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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Ruthen gepeitscht und mit Fackeln todtgeschlagen, man hat sie von Kirchthürmen gestürzt, in Masse abgeschlachtet, wie das Vieh, oder in unterirdischen Folterkammern schrecklich zu Tode gequält. Und sollten die Martergefängnisse für Ketzer in jüngster Zeit dort menschlicher eingerichtet gewesen sein, als wir sie in Neapel für politisch Verfolgte gefunden haben?

Mit der Wirksamkeit der Ketzergerichte begann in Italien eine allgemeine Flucht aller des neuen Glaubens Verdächtigen nach dem protestantischen Norden, und die Mehrzahl dieser Flüchtlinge mußte heimlich, bei Nacht und Nebel, oder unter mancherlei Verkleidung die Grenze zu erreichen suchen, denn den Ketzerrichtern lag vor Allem daran, Exempel zu statuiren, Vermögen zu confisciren und nebenbei Seelen zu retten durch Vernichtung der Leiber. Von den zahlreichen Massenverfolgungen erwähnen wir hier nur eine. Bis nach Neapel hatten die Waldenser sich ausgebreitet; dort lebten in drei Colonien (la Guardia, Baccarizza und San Sisto) ihrer etwa viertausend, von denen selbst katholische Stimmen urtheilten, daß sie „ein einfaches und unterrichtetes Volk“ seien, das sich ganz allein mit dem Spaten und dem Pfluge beschäftige und „auf dem Totbette sich ziemlich religiös gesinnt zeige“. Gegen diese Christengemeinden brach im Jahre 1560 die Verfolgung der Inquisition aus, königliche Soldaten mußten gegen sie marschiren, und selbst eingefangene Banditen und zum Tode verurtheilte Verbrecher begnadigte man zu einem „Kreuzzug gegen die Ketzer“, von dem sie straffrei heimkehren sollten. Und die Verbrecher kehrten heim, nachdem die armen Waldenser bis zum letzten Kinde hingemordet waren.

Während bei den heidnischen Christenverfolgungen wenigstens viele und oft lange Unterbrechungen von der einen zur andern stattfanden, gleichsam Ruhepausen zur Stärkung für den nächsten Sturm, gönnten die päpstlichen ihren Schlachtopfern unter sechs auf einander folgenden Regierungen (von Paul III., dem Vater der Inquisition, 1543, bis zu Gregor XIII., 1585) auch nicht einen Augenblick des freien Athemholens. Zu diesem ununterbrochenen Wüthen von der geistlichen Seite kam in Italien noch die Willfährigkeit der regierenden Fürsten und Herren in der Unterstützung der Kirchenmacht gegen die Städte, in welchen sich noch Reste der ehemaligen Freiheit erhalten und die sich eben deshalb zuerst der Reformation zugeneigt halten. Hier arbeiteten somit Hierarchie und Dynastie Hand in Hand, um dem Absolutismus eine feste Stätte zu gründen und jedes Zugloch irgendwelcher freien Einströmung unbarmherzig zu verstopfen.

Schutz von oben und dadurch die Kraft eines längeren Widerstandes gegen die Inquisition hatte der Protestantismus nur an zwei Punkten Italiens gewonnen: in Ferrara und Modena, das damals einen Staat bildete, und in der Republik Venedig. Dort war es Renata, die Tochter Ludwig’s XII. von Frankreich und Anna’s von der Bretagne, welche, längst dem Protestantismus heimlich zugethan, allen Einfluß auf ihren Gemahl, den Herzog Hercules von Este, aufbot, um die Ketzergerichte von den Grenzen ihres Landes zurückzuhalten; und hier, in dem großen Seehandelsplatze, in welchen der Verkehr Völker aller Nationen zusammenführte, mußte schon die Klugheit ausgedehnte Toleranz gegen Andersgläubige gebieten. Doch lange währte die Duldung an beiden Orten nicht. In Ferrara starb Herzog Hercules im Jahre 1559, und Renata, deren guter Geist schon vorher dem Andringen des römischen Hofs hatte weichen müssen, verließ das arme Land, das plötzlich alle Blüthen der Künste und Wissenschaften von den Pfaffenhänden verwüsten sah, und kehrte nach Frankreich zurück, wo sie 1575 zu Montargis als Protestantin starb. In Venedig aber schlich nun in mancher Nacht das Gondelpaar, zwischen welchem auf einem Brete das Opfer der Inquisition saß, aus dem schmalen Canale unter der Seufzerbrücke hervor und übergab den Lagunen ihre Beute. Wie viele Verbrechen bedecken dort die ewig schweigenden immergrünen Fluthen!

Ganz im Geheimen blieb in Venedig der Protestantismus noch bis in das erste Viertel des 17. Jahrhunderts hinein am Leben, ja, er trat sogar noch einmal entschieden hervor, als es galt, den Anmaßungen des heiligen Stuhls unter Paul V. mit aller Macht entgegen zu treten. Damals (im Jahre 1611) durfte der gelehrte Servitenmönch Paoli Sarpi als theologischer Berather der Republik äußern: „Nichts ist wichtiger, als das Ansehen der Jesuiten zu vernichten. Sind sie gestürzt, so stürzt Rom, und ist Rom verloren, so wird die Religion von selbst sich erneuern … Die Inquisition wird aufhören und das Evangelium emporsteigen!“ – Aber erst dritthalbhundert Jahre später sollte dieses prophetische Wort seiner Erfüllung am nächsten sein.

