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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

„Nein. Ich schlief bald ein; ich war müde und habe die ganze Nacht geschlafen, bis Sie mit den Gensd’armen kamen.“

Ich konnte von dem Kinde nicht mehr erfahren. Aber es war ja so viel, was sie mir mitgetheilt hatte. Nur ein Zweifel wollte nicht von mir ablassen: ob auch Alles wahr sei, was sie mir gesagt, ob sie mir nicht ein Märchen aufgebunden habe. Der Seiltänzer war ihr verhaßter Meister, von dem sie befreit sein wollte; sie wußte oder setzte voraus, daß er von mir wegen eines Verbrechens verfolgt werde; von ihrer überspannten Phantasie glaubte ich schon einmal eine Probe gehabt zu haben; ähnliche, aus der Luft gegriffene Erfindungen, gerade von Kindern in ihrem Alter, waren in meiner kriminalistischen Praxis mir schon mehrfach vorgekommen. Sie hatte zwar das Aeußere des Amerikaners zutreffend beschrieben – er trug auch gewöhnlich einen braunen Rock. Aber sie konnte ihn gesehen haben und er konnte ihr aufgefallen sein, als der Seiltänzer ihm nachgegangen war und eine Gabe von ihm gefordert hatte. Ich hatte noch eine Probe.

„Hast Du gehört, daß der fremde Herr ermordet ist?“

Sie erschrak heftig.

„Wer?“ rief sie mit zitternder Stimme.

„Der, den Du bestellt hattest.“

„Ich bin unschuldig!“ schrie sie auf.

Sie war unschuldig. Sie hatte auch nicht gelogen. Ich ließ sie unter besonderer Aufsicht des Wirthin in der Schenke zurück und begab mich nun mit dem Seiltänzer zu dem Schloßpark und zu der Stelle, wo der Leichnam des Amerikaners gefunden war. Es war das Nächste, was ich amtlich zu thun hatte. Gern wäre ich vorher zum Schlosse selbst gegangen, um mich nach den dortigen Ereignissen zu erkundigen. Ich muß hier die Oertlichkeit beschreiben.

Das Dorf Alsleben war von dem Schlosse Holbergen ungefähr eine Viertelstunde entfernt. Ein ziemlich gerader Weg führte durch Ackerland dahin. Zu seiner rechten Seite lag der Schloßpark, an dem der Weg mitunter unmittelbar lief. Der Park war durch einen hohen Zaun eingeschlossen. Jenseits des Parks war die Chaussee, an welcher der Gasthof lag. Durch den Park floß der breite und tiefe, einem Flusse gleichende Bach, der Alsbach genannt. Bei seinem Ausflusse aus dem Park hatte er eine zum Gehen und Fahren bestimmte hölzerne Brücke, in deren Mitte, also auch gerade über der Mitte des Wassers, sich ein verschließbares, aber gewöhnlich nur in das Schloß gelegtes Thor befand. Die Brücke war ungefähr in der Mitte zwischen dem Dorfe Alsleben und dem Gasthofe an der Chaussee, von Beiden etwa zehn Minuten entfernt. Ein Fußweg, der von dem Gasthofe direct nach dein Dorfe führte, lief kaum fünfzig bis sechzig Schritt weit daran vorbei.

Zu der Brücke war der Amerikaner durch das Mädchen bestellt worden. Welchen Weg dahin er genommen hatte, war mir ungewiß. Im Gasthofe war er nicht wieder gewesen. Wahrscheinlich war er gleich von der Schloßallee in den Park gegangen; er konnte sich auch erst in der Nähe des Gasthofs von der Chaussee aus auf jenem Dorfwege zu der Brücke gewendet haben, ohne vorher den Park zu berühren.

Der Seiltänzer war unzweifelhaft direct vom Dorfe aus hingegangen. Denselben Weg führte ich ihn jetzt. Ich mußte vor Allem sehen, welchen Eindruck schon dieser Weg auf ihn machen werde. Er hatte kein Wort von dem Auffinden der Leiche erfahren. Das leiseste Zeichen, daß er von dem Tode etwas wisse, war daher sein Verräther; schon eine Unruhe mußte ihn verdächtig machen. Ich beobachtete ihn genau; ich konnte es. Die Sonne stand schon eine Weile am Himmel, es war ein schöner, klarer Sommermorgen. Er ging ruhig zwischen mir und dem Gensd’armen. Ich sprach kein Wort, er schwieg ebenfalls; den Gensd’armen machte der Dienst stumm, wenn er nicht von mir gefragt wurde.

Wir hatten die Nähe der Brücke erreicht; er war ruhig und unbefangen geblieben. Von der Brücke führte in gerader Linie ein schmaler Fußsteig zu dem Wege, den wir gingen. Ich bog schweigend in den Fußsteig ein. Er mußte dieselbe Richtung nehmen.

Auf einmal stutzte er; es war, als wenn sein Fuß unwillkürlich zögere, voranzuschreiten; er hatte sich verfärbt. Das Zeichen, das ihn verräth, rief es in mir. Aber ich hatte einen Fehler gemacht. Hinter der Brücke, an dem jenseitigen Ufer des Flusses, standen Leute, Diener des Schlosses, Polizeidiener, Gensd’armen, Neugierige. Ein menschlicher Körper lag auf dem Boden. Es hätte sich Niemand zeigen, der Leichnam hätte verborgen sein müssen. Ich hatte vergessen, das vorher anzuordnen.

