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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

ward nicht gesehen, das Zimmer im untern Stock, worin sich das ihr überwiesene Piano befand, ward auffällig gemieden, und wo die Kinder einer oder der andern der Frauen in die Hände liefen, wurden sie mit einem „Armes Ding! aufgenommen, mitleidig gestreichelt und dann mit einem Kopfschütteln entlassen. Lucy sah die Absicht sie zu kränken – durch eine Vernachlässigung ihrer Mahlzeiten schien dies nicht mehr geschehen zu können, denn ihr Tisch war schon vom zweiten Tage an reichlich und gut besetzt, und Flora hatte ihr mit einem bedeutsamen Augenzwinkern gesagt, sie möge darauf rechnen, daß es so bleibe – Lucy sah die zur Schau getragene Absicht und fühlte, daß sie sich darüber leicht werde hinwegsetzen können; sie schritt unbefangen mit den Kindern durch das Haus, wenn sie mit diesen nach den Unterrichtsstunden einen Gang in’s Freie machte; sie setzte sich Abends leichten Herzens allein an das Piano, um ihre schöne Fertigkeit nicht einschlafen zu lasten, und vergaß in der Musik für eine Weile eine Gegenwart, die kaum schmuckloser und nüchterner für sie hätte sein können, die aber bis jetzt wenigstens noch nicht zur Last für sie geworden war.

Erst am Ende der zweiten Woche sollte sie weitere Erfahrungen machen. Ausnahmsweise hatte es ein kärgliches, mißrathenes Frühstück gegeben, und Lucy schritt soeben mit den Kindern nach ihrem Zimmer hinauf, als sie Flora’s zankende Stimme in der Küche vernahm.

„Ruhig hier, wir Beide haben nichts mit einander zu verhandeln,“ hörte sie die Wirthschafterin erwidern; „hast einmal wieder für eine neue Tochter zu sorgen, Flora, und möchtest Dich um sie zerreißen; laß sie sich aber nur vorsehen, daß sie nicht als Zweite hinüber in’s Gartenhäuschen kommt!“

Es lag etwas wie stille Drohung in dem Tone der Worte, und Lucy halte unwillkürlich ihren Schritt angehalten. Kaum konnte mit der „neuen Tochter“ Jemand anders gemeint sein, als sie; was aber um Gotteswillen waren die Gedanken dieser Frau, die sie, die Fremde, mit dem Gartenhäuschen, wo die Geisteskranke sich befand, in Verbindung bringen konnte? Einen Augenblick lang trat der Abend, an welchem sie die Klagetöne dort vernommen, sammt dem unheimlichen Gefühle, das sie damals überschlichen, vor ihre Seele und fast wollte es sie überkommen, als sei sie in Verhältnisse getreten, die in ihrer Verborgenheit sich wie ein unsichtbares Netz um sie schlingen würden, bis sie rettungslos verwickelt irgend einem unbekannten Verderben Preis gegeben sei – nur einen Augenblick lang währte die Regung, dann scheuchte ihr kräftiger Geist die wirren Vorstellungen hinweg und sie sagte sich, daß dem Aerger jede Weise recht sei, um sich Luft zu machen. Sie sah Flora bleich und mit zuckendem Gesichte aus der Küche schießen und, statt ihren Weg wie gewöhnlich nach Lucy’s Zimmer zu nehmen, sich nach den hinteren Theilen des Hauses wenden, und mit einem bedauernden Kopfschütteln schritt das Mädchen weiter; oben angelangt aber konnte sie es nicht unterlassen, einen Blick hinüber nach dem kleinen Hause zu werfen. An manchem Abende hatte sie den Lichtschein, der ihr am ersten Abende aufgefallen, wieder beobachtet, aber nie mehr einen Laut von dort vernommen; deutlicher als je aber trat jetzt von Neuem das damals belauschte Bild vor sie, und als sie sich endlich abwandte, konnte sie, trotz ihres Strebens, sich von dem erhaltenen Eindrucke frei zu machen, sich einer Art innerer Beklemmung nicht ganz erwehren. Sie hieß endlich die Kinder zum Beginn des Unterrichts niedersitzen, aber so viel sie sich auch zur Aufmerksamkeit zwingen mochte, immer stiegen wieder die Worte der Wirthschafterin, in ihr auf, hörte sie den eigenthümlich drohenden Ton derselben, begann sie fast unbewußt über eine Deutung zu grübeln.

