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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Gesangsübung auf, die sie von ihm zu hören bekamen. Nichts natürlicher, als daß der junge Mann die Ueberzeugung seiner Eltern und Verwandten theilte, sich zufrieden in seinem künftigen Glücke wiegte und die Aufmerksamkeiten und Huldigungen, welche ihm zu Theil wurden, so wie die schweren Opfer, welche sein arbeitsamer Vater ihm brachte, wie etwas ihm Gebührendes hinnahm. Er erlaubte sich Ausgaben für seine Unterhaltung, von denen ihn die Anstrengungen seines Vaters hätten zurückhalten sollen. Um die Zeit, als der Dünkel Gustave’s und sein Ansehen in der Familie den höchsten Grad erreicht hatten, bezogen Frau Anne Roussel und ihre Tochter Celestine eine Stube, welche der Tischler vermiethete.

Frau Roussel hatte schwere Kämpfe mit dem Schicksal bestanden. Früh verwittwet und auf sich allein angewiesen, war sie außer Stande, für ein kleines Kind, die Frucht ihrer Ehe, zu sorgen, an dem sie liebend hing. Zu ihrem Schmerze mußte sie sich von ihrem Kinde trennen. Sie that es in ein Unterstützungshaus (Salle d’asile), wo die kleine Celestine bis zu ihrem zwölften Jahre blieb und in allen einem Weibe nöthigen Kenntnissen und Fertigkeiten unterwiesen wurde. Nachdem später das Kind aus der Anstalt getreten war, lernte es künstliche Blumen machen und fand kurz darauf in dem bekannten Hause Labitte, Rue Richelieu, das dergleichen Blumen, die keinen Frühling kennen, verkauft, als Ladenmädchen ein vortheilhaftes Unterkommen. Nicht lange, so schwang sie sich zur ersten Verkäuferin auf und erhielt nebst der Verköstigung 100 Franken monatlich. Da sie sich in ihre Aufgabe trefflich zu schicken wußte, sich thätig und eifrig im Geschäfte erwies, die Käufer aus allen Weltgegenden mit Takt zu behandeln und einzunehmen wußte, worauf die Handelsleute zu Paris einen besonders großen Werth legen, wurde sie von den Eigenthümern des Geschäftes mit Geschenken und Aufmerksamkeiten aller Art überhäuft und hatte eine Stellung, die Vielen beneidenswerth erschien.

Ohne schön zu sein, war Celestine um die Zeit, als sie mit ihrer Mutter die Stube beim Tischler bezog, eine angenehme frische Erscheinung mit lebhaften schwarzen Augen und von aufgewecktem Geiste. Sie befliß sich, ja sie befliß sich zu sehr eines feinen, ausgezeichneten Benehmens und redete in Ausdrücken, wie sie in Eug. Sue und Balzac gelesen.

Sprachen Gustave und Celestine mit einander von Kunst und Künstlern, von Dingen, die er aus dem Verkehr mit den andern Zöglingen des Conservatoriums oder durch die Vorträge der Professoren, sie aus ihren Romanen kannte, dann horchte die schlichte Gesellschaft beim Tischler mit einer um so größeren Bewunderung auf die Bemerkungen von beiden Seiten, je unverständlicher sie ihnen waren. Und in den Blicken der guten Leute sprach sich die Ueberzeugung aus, daß die Zwei für einander wie geschaffen seien.

In der That wirkte der angehende Künstler von vortheilhaftem Aeußern, der so selbstbewußt auftrat, dessen Fähigkeit von seiner ganzen Umgebung angestaunt wurde, auf die Einbildung des Ladenmädchens, das sich ihn zu einem Romanhelden ausdehnte und ausschmückte. Andrerseits wurde sie von dem Zögling des Conservatoriums einiger Aufmerksamkeit würdig befunden, weil sie sich von den Anderen im Hause durch Eleganz und Bildung vortheilhaft unterschied und weil er doch, wie er sich in seiner Selbstüberhebung ausdrückte, mit ihr reden konnte. Seine Hinneigung zu Celestinen ging so weit, daß er, freilich nur auf Augenblicke, den Vorzug des Künstlers, dem Tausende entgegenwinken, vor einem Ladenmädchen vergaß, das für 1200 Franken jährlich Blumen anrühmt und verkauft.

Mit lebhafterer Theilnahme als alle Anderen beobachtete und verfolgte Frau Roussel die Entwickelung eines innigeren Verhältnisses zwischen Gustave und ihrer Tochter. Anne hatte nämlich in früheren Jahren den Soufleur der großen Oper bedient, der äußerst redselig der staunenden Frau von den Schätzen erzählte, „die in den Kehlen der Sänger und Sängerinnen stecken,“ und der häufig, wenn er seiner Baarschaft beim Weinhändler arg zugesetzt hatte und sich in Geldverlegenheit befand, zu der Aufwärterin darüber klagte, daß ihn Gott nicht mit einer Tenorstimme gesegnet habe, die ihm, wie etwa Herrn Roger, 100,000 Franken jährlich einbrächte und es ihm möglich machte, sorglos seinen Vergnügungen nachzugehen.