Als endlich auch Venedig den offenen Kampf gegen die römische Hierarchie aufgegeben hatte, schien der Stern der neuen Lehre vom italienischen Himmel ganz verschwunden; denn die wenigen evangelischen Gesandtschaftscapellen, welche man zu unterhalten gestattete, waren deshalb ohne alle Bedeutung für einen „italienischen Protestantismus“, weil kein Italiener sie besuchen und weil der Gottesdienst nicht in italienischer Sprache begangen werten durfte. Und dennoch schimmerte am äußersten Horizont Italiens noch ein Strahl von jenem Stern des Glaubens: ein armes Bergvölklein wagte es, mit der einzigen Waffe des Gottvertrauens dem geistlichen Weltgebieter in Rom zu trotzen.

Die Waldenser sind diese Glaubenshelden. Sie gehören zu den Vorläufern der Reformation, die Zeit ihrer Entstehung versetzt man am wahrscheinlichsten in das 12. Jahrhundert, für ihren Stifter hält man den Lyoneser Petrus Waldo und sie selbst für dieselben „Armen von Lhon“ (Pauperes de Lugdumo), welche in Böhmen als „Piccarden“, in Straßburg als „Winkler“ bekannt waren und deren Vorposten bis nach Arragonien und Unteritalien vordrangen. Ihrer Ausrottung im Neapolitanischen haben wir oben gedacht. In Oberitalien hatten sie ihre festen Sitze in Piemont, wo sie sich seit dem dreizehnten Jahrhundert in den drei Thälern von Luserna, Perosa und San Martino behaupteten. Ursprünglich bestand zwischen den Waldensern und der herrschenden Kirche keine Trennung in den Glaubenssätzen und dem Kirchendienste; heilig war ihnen die Messe und die Ohrenbeichte, die Siebenzahl der Sacramente und die Brodverwandelungslehre, die Ehelosigkeit der Priester und das Armuthsgelöbniß derselben; aber für unheilig erklärten sie das Leben des Klerus, wie es allenthalben ohne Scheu sich zeigte. Nicht am Glauben, sondern an den Glaubenshütern waren sie irre geworden, und erst durch den Kampf mit der Geistlichkeit bis hinauf zum Haupt der Kirche und durch die Verfolgungen, die sie wegen dieses Kampfes zu erdulden halten, wurden sie zum Forschen in der Schrift und zum Neubau eines gereinigten Christenthums hingelenkt. Als nun bis zu diesem armen Bergvölkchen, diesem „Israel der Alpen“, die frohe Mähr von dem Siege einer großen Kirchenreformation in Deutschland und der Schweiz drang, da verlangte es nach einem Boten der neuen Lehre und schloß sich, nachdem Farel aus der Schweiz zu ihm gekommen war, dem reformirten Glaubensbekenntniß an.

Durch diesen Schritt lenkten die Waldenser den Lauf der großen Ketzerverfolgung auf ihre Spur. Ihre Heimath ist ein Grenzland, das bald der savoyischen, bald der französischen Herrschaft unterworfen, bald zwischen beiden getheilt war; je nach der Theilnahme der einen oder beider Mächte an der Ketzer-Unterdrückung richtete sich der Erfolg derselben. Immer aber führten diese Männer der Berge das Schwert wie Helden. Nach langem Kampfe sah schon Herzog Emanuel Philibert von Savoyen sich bewogen, am 5. Juni 1561 die sogenannte „Capitulation von Cavour“ mit ihnen abzuschließen, die ihnen innerhalb ihrer drei Thäler freie Religionsübung und dazu Verkehrsfreiheit mit ihren katholischen Nachbarn zusicherte. Wieviel jedoch eine solche Zusicherung in jener Zeit werth war, zeigte sich bald genug. Die Worte des Vertrags ließ man bestehen, gab es doch für immer neue Quälereien der der Macht einmal Verhaßten tausend andere Wege. Jede Grenzveränderung zwischen Frankreich und Piemont bot dem geistlichen wie dem weltlichen Arme willkommene Gelegenheit, zahlreiche Familien, ja ganze Gemeinden der Waldenser von Haus und Hof, von Hab und Gut zu vertreiben; bald ging die Flucht nach Frankreichs, bald nach Savoyens Grenzpfählen, und selten fanden die Verfolgten anderen Schutz, als auf dem Schweizerboden.

Eine allgemeine Hetze, abermals ein römischer Kreuzzug, ward im Jahre 1655 über sie verhängt. Alle Grausamkeit der Kriegsknechte, für welche der kaum beendigte Dreißigjährige Krieg eine so entsetzliche Schule gewesen war, schien hier noch einmal austoben zu wollen, ja, so unerhörte Gräuel wurden begangen, daß der Weheschrei aus jenen Alpenthälern das ganze protestantische Europa aufschreckte. Dem entschiedenen Mahnruf desselben gelang es, selbst einen Ludwig XIV. zu einem Einspruch gegen das Wüthen der Piemontesen zu vermögen; die Waldenser wurden in alle Rechte, die sie vor dem Vernichtungskriege besessen, wieder eingesetzt, und aus allen protestantischen Ländern flossen ihnen Gaben zum Wiederaufbau ihrer Wohnstätten und Kirchen zu.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_616.jpg&oldid=- (Version vom 15.10.2022)