Seite:Die Gartenlaube (1861) 612.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

gesehen. Sie sahen ja nur den wiedergefundenen Vater. Sie zogen ihn im Triumphe in das Haus, die Treppen hinauf. Ihr Jubel durchdrang noch das Innere des Hauses. Aber allmählich wurde er stiller und stiller. Der Vater hatte noch kein Wort gesprochen. Seine Hand hatte noch Keins von ihnen geliebkost. Da sahen sie nach seinem Gesichte; sie sahen, wie bleich, wie entstellt es war. Ihr Jubel wurde weniger laut. Als sie das Zimmer der Mutter erreicht hatten, war er ganz verstummt. Und mit bleichen und entstellten Gesichtern traten sie Alle, still, wie ein Leichenzug, zu der unglücklichen Frau. Sie war aufgesprungen. Auch sie sah nicht zuerst in sein Auge. Sie konnte es nicht, die liebende Gattin.

„Du bist kein Betrüger, kein Fälscher, Friedrich!“ rief sie.

„Hier ist der Beweis. Der Brief ist wieder da.“

Sie hielt ihm den Brief hin, den ich in der Kapsel des Amerikaners gefunden hatte. Er warf einen Blick auf das Papier.

Ich nahm die Hände der Kinder.

„Kommt, kommt! Laßt den Vater und die Mutter jetzt allein. Sie haben mit einander zu sprechen. Ihr sollt ihn nachher begrüßen.“

Sie verließen gehorsam das Zimmer. Als ich mich wieder umwandte, stand Holberg mit verhülltem Gesichte da. Betrüger und Fälscher war er nicht.

„Aber ein Mörder!“ rief er. „Ewiger Gott, warum mußte es sein?“

Auch er fragte es. Dann trat er zu seiner Frau.

„Ernestine, kannst Du dem Mörder verzeihen? Du, Du? Die Anderen dürfen es nicht. Aber Du darfst es. Kannst Du es auch?“

Sie lag schon an seiner Brust, sie hielt ihn mit ihren beiden Armen umschlungen.

„Friedrich, Dir gehört mein Herz, meine Liebe, mein Alles, bis zu meinem letzten Athemzuge.“

„Ich wußte es, mein braves Weib. Aber ich mußte es von Dir hören. Darum kam ich noch einmal hierher zurück.“

Er wandle sich zu mir. „Meine That – ich war nicht Herr meiner Vernunft und meiner Sinne, als ich sie verübte; da sie geschehen war, wie entsetzlich klar war es da auf einmal in mir! Für mich war Alles vorbei. Ich floh zur Stadt, zu Dir, nicht zu dem Freunde, zu dem Strafrichter. Du warst nicht da. Ich erfuhr, daß Du hier seist. Ich mußte das Wort Verzeihung von den Lippen meiner Gattin hören. Jetzt – Aber darf ich noch einmal allein auf mein Zimmer gehen, ehe Du mich verhaftest?“

„Geh!“ sagte ich unter einer entsetzlichen Ahnung.

Er ging. Ich nahm die Hand der Baronin. „Meine Freundin, fassen Sie sich.“

Auch sie hatte errathen, was ich ahnte.

„Muß es sein?“ fragte sie.

„Gott wird entscheiden.“

Wir horchten Beide mit angehaltenem Athem, mit klopfenden Herzen, mit zitternden Gliedern. Nach einer Minute fiel ein Schuß; in dem Zimmer des Schloßherrn.

„Es ist geschehen!“

Die Baronin sank vor dem Sopha auf die Kniee. Sie betete still. Es war geschehen. Warum mußte es so kommen? Ich hatte vorher gemeint, eine Antwort auf die Frage zu haben, aber kann der Mensch sich vermessen, auf die Frage zu antworten? Aber bedenken soll er immer und immer, und es sich tief und fest einprägen, daß der eine Fehler, sei er auch noch so klein und unbedeutend, so leicht weiter und weiter bis zuletzt in den Abgrund führt, und daß auch die edelsten Leidenschaften, wenn die Vernunft sie nicht zu zügeln versteht, den Weg zum Verbrechen und zum Verderben bahnen.






Eine Vorlesung von Charles Dickens.