Auf Erden aber ist kein Glück und selten eine Hoffnung ungetrübt. Vor dem Sonnenschein im Hause des Tischlers schwebte eine düstere Wolke; an die glänzenden Erwartungen hängte sich eine ernste Besorgniß. Einige Monate vor den Prüfungen im Conservatorium finden auf dem Stadthause die Rekrutenverloosungen statt. Und Gustave war dasselbe Jahr zu ziehen verpflichtet. „Wie, wenn ihm der Zufall ein schlimmes Loos in die Hände spielte? Wer wird ihm bei den beschränkten Vermögensverhältnissen seiner Eltern einen Stellvertreter kaufen, um ihm die Unterbrechung der vielversprechenden Laufbahn zu ersparen?“ lauteten die quälenden Fragen, die man in dem Kreise stellte, dessen Mittelpunkt der junge Sänger war. Gustave selbst, obgleich sonst leichtfertig und ernsten Gedanken wenig zugänglich, zeigte sich bekümmert, wenn von seiner Militärpflichtigkeit die Rede war.

Je näher der Tag rückte, an welchem das Loos über das Schicksal des angehenden Künstlers entscheiden sollte, desto stiller wurde es in dem Hause des Tischlers, desto gespannter wurden die Gemüther daselbst.

Auf den 30. März war die Rekrutenverloosung, auf den 12. Juli die Untersuchung der dem Militärdienst Verfallenen und zugleich die Gesangprüfung im Conservatorium festgesetzt.

Als am Morgen des 30. März 1853 Gustave aus dem Hause ging, um sich zur Ziehung zu begeben, konnte der Tischler vor Aufregung gar nicht arbeiten, mit zitternder Hand legte er den Hobel bei Seite. Klopfenden Herzens, eine Thräne im Auge, unbeweglich sah der Arbeiter seinem dahinschreitenden Sohne eine Weile nach. „Möchte es gelingen!“ murmelte er vor sich hin. Und als der Sohn ihm aus dem Gesichte war, suchte er sich zu fassen und fing wieder zu Hobeln an. Frau Freminet betete und weinte im Verborgenen.

Gegen 1 Uhr Nachmittags kehrte Gustave zurück, mühsam sich dahin schleppend, als trüge er ein Kreuz, er sah blaß, sein Auge blickte düster, man konnte ein leises Zittern seiner Lippen bemerken. In seinen Zügen stand es geschrieben, daß er ein schlechtes Loos gezogen hatte.

„Du hast Unglück gehabt, Gustave!“ sagte der Tischler, als der junge Mann in die Werkstatt trat. Er legte das Werkzeug, mit dem er gearbeitet hatte, wieder aus der Hand und indem er sich den Schweiß vom Gesichte wischte, setzte er sich auf einen Stuhl, was er niemals während der Arbeitszeit that. Die Tischlerin entfernte sich, um ungestört zu weinen.

Kaum jedoch war die Heftigkeit des ersten Eindrucks überwunden, als schon die Betrübten nach einem Trost, nach einem Mittel zur Abhülfe suchten. Es wurde darüber Rath gehalten, wie das Geld zum Ankauf eines Stellvertreters herbeigeschafft werden könnte. Der Eine schlug eine Bittschrift an den Kaiser vor, der Zweite machte auf die Hülfsvereine aufmerksam, die doch unterstützen, wo sie können, der Dritte stimmte für einen Anfruf in den Zeitungen an Freunde und Beschützer der Künste etc. Zuletzt nahm Frau Roussel das Wort, welche vorher den Gegenstand mit dem Soufleur der großen Oper besprochen hatte. „Nach der Ansicht eines Sachkenners,“ sagte sie, „könnte Herr Freminet, der doch ein Künstler ist, nichts Besseres thun, als sich an Seinesgleichen, d. h. wieder an Künstler, mit der Bitte wenden, daß sie in einem Concert mitwirken, dessen Ertrag zu seiner Befreiung vom Militärdienst anzuwenden wäre.“ Der Vorschlag wurde von der ganzen Gesellschaft, ganz besonders aber von Gustave vortrefflich befunden und einstimmig angenommen.

Nach einigen Wochen fand das Concert in der That statt, und da sich musikalische Berühmtheiten zur Mitwirkung herbeiließen, wurde die erforderliche Summe geliefert.

Seit dem Tage, als Gustave das verhängnißvolle Loos gezogen hatte, und seine Hülflosigkeit ihm deutlich wurde, konnte man an ihm mehr Ernst und weniger Selbstvertrauen denn bis dahin bemerken. Als er am 12. Juli endlich vor den Untersuchungsrath trat und zum Militärdienst tauglich erklärt wurde, fiel aber sein ganzer Stolz zusammen. Er hatte von dem aus den Concerten gewonnenen Geldern bedeutende Summen zu allerlei Ausgaben verwendet, er wußte nicht, wie das Deficit ersetzt werden sollte, und ging trübe gestimmt und sorgenvoll direct vom Stadthause in das Conservatorium, wo heute die Hauptprüfung stattfinden sollte.

War die trübe Aussicht, war Müdigkeit, war Unsicherheit der Stimme überhaupt daran schuld: die Töne, welche Gustave vorbrachte, waren klanglos, schwankend, falsch sogar; er hörte es und rang nach besserer und richtigerer Anstimmung; allein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_634.jpg&oldid=- (Version vom 18.10.2022)