Seite:Die Gartenlaube (1861) 692.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Anfang sie nicht kannte und dessen Ende sie nicht errathen mochte; der Mann, welcher hier Herr war, der Mann mit dem festen, bestimmten Blicke, wandelte nicht, als müsse er jeden seiner Schritte verbergen, Nachts zu einem Orte der Klage, wenn dort nicht ein großer, verborgener Schmerz für ihn selbst lag, und als ihr die kalten, unfreundlichen Gesichter der beiden Frauen im Hause, die vernachlässigten Kinder und die sichtliche Abgeschlossenheit des Hausherrn vor die Seele traten, meinte sie so voll mit diesem fühlen zu können, als liege Alles, was ihn bedrücke, in völliger Klarheit vor ihr.

Noch am andern Morgen, als sie erwachte, stand das Bild des vergangenen Abends in ungeschwächter Deutlichkeit vor ihr, und unwillkürlich war sie an das Fenster getreten, um bei Tageslichte den Schauplatz zu mustern. Hinter dem Hause, wohin sich Lucy’s Zimmer öffneten, stand an der Grenze einiger einfachen Gartenanlagen ein unscheinbares kleines Gebäude, das möglicherweise zu einer Art Pavillon bestimmt gewesen, in seiner jetzigen Erscheinung und abgelegenen Stellung aber von Lucy gänzlich übersehen worden war; dennoch erhielt es durch den dicht dahinter beginnenden schattigen Obstgarten seinen Reiz, und als das Mädchen den kleinen Richard, welcher, kaum daß er ihr Bett leer bemerkt, ihr nachgefolgt war, auf den Stuhl neben sich klettern sah, sagte sie, von einer unbezwinglichen Neugierde getrieben, und doch durch eine eigene Scheu von einer directen Frage abgehalten: „Was für ein niedliches kleines Haus, mitten im Grünen! wer wohl dort wohnen mag?“

Der Knabe war mit dem Auge ihrem halben Fingerzeige gefolgt und sagte dann mit dem eigenthümlichen Ernste, welcher Lucy so sehr an seines Vaters Gesicht gemahnt: „Dort wohnt Mary!“

„Mary!“ wiederholte das Mädchen, „wer ist Mary?“

„Mary ist Mary, und Tante Lowell sagt, sie sei verrückt!“ erwiderte der kleine Befragte mit ungestörtem Ernste; durch Lucy’s Seele aber zuckte das letzte, unerwartete Wort in einer Art von Schmerzempfindung, die gehörten Klagetöne wurden plötzlich wieder in ihren Ohren lebendig, und die ganze nächtliche Scene erhielt eine noch dunklere Färbung. Es war ihr wie eine Erleichterung, als das gutmüthige Gesicht der alten Flora sich in der Thür zeigte, um nach den Kindern zu sehen und „Miss Lucy“ zu benachrichtigen, daß sie den Major in seinem Zimmer finde, sobald sie ein Gespräch mit ihm zu haben wünsche; trotzdem aber drängte es sie zugleich, sich wenigstens so viel Aufklärung zu verschaffen, als sich, ohne das zu verrathen, was sie erlauscht, thun ließ. Sie sandte den Knaben nach seinem Bett zurück, bis sie komme, um ihm beim Ankleiden zu helfen, und musterte dann vor dem Spiegel ihren Anzug. „Ich glaubte schon alle Hausgenossen zu kennen,“ begann sie leicht hingeworfen, „Richard! erwähnt da aber soeben einer Mary –“

„Hat er noch an sie gedacht? Gott segne das Kind, Gott segne es!“ erwiderte die Mulattin, wie in einem unwillkürlichen Gefühlsausbruch; dann aber begann es, als habe sie zu viel gesagt, wunderlich in ihrem Gesichte zu zucken. „Es ist Niemand Besonderes, Ma’am, durchaus nicht, Ma’am,“ fuhr sie fort, einen gewaltsamen Versuch machend, ihre rebellischen Mienen zur Ruhe zu bringen, „es ist nur meine Tochter, Ma’am, wenn sie auch so weiß ist, daß man ihr kaum das schwarze Blut noch ansieht – sie ist krank, wissen Sie, Ma’am, und so werden Sie sie wohl nicht gleich zu Gesicht bekommen –“ und noch immer zuckte es um Auge und Mund der Alten, daß Lucy sich wegwenden mußte, um nicht von deren sichtlicher Verlegenheit, so sonderbar sich diese auch ausdrückte, selbst angesteckt zu werden. Sie schnitt die Scene mit dem Auftrage an die Farbige ab, sie beim Major anzumelden, dann aber bis zu ihrer Rückkunft bei den Kindern zu bleiben, und schritt endlich, ohne sich der sonderbarsten neu aufsteigenden Gedanken über die Natur der belauschten Scene erwehren zu können, nach dem ihr bezeichneten Zimmer hinab.

Major Wood saß, eine ganz verschiedene Erscheinung von der, welche dem Mädchen auf dem Felde entgegengetreten war, in elegantem Morgenanzuge an einem Tische mit Papieren und erhob sich bei Lucy’s Eintritt, um einen Stuhl für sie herbeizuholen.

Unwillkürlich warf diese einen forschenden Blick in sein Gesicht; in tiefen zwar bleichen, aber so sicher ausgeprägten Zügen, daß sich kaum ein anderer Ausdruck darin denken ließ, deutete indessen keine Spur auf eine Erregung, wie sie Lucy am Abend zuvor darin zu sehen geglaubt, und als er das Auge auf sie richtete, dieses eigenthümliche Auge, das sich stets bis in ihr Allerinnerstes zu senken schien, meinte sie fast, die nächtliche Scene nur geträumt zu haben.

