verschiedene: Die Gartenlaube (1861) | |
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Bürgersleute und Bürgermeister.
Zu den traurigsten Folgen des Polizeistaates gehört allezeit der Mangel an Gemeinsinn und der Ueberfluß an Unselbständigkeit im Volke. Der deutsche Bürger, dessen Bezeichnung als solcher an die männliche Würde eines Vertheidigers seiner festen Stadt, ihrer Freiheit, ihrer Rechte erinnert und der seit dem dreizehnten Jahrhundert allen Einfluß landesherrlicher Beamten in seine inneren Angelegenheiten immer entschiedener zurückgewiesen hatte, dieser kernhafte deutsche Bürger ging aus dem Elende des dreißigjährigen Krieges arm und schwach hervor und endlich im gleichen Schritte, als das Reich sank und die Fürsten stiegen, nach und nach ganz im Unterthan auf. –
Wer sieht sie nicht noch
vor sich, jene vorsichtigen
Stadtbürger, die ihre
oberste Zuversicht ausschließlich
in dem „Schutze
der Obrigkeit“ und der
Zunft erkannten, die keinen
Schritt aus dem gewohnten
Alltagsgleise anders
als mit „hoher
obrigkeitlicher Bewilligung“
zu thun wagten,
die – leider nicht blos
aus Rücksicht auf die geschäftliche
Kundschaft, sondern
aus purem angeborenen
und anerzogenen
Respect – zu Adeligen
und fürstlichen Dienern
wie zu höheren Wesen
hinaufschauten, vor jedem
„herrschaftlichen“ Wagen
den Hut bis tief zur
Erde zogen und, um die
„Furcht“ vor der Obrigkeit
früh genug zu pflegen,
den „Polizeidiener“
zum Popanz ihrer Kinder
machten? – Welch’
niederdrückender Anblick,
den freien stolzen Bürger
der großen deutschen
Städtezeit nach Jahrhunderten
sogenannter Civilisation
in solcher Knechtsgestalt
wiederzufinden!
Diese Versunkenheit des Bürgerthums trat am sichtbarsten zu Tage bei der Behandlung derjenigen städtischen Angelegenheiten, bei welchen der einzelne Bürger berufen war, ein bürgerliches Recht öffentlich zu behaupten, und namentlich das wichtigste von allen: das Wahlrecht seiner obersten Magistrate. Hier spielten Gleichgültigkeit, zaghafte Rücksicht und selbstische Schlauheit ihre unerquicklichsten Rollen. Der Berechnung des allereigensten Vortheils erlag jede Regung für das allgemeine Wohl: man wählte nach höherem Wink oder nach Verwandtschaft und Kundschaft, oder nach dem Gewichte der Bestechung, und die Mehrzahl wählte gar nicht, um sich vor jeder „Ungelegenheit“ zu bewahren. In manchen Städten suchte man sogar die Bürger dadurch zum Wahlacte herbei zu locken, daß man ihnen am Wahltage einen freien Trunk gab, und noch heute giebt es Orte, wo bei jeder Bürgermeisterwahl die „Biermarke“ mitwirkt.
Es ist nicht zu verwundern, daß demgemäß auch die meisten Bürgermeister dem Geiste entsprachen, unter dessen Walten sie zum Amte gelangt waren. Die Geschichte der Mehrzahl deutscher Städte wird uns nicht widersprechen, wenn wir dieselben größtentheils als dienstwonnevoll nach oben und herrisch nach unten bezeichnen. Anstatt Beschützer der städtischen Rechte waren sie nur zu oft die Tyrannen des kleinen Bürgers und die Schmeichler der landesfürstlichen Macht, die es dann trefflich verstand, aus solchen Zuständen den größten Vortheil zu ziehen. Die alte Selbstständigkeit der Städte ging allgemach verloren, bis es endlich, mit der Ausbildung der Landeshoheit in neuerer Zeit, den fürstlichen Regierungen sogar gelang, Stadträthe sammt Bürgermeister als Unterbehörden sich zu subordiniren. Ja leider fehlt es sogar nicht an Stadträthen, welche sich so sehr als Unterbehörden fühlen, daß sie in Differenzen mit den Vertretern der Bürgerschaft (Gemeinderäthen, Stadtverordneten etc.) jeder Nachgiebigkeit gegen diese voll beamtlichen Subordinationsstolzes den schiedsrichterlichen Ausspruch einer fürstlichen Oberbehörde vorziehen.
In unseren Tagen ist auch in dieser Beziehung Manches besser geworden, haben sich wieder Bürgermeister gefunden, welche in beharrlichem Kampfe für die freie Entwickelung der Städte und ihres Bürgerthums ihre oberste Pflicht erkannten und die in Wahrheit Bürgermeister, das heißt Muster als Bürger und Männer darstellten, bei denen die Tugenden der Vaterlandsliebe und der Freisinnigkeit sich von selbst verstanden. Wir haben den Lesern der Gartenlaube bereits zwei solcher Männer in Bild und Wort vorgeführt und lassen heute einen der würdigsten der zuletzt Heimgegangenen folgen: Johann Smidt, den Bürgermeister von Bremen. Wenn auch die amtliche Stellung dieser Häupter unserer freien Städte von denen in monarchischen Ländern bedeutend verschieden ist, indem diese der Regierung unterthan sind, während jene selbst die Spitze der Regierung bilden, nicht blos die städtischen Vorrechte, sondern zugleich die Ehrenrechte des Staats ausüben, Gesandte empfangen und schicken und somit vielfach auf diplomatischem Boden wandeln müssen, so ist doch gerade Johann Smidt einer von den Bürgermeistern gewesen, die auch in Beziehung auf ihre rein städtischen Arbeiten als Muster gelten können. Es ist nothwendig, daß unsere Städtebewohner allenthalben einsehen lernen, welche Wichtigkeit in der Ausübung ihres Wahlrechts liegt, daß sie prüfen lernen, welche Eigenschaften einen Mann zu einem solchen Amt befähigen, daß sie an glücklichen Beispielen schätzen lernen, wie viel Ehre, Wohlstand und Lebensfreudigkeit der Gemeingeist einer rührigen Bürgerschaft sicherlich in jeder deutschen Stadt zu schaffen vermag.
Johann Smidt war der Sohn eines Predigers an der St. Stephanikirche in Bremen und wurde am 5. November 1773 geboren. Er genoß die Erziehung seiner Zeit und bezog im Jahre 1792 die Universität Jena, von welcher damals die neue Lehre einer verjüngten Wissenschaft und Bildung ausging, denn dort stand Fichte eben in voller Jugendkraft, und eine Menge anderer bedeutender Männer wirkten ihm zur Seite.
Im Jahre 1795 kehrte er nach Bremen zurück zu selbstständigem Wirken auf der Grundlage einer gediegenen philosophischen, humanistischen und historischen Bildung; Geist und Gemüth aber
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 581. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_581.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)