Das jetzige Erschrecken des Menschen, nachdem er das Alles gesehen hatte, konnte dem Ungewöhnlichen, das er sah, gelten, ohne Zeichen eines Schuldbewußtseins zu sein. Ja, es konnte, zumal nach der Behandlung, die ihm widerfuhr, nur zu leicht von der Furcht erzeugt sein, unschuldig für den Schuldigen eines Verbrechens gehalten zu werden, auf das er nach Allem sofort schließen mußte. Ich hatte einen großen Fehler gemacht, der nicht mehr zu verbessern war und dessen Folgen sich schnell zeigen sollten. Ich mußte ihn weiterführen, als ob ich, nichts bemerkt, auch in nichts gefehlt hätte. Wir überschritten die Brücke und traten zu den Leuten. Sie umgaben die Leiche, die nur nach dem Wasser hin frei lag; es war der Amerikaner. Ich ließ sie aus einander treten und führte den Gaukler dicht, unmittelbar an die Leiche.

„Heinrich Hochmann, kennen Sie diesen Todten?“

„Nein,“ sagte er, aber mit trocken angeklebter Zunge und die Augenlider zwinkerten ihm und die Lippen schienen leise zu beben.

„Besinnen Sie sich wohl, Hochmann. Eine Lüge kann hier eine schwere Schuld für Sie werden.“

„Nein,“ wiederholte er. „Ich kenne den Mann nicht.“ Und er konnte diesmal fester und freier sprechen.

Mit ihm war vor der Hand nichts mehr zu verhandeln. Ich ließ ihn zu einem ein paar hundert Schritte entfernten Pavillon des Parks abführen. Es mußte jetzt zunächst zur gerichtlichen Gewißheit erhoben werden, ob ein Verbrechen vorliege und von welcher Art. Aber vor allen Dingen mußte ich Anderes wissen.

„Ist der Freiherr wieder da?“ fragte ich einen alten Diener des Schlosses, der unter den Anwesenden war.

„Nein,“ war die traurige Antwort des alten Mannen.

„Auch keine Nachricht von ihm?“

„Nicht die geringste.“

„Was machen die Damen?“

„Der Herr Director können es sich denken.“

„Wissen sie von dem Auffinden der Leiche?“

„Ja.“

Die Leute des Schlosses standen alle mit traurigen, niedergeschlagenen Blicken da. Es war, als wenn sie Alle Theil an einem Morde hätten. Welches Zeugniß dafür, daß hier ein Mord verübt war, und zugleich gegen den Mörder! Als ich mit dem Seiltänzer anlangte und ihn zu der Leiche führte, mochte wohl in mancher Brust ein Hoffnungsstrahl aufzucken wollen; aber als der Mensch so entschieden leugnete, den Todten zu kennen, verschwand auch schnell der schwache Strahl wieder. Die feineren Zeichen, die für seine Schuld sprechen konnten, waren ihnen entgangen.

Es wurden folgende Thatsachen festgestellt: Beim Anbruche des Tages waren zwei von den Leuten den Schlossen auf den Gedanken gekommen, nach dem vermißten Schloßherrn im Alsbache zu suchen; es könne ihm in der Nacht ein Unglück zugestoßen sein.

Dreißig Schritte unterhalb der aus dem Park in das Feld führenden Brücke hatten sie im Wasser, und zwar am Parkufer, einen menschlichen Leichnam gefunden. Der Strom mußte ihn dahin getrieben haben; eine Weide, die mit ihren Zweigen weit in das Wasser hineinreichte, hatte ihn aufgehalten. Die Leiche war sofort für die des Amerikaners erkannt. Sie war übrigens mit dem braunen Rocke bekleidet, in welchem auch das Mädchen von der Seiltänzertruppe den Amerikaner gesehen hatte. Spuren einer Gewalt waren an ihr nicht zu finden. Nur in dem Innern der linken Hand war eine kleine, frische Wunde, ein Holzsplitter stecke noch darin.

Wie der Körper in das Wasser gekommen war? Die an sich so unbedeutende Wunde sollte darauf hinweisen. Nirgends am Wasser waren Spuren eines Kampfes oder Ringens, ober andere Fußtritte als von den Personen, die nach dem Schloßherrn gesucht hatten, zu entdecken. Aber die Brücke über den Fluß war mit einem hölzernen Geländer versehen, in welchem jedesmal einen halben Fuß von einander hölzerne Stäbe, oben zugespitzt, aufrecht standen. Unmittelbar an dem in der Mitte der Brücke befindlichen Thore, nach der Parkseite hin, war die Spitze eines dieser Stäbe abgebrochen, und der Holzsplitter in der Handwunde paßte genau zu dem Holze des abgebrochenen Stabes. Dort also – es war der nächste Schluß – auf der Mitte der Brücke war der Körper in das Wasser gelangt, über das Geländer hinüber; im Hinüberfliegen war die Hand mit dem Stabe in Berührung gekommen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_594.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)