„Sie wollten mich schon gestern sprechen, Miß Hast,“ begann er leicht, als Beide einander gegenüber saßen, „und es thut mir leid, daß meine Zeit mir nicht erlaubte Ihnen zu willfahren – indessen ist ja wohl nichts dabei verloren worden!“ setzte er nachlässig hinzu, und dem Mädchen that der Ton der letzten Worte, welcher selbst die halbe Entschuldigung wieder zu beseitigen schien, fast weh.

„Sie haben jedenfalls das Recht mich zu empfangen oder abzuweisen, Sir!“ erwiderte sie und blickte zu Boden. Einige Secunden wartete sie vergebens auf die Fortsetzung seiner Rede, aber sie meinte seinen Blick auf sich ruhen zu fühlen und scheute sich aufzusehen.

„Sind Sie empfindlich, Miß?“ hörte sie endlich seine Stimme, aber ein so sonderbarer Ton klang darin, daß sie rasch das Auge hob und dem Blicke des seinigen voll begegnete.

„Vielleicht, Sir, aber wohl nur, wo ein aufrichtiges, warmes Interesse in mir verletzt wird!“ erwiderte sie ruhig, und vor dem klaren Ausdrucke ihres Blicks senkte sich einen Moment der seinige.

„So – nun, so darf ich ohne Redensarten weitersprechen!“ begann er wieder, sich leicht zurücklehnend. „Ich gestehe Ihnen, daß ich etwas von den ersten Scenen erwartete, welche Ihrem Eintritte in mein Haus folgten, daß ich mir aber die Gelegenheit nicht selbst rauben wollte, einen Blick in Ihr Wesen zu thun, der mich bei den obwaltenden Verhältnissen kaum trügen konnte, und ich ließ Sie deshalb, soweit als angänglich, auf sich selbst angewiesen. Ich gestehe Ihnen ebenso, daß ich mit einer andern Persönlichkeit wohl nicht in gleicher Weise verfahren haben würde; Ihr offenherziger Brief aber hatte mich so angesprochen, daß ich meine Kenntniß Ihres Charakters in der kürzesten Weise zu vervollständigen wünschte; und wenn Sie dies wieder beleidigen sollte, so muß ich Ihnen wenigstens sagen, daß sich dadurch unser künftiges Verhältniß, so weit es mich betrifft, schnell festgestellt hat.“ Er machte, wie eine Aeußerung erwartend, eine Pause.

„Ich kann Ihnen nur für die Offenheit danken, mit welcher Sie mir entgegen treten!“ erwiderte das Mädchen, während sie einem sonderbaren Zwiespalte in ihrem Inneren nicht zu gebieten vermochte; die ungewöhnliche Weise dieses Mannes, sein eigenthümliches Verachten aller Umschweife übten eine Art fesselnden Einflusses auf sie, dessen sie sich kaum erwehren konnte; dennoch war es ihr zugleich, als solle sie sich verletzt fühlen von dieser seltsamen Formlosigkeit, und unwillkürlich fragte sie sich, welches Wesen dieser Mann wohl einer Dame gegenüber, die nicht die Erzieherin seiner Kinder sei, annehmen werde.

Wood hatte, als wolle er sich bestimmter über den Sinn ihrer Aeußerung belehren, einen prüfenden Blick in ihr Gesicht geworfen und fuhr dann fort: „Ich will wirklich ganz offen gegen Sie sein, Miß. Ich gebe im Ganzen nicht viel auf eine Erziehung durch Frauen; sie folgen meist zu sehr den augenblicklichen Eindrücken, und wo sich durch Uebung oder Umstände eine festere Consequenz bei ihnen herausgebildet hat, ist es meist auf Kosten ihren Herzens geschehen; –Sie wollen sagen: und doch habe ich nach einer Erzieherin verlangt und Sie selbst hierher kommen lassen,“ unterbrach er sich, als Lucy eine Bewegung machte; „der Widerspruch soll Ihnen gleich erklärt werden, zuerst will ich indessen noch offener gegen Sie sein, damit Sie mich für alle Folge verstehen und Kommendem keine falsche Deutung unterlegen. Ich zähle im Allgemeinen die Gesellschaft von Frauen nicht zu meinen Bedürfnissen, so sehr ich deren Nothwendigkeit für eine geordnete Häuslichkeit anerkenne, und wenn ich den Bestand derselben in meinem Hause noch durch Ihr Engagement vermehrte, so ist es eben nur geschehen, weil meine Kinder die Stellvertretung einer treuen Mutter vermißten und ich ihnen nicht jede frühe Erinnerung an das Vaterhaus durch ihre Erziehung in einem Institute rauben wollte – um ganz ehrlich zu sprechen, würde ich selbst die Kinder in meinem Hause schwer vermissen, so wenig ich sie auch zeitweise zu Gesicht bekomme. Ich gestehe nun, daß mir die Wahl einer Dame für meine Zwecke wahrscheinlich schwer geworden wäre, wenn ich nicht Ihren Brief, der so ganz von allen andern mir zugegangenen verschieden war, erhalten hätte. Ich glaubte daraus auf ein Herz für meine Kinder schließen zu können, meinte auch darin den nöthigen Grad von gereifter Selbstständigkeit zu entdecken, und nach den Erfahrungen des gestrigen Tages denke ich um so weniger mich getäuscht zu haben. Hiermit wären wir also fertig, und es giebt nur noch eine Klippe, an der allein unsere beiderseitigen Pläne scheitern könnten.“

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 692. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_692.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)