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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Diesmal hatte das gegebene Fürstenwort eine Dauer von zwanzig Jahren, doch derselbe Ludwig XIV., der hier den Frieden gestiftet, warf dieselbe Brandfackel, mit welcher er eine halbe Million seiner edelsten Bürger aus Frankreich vertrieb, auch in die Hütten der Waldenser; auf sein drohendes Gebot erließ Herzog Victor Amadeus II. am 31. Januar 1686 ein Edict, durch welches aller öffentliche und geheime nichtkatholische Gottesdienst bei Vermögens- und Todesstrafe untersagt und zugleich die Zerstörung aller Gotteshäuser, die Landesverweisung aller Geistlichen und Lehrer und die Taufe aller Kinder der Waldenser durch katholische Priester angeordnet wurde. Das war der italienische Wiederhall der Aufhebung des Edicts von Nantes!

Vergebens drangen Bitten und Fürbitten in den Herzog um Zurücknahme seines Befehls; er blieb für jeden bessern Einfluß verschlossen. Ebensowenig waren die Waldenser zur Auswanderung in Masse zu bereden, wozu namentlich die schweizerischen Glaubensgenossen aufgefordert hatten. Sie griffen zu den Waffen, mit dem heldenmütigen Entschluß, ein Häuflein von kaum zweitausend Männern, gegen zwei Heere, ein französisches und ein savoyisches, die von West und Ost gegen die Thäler heranrückten, um des Glaubens willen den Kampf zu bestehen. Da schien in dem Herzog das Gewissen erwacht zu sein, er beredete mit wahrhaft fürstlichem Aufwand von Versprechungen die aufgestandenen Schaaren zu einer vertrauensvollen Uebergabe, und als nun, nach drei bangen Tagen, die Waldenser voll Vertrauen die Waffen strecken, da wanderten sie, gegen vierzehntausend an der Zahl, ohne jede menschliche Rücksicht auf Alter und Geschlecht, in die Kerker der Festungen, um dort dem Bekehrungseifer eines vorsorglich zusammengezogenen Schwarms von Priestern und Mönchen überliefert zu werden.

Und wie müssen die Bekehrungsmittel dieser heiligen Männer beschaffen gewesen sein! Denn als endlich abermals der Einspruch protestantischer Fürsten und der schweizer Glaubensgenossen wenigstens so viel Gehör bei dem Herzog fand, daß er die Waldenser zur Uebersiedelung nach dem Norden der Alpen frei gab: welche Gestalten krochen aus den Gefängnissen hervor, und wie war ihre Zahl zusammen geschwunden! Arm und bloß, wie sie den Kerker verließen, wankten sie dem Mont Cenis zu; aber trotz aller Sorge und Pflege der Schweizer, die dem Trauerzuge bis Susa und Lans-le-Bourg mir Kleidern, Brod, Wein und Bibeln entgegeneilten, fanden in Genf von jenen vierzehntausend Waldensern nur dreitausend sich wieder. Die andern waren den Kerkern, Bekehrungen und den Alpen erlegen.

Von diesen Waldenser Emigranten siedelten die meisten sich im Brandenburgischen an, wo auch die gleichzeitig vertriebenen französischen Emigranten das freudigste Willkommen empfing. Kleinere Gruppen suchten sich im übrigen Deutschland und in den Niederlanden eine neue Heimath zu gründen; eine nicht geringe Zahl hatte sich von der heimathlichen Natur der Schweizerberge nicht trennen können, und diese pflanzen bald neue Reiser in die verödeten Thäler.

Während nämlich Rom frohlockte über die nun erst vollständige Niederlage der Ketzer in Italien, rüsteten, von unwiderstehlicher Sehnsucht nach ihren Bergen getrieben, Hunderte von Waldensern sich zur gewaltsamen Heimkehr, und zwar ganz in’s Geheim, denn die protestantischen Mächte hatten sich verpflichtet, ihnen jede Rückkehr unmöglich zu machen. Wirklich waren im Jahre 1687 dreihundert und im Juni 1689 siebenhundert derselben durch die Regierung von Bern von der Ausführung ihres Vorsatzes zurückgehalten worden. Am 16. August desselben Jahres gelang es jedoch einer Schaar von neunhundert Männern, das savoyische Ufer des Genfersee’s zu erreichen und sich durch die französische Besatzung der Festung Echelles durchzuschlagen. Ihr Führer war Heinrich Arnaud, ein waldensischer Geistlicher; ihm folgten am 27. August noch siebenhundert Mann in das Thal San Martino, wo sie sich auf einem Hügel verschanzten und den mächtigen Schutz eines früh einfallenden Winters fanden. Desto verzweifelter wurde ihre Lage im kommenden Frühling; französische und piemontesische Truppen besetzten die beiden Ausgänge des Thales und sperrten sie somit sämmtlich ein. Zwar schlug die kleine Schaar einen Sturm dieser Uebermacht zurück, würde aber dennoch erlegen sein, wenn sie nicht das Ungeheure gewagt hätte, unter dem Schutze eines dichten Nebels die steile Felswand hinter ihrem Lager zu erklimmen, auf welcher sie zu den Höhen von San Giovanni gelangte. Hier erreichte die geretteten Männer eine Botschaft des Herzogs, die ihnen Frieden und Freundschaft antrug. Freudig ergriffen sie die dargebotene Hand, neu gestärkt fielen sie über die Franzosen her, schlugen und verfolgten sie bis auf französischen Boden. Dieser Sieg vollendete das neue herzliche Einverständniß zwischen dem Herzog, der damals den Versuch machte, das französische Gängelband abzuschütteln, und den Waldensern, denen nun alle Gefängnisse sich öffneten und deren Lieben aus allen Fernen wieder der Heimath zueilen. Arnaud erhielt sogar den Rang eines Obersten in der Armee des Herzogs.

