

„Ich habe nie wieder von ihm gehört.“

Er hatte alle diese Fragen bestimmt und ruhig beantwortet. Mit dem Mädchen war es doch ein Geheimniß. Wieder ein neues Geheimniß? Weitere Fragen, die ich an den Gaukler stellen konnte, hätten sich unmittelbar auf den Tod des Amerikaners beziehen müssen. Sie wären jetzt noch verfrüht gewesen. Ich mußte vorher seine Frau und das Mädchen vernehmen, und auch dann ging ich sicherer, vor irgend einer Erwähnung des Todes oder der Auffindung der Leiche des Amerikaners ihn nach der Stelle des Auffindens zu führen und zu beobachten, welche Eindrücke das allmähliche Näherkommen zu der Stelle und darauf der Anblick der Leiche auf ihn machen werke. Ich ließ ihn in sicheren Verwahrsam bringen und dann seine Frau vorführen.

Es war die kranke, blasse Frau mit der Auszehrung in der Brust. Sie hatte das schöne, lange und dichte schwarze Haar geordnet. Man sah, wie schön sie einst gewesen war. Jetzt war sie ein Bild des Elends, des Hungers, des in seiner Blüthe rasch dahin schwindenden Lebens. Sie konnte kaum fünfundzwanzig Jahre zählen. Auch ihr innerliches, geistiges Leben war schon tief angefressen, gebrochen. Ein gewisser Stumpfsinn sah aus den starren, grauen Augen hervor; tägliches Elend von so mancherlei Art, Sünde und Laster, und die Unmöglichkeit, aus dem Allem je herauszukommen, können den Geist völlig abstumpfen. Ihren Säugling trug sie im Arme; er schlief. Das Kind war schon blaß, wie die Mutter; die Muttermilch war ihm schon der Todestrank geworden. Ich konnte der armen Frau nicht wehe thun.

„Sie sind gestern Abend mit der übrigen Gesellschaft vom Schlosse hierher zurückgekehrt?“

„Ja.“

„War auch Ihr Mann dabei?“

„Er war mit dabei.“

„Ist er später wieder fortgegangen?“

„So viel ich weiß, nicht.“

„Soviel Sie wissen?“

„Ich bin bald eingeschlafen, ich war müde.“

„Sind Sie in der Nacht nicht erwacht?“

„Nur einmal, als mein Kind Nahrung forderte.“

„War zu der Zeit ihr Mann da?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe mich nicht nach ihm umgesehen, und es war dunkel in der Scheune.“

Sie antwortete Alles leise, etwas schüchtern, mit jenem Stumpfsinn, als wenn es sich der Sache nach um nichts handle. Ich fragte sie nur noch: „Kennen Sie einen Menschen Namens Johansen?“

Sie besann sich eine Weile ruhig.

„Ich habe den Namen nicht gehört,“ sagte sie dann in der vorigen Weise.

Wußte sie wirklich von nichts? Oder war es ihr, vielleicht mit in Folge langjähriger Drohungen und Mißhandlungen von Seite ihres Mannes, zur Gewohnheit geworden, nur gleichgültige, nichts gestehende und nichtssagende Antworten zu geben? Ich ließ noch das bleiche Mädchen vorführen. Ihr Geheimniß zog mich an, und wie leicht konnte ich, durch oder ohne dieses Geheimniß, von ihr eine wichtige Auskunft erhalten!

War sie im Schlafe einem schönen Engel, wenn auch dem Engel des Todes, gleich gewesen, jetzt war sie das Bild eines wunderbaren menschlichen Lebens. Sie war groß, schlank, zart gebaut. schon früh mitten auf dem Wege zur Entwicklung der Jungfrau. Große, schwarze Augen lagen wie dunkle Kohlen in dem schönen, schneeweißen Gesichte, ein wildes Feuer ausströmend. Ihre Lippen waren stolz und trotzig aufgeworfen. Sie sah mich neugierig, aber zuversichtlich an, als sie eintrat. Die Neugierde gehörte dem Kinde, die Zuversicht aber einem schon reiferen, bewußten Wesen.

„Wie heißt Du?“ fragte ich sie.

„Amelie.“

„Mit Deines Vaters Namen?“

„Ich kenne ihn nicht.“

Ihre Antworten waren rasch und bestimmt; es ging eine gewisse klare Entschlossenheit aus ihnen hervor.

„Dein Herr hat ihn Rosenberg genannt.“

„Der Signor!“ warf sie verächtlich die Lippen auf.

„Was willst Du sagen?“

Sie hatte eine schnelle Gegenfrage: „Der Signor hat ein Verbrechen begangen, nicht wahr, mein Herr?“

„Wüßtest Du mir etwas davon zu sagen?“

„Also nicht?“


(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 580. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_580.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)