Es mochte vielleicht eine Stunde verflossen sein, und sie wollte eben ihren Schülerinnen eine Pause zur Erholung gönnen, als sich vorsichtig die Thür ihres Zimmers öffnete, ein spähendes, gutmüthiges Gesicht sich hereinschob und diesem mit einem lachenden deutschen „Da sind Sie ja endlich!“ die Gestalt einen jungen Mannes folgte. Lucy blickte einen Moment verwundert auf, im nächsten aber hatte sie trotz der veränderten Erscheinung ihren Helfer in der Noth bei ihrem nächtlichen Abenteuer in der Stadt erkannt, und ein wohlthuendes Gefühl überkam sie beim Anblick dieses ehrlichen, jovialen Gesichts. Der Angekommene schien es auf einen Besuch bei ihr abgesehen zu haben, wenigstens hatte seine frühere Arbeitstracht einem völlig modernen Anzüge Platz gemacht, und trotz der etwas derben Hände bot er eine durchaus passabele Erscheinung.

„Mr. Reinert! das ist ja eine angenehme Ueberraschung!“ rief das Mädchen sich mit aufgeklärtem Gesichte erhebend, „wer aber, um Gotteswillen, hat Sie denn hier herauf gebracht? War denn Niemand da, der mich hätte nach dem Parlor rufen können?“

„Das heißt wahrscheinlich: es ist ein Bock gegen die feine Lebensart, ohne Weiteres hier herein zu tappen,“ erwiderte der Eingetretene mit einem gutmüthigen Lachen die ihm entgegengestreckte Hand drückend, „ich bin indessen nur froh, daß ich Sie überhaupt gefunden – ’s sind curiose Leute in Ihrem Hause, wollte Sie Keins auch nur kennen, und die alte Lady sah mich an wie ein deutscher Polizeicommissär. Ich hätte wohl unverrichteter Sache wieder meiner Wege gehen können, wenn sich nicht eins von den schwarzen Gesichtern meiner erbarmt und mich hier herauf geschickt hätte!“

Lucy war bleich geworden – sie halte nicht geglaubt, daß die Opposition ihrer Gegnerinnen so weit gehen könne, und ein peinliches Gefühl ihrer schutzlosen Lage überkam sie. „Und Sie sind sicher, daß Sie richtig verstanden worden sind?“ fragte sie, sich nach einem Stuhle wendend, um die Zeichen ihrer Erregung zu verbergen.

„Hat es doch das schwarze Gesicht gethan!“ lachte der junge Mann zuversichtlich; „aber lassen Sie nur, Miß, und ärgern Sie sich nicht, wenn sonst über nichts Schlimmeres!“ setzte er gutmüthig hinzu, „ich kenne schon den amerikanischen Hochmuthteufel, der die Deutschen kaum für richtige Menschen ansehen möchte; ich hatte schon damals meine Gedanken, als ich erfuhr, daß Sie in eine amerikanische Familie gingen!“

„Setzen Sie sich, Mr. Reinert!“ sagte Lucy, kaum halb auf die Worte hörend.

„Nur eine halbe Minute, Sie haben auch zu thun!“ erwiderte er mit einem Blicke auf die Kinder, welche mit offenem Munde die fremde Erscheinung anstarrten und der fremden Sprach lauschten. „Ich komme wegen zweierlei! Sie haben ein Tuch bei uns liegen lassen,“ fuhr er fort, ein kleines Packet auf den Tisch legend, „und ich dachte oft daran, es mit heraus zu nehmen, wenn ich zum Einkaufen in die hiesige Gegend fuhr – das geschieht nun aber erst heute, wo ich noch einen andern