Der Name Charles Dickens ist in der ganzen Welt mit Recht beliebt und geachtet; seine köstlichen Bücher sind fast ebenso wohl bekannt in Deutschland, wie in England, und wir lesen sie mit immer neuem Vergnügen, obwohl uns die Hälfte ihrer Schönheit entgeht, theils wegen der Übersetzung, theils weil wir nicht im Stande sind, ihnen volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nur wer lange in England gelebt hat, mit dem Volksleben vertraut und der englischen Sprache vollkommen mächtig ist, vermag zu beurtheilen, wie treffend und wahr seine Schilderungen englischer Zustände und Charaktere sind. Wir bewundern und lieben Dickens als den Schriftsteller des Volks, als den Verfechter des Fortschritts, der mit der scharfen und mächtigen Waffe des Humors schädliche Vorurtheile und Abgeschmacktheiten bekämpft und dessen Bücher sämmtlich von einem so reinen Geiste durchweht und trotz aller Schalkheit in einer Sprache geschrieben sind, die sie jedem Alter und jedem Geschlecht empfehlenswerth und zugänglich macht.

In England ist Dickens so populär, als nur immer ein Mann sein kann; allein natürlich nicht besonders beliebt unter den „obersten Zehntausend“ und den andern Tausenden, die sich an dieselben anhängen; Leute, die, wenn auch nicht das Bewußtsein, so doch stets eine Ahnung von ihrer eigenen Lächerlichkeit und Abgeschmacktheit, kurz sich selbst im Verdacht haben, „Futter für Humoristen“ zu sein.

Da wir Deutsche englische Sitten und Gebräuche mit deutschen Augen und Gefühlen ansehen, so wundern oder empören wir uns über manche Dinge, welche in England nicht den allergeringsten Anstoß, ja nicht einmal Verwunderung erregen.

Nicht nur auf mich, sondern auch auf viele andere Deutsche machte es stets einen peinlichen Eindruck, „anständige Männer“ Monate lang, Abend für Abend, dieselben Worte und Späße, dieselben Gebehrden wiederholen zu hören und zu sehen – einzig und allein um so schnell als möglich „Geld zu machen“. Ich muß gestehen, ich erröthete, als ich zuerst einer Vorlesung des berühmten Jägers Gordon Cumming beiwohnte. Ein großer Saal war mit all seinen afrikanischen Jagdtrophäen geschmückt; sein Reisewagen war aufgestellt; an dem einen Ende war eine Bühne; auf ihr erschien der schöne, stattliche Jäger in dem theatralischen Hochlandscostüm – das blanke Schwert in der Hand! Nachdem so jeder Anwesende für wenigstens zwei Pence von dem Eintrittschilling von seiner Person abgesehen hatte, stieg Herr Gordon Cumming auf eine Tribüne, die durch einen ungeheuern Elephantenschädel gebildet wurde, und während transparente Bilder erschienen, wiederholte er dieselben Geschichten, dieselben Scherze mehr als hundert Abende hintereinander. Verschwand er, um sich zu erfrischen, von der Bühne, dann machte sein Buschmann auf derselben seine Sprünge, und Beide schienen mir in dem Augenblick Wesen ganz derselben geistigen Ordnung.

Hier findet man an dieser Zurschaustellung der Person nichts Anstößiges, denn der Mann macht ja Geld! Freilich, so lange er Geld macht, ist er aus den höheren Kreisen der Gesellschaft ausgeschlossen, denn nur Geld haben ist aristokratisch, Geldverdienen plebejisch; allein man vergißt hier sehr bald, wie Geld gewonnen wurde, sobald es nur da ist. Was man aber nie vergißt und vergiebt, ist, kein Geld zu haben. Bei uns ist das einfach ein Unglück, in England ist es geradezu ein Verbrechen und zwar das größte, was noch hassenswerther und unanständiger als selbst Freigeisterei in religiösen Dingen ist; die Engländer schreiben nur G… statt Gott, um nicht geradezu einzugestehen, daß das Wort in ihrem Herzen meistens Geld ausgesprochen wird.

Wenn uns diese Art von Prostitution schon bei einem Mann wie Gordon Cumming auffällt, der doch nur ein „Gentleman“ und tüchtiger Jäger von nicht übertrieben feinem Gefühl ist, so berührt sie uns noch peinlicher, wenn wir sie von Männern ausgeübt sehen, die wir in Deutschland weit über den bloßen „Gentleman“ stellen, nämlich von talentvollen Schriftstellern. Albert Smith, zum Beispiel war ein solcher, und doch machte er Jahr aus Jahr ein alle Abende in einem aufgeputzten Locale dieselben alten Witze und erntete dafür alle Abende andere neue Schillinge, die sich bald zu Tausenden von Pfunden in der Bank anhäuften.

Als ich vor einigen Jahren hörte, daß Charles Dickens in der Art eines Schauspielers Scenen aus seinen eigenen Werken vorlese und zu diesem Ende überall in England umherreise, that


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 612. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_612.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)