Das Edict, welches nicht nur allen Waldensern die Religionsfreiheit wieder gab, sondern auch einer großen Anzahl französischer Protestanten die Niederlassung bei ihnen gestattete, ward von Victor Amadeus am 23. Mai 1694 unterzeichnet. Es schließt allerdings die blutigen Verfolgungen in diesen Thälern ab. Mit der Rechtlosigkeit der Ketzer blieb es trotz alledem beim Alten, denn schon am 29. August 1696 unterzeichnete derselbe Herzog den geheimen Tractat von Turin, in welchem er sich Ludwig XIV. gegenüber verpflichtete, in allen von Frankreich an die Krone Savoyen abzutretenden Ländern nur katholische Bewohner zu dulden und alle französische Protestanten und Waldenser aus den savoyischen Thälern zu verbannen. Letzteres Loos traf mit dreitausend Unglücksgenossen auch den kaum erst fürstlich gefeierten Arnaud. Die sogenannten „wälschen“ Gemeinden des östlichen Schwarzwaldes verdanken diesen Auswanderern ihre Entstehung.

Ein eigenthümliches christliches Liebeswerk bildet die Sammlung aller gegen die Waldenser erlassenen Edicte, die im Jahre 1740 veröffentlicht wurde, offenbar um diese zum Theil damals in glückliche Vergessenheil gerathenen Gewaltgesetze der Nachachtung wieder eindringlicher zu empfehlen. Am scheußlichsten erscheint darin ein Edict von 1655, nach welchem den Waldensern ihre Kinder weggenommen werden können, im Fall diese katholisch werden wollten, und dazu erklärt dieses Gesetz für eine solche Selbstbestimmung bei Mädchen ein Alter von 10, bei Knaben von 12 Jahren für genügend!

Während des ersten französischen Kaiserreichs herrschte in diesen Ländern allgemeine Religionsfreiheit; diese wich der Restauration aller alten Zustände, als Victor Emanuel I. als König von Sardinien wieder in Turin einzog. Auch jene Edicte gegen die Waldenser erhielten frische Kraft; ja, sie blieben selbst nach dem Regierungsantritt Karl Albert’s (1831) bestehen. Noch im Jahre 1834 suchte der Bischof von Pinerolo sie in ihrem ganzen Umfange wieder zu Ansehen zu bringen, namentlich kam der „Kinderraub“ in eine wahrhafte Blüthe. Zu Pinerolo bestand ein besonderes Ospizio dei Catacumeni für Waldenserkinder, um deren Rückgabe die Eltern vergeblich alle Mittel versuchten; wohlhabende Waldenser mußten sogar noch ansehnliche Pensionen für die katholische Erziehung ihrer geraubten Kinder bezahlen! Auch alles Besitzthum außerhalb der drei Thäler wurde ihnen von Neuem unmöglich gemacht; kurz, die Bedrängniß des protestantischen Bergvolkes erreichte wieder einen Grad, der ihm abermals die Aufmerksamkeit und Theilnahme des protestantischen Auslandes zuwandte; vor Allen bot Preußens König, der noch im Jahre 1837 den vertriebenen Zillerthalern eine neue Heimath in Schlesien zugewiesen hatte, auch den Waldensern einen sicheren Raum in seinen Staaten an. Diese beharrten jedoch auf dem Boden ihrer Väter, und ihre Heimathtreue ward endlich belohnt.

Die großen Bewegungen in Italien, von jenem 16. Juli 1846 an, wo Pius IX. den Stuhl Petri bestieg, bis heute sind vor Aller Augen vorübergegangen. Wir Alle sahen, daß auch in Italien nur eine glückliche Dynastie es vermochte, dem gebundenen Volke die römischen Fesseln zu zerschlagen. Und es währte lange, bis man in Turin zu der Einsicht gelangte, daß die Befreiung des Gewissens eine große That sei. Mußten doch erst Männer wie R. Azeglio, Graf Cavour und Cesare Balbo ihre gefeierten Namen an die Spitze einer Adresse an den König stellen, ehe auch den armen Waldensern ihr Recht werden konnte. Sogar die von Karl Albert gewährte Verfassung vom 29. Januar 1848 erklärte noch „die katholische apostolische römische Religion“ für die herrschende Religion des Staats, neben welcher alle übrigen Culte nur geduldet werden sollten „nach Maßgabe der bestehenden Gesetze“ – d. h. für die Waldenser nach der Edictsammlung von 1740! – Aber schon am 17. Februar schlug die Stunde des Triumphs für die standhaften Dulder; ein königlicher Erlaß verlieh ihnen alle bürgerlichen und politischen Rechte der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_617.jpg&oldid=- (Version vom 15.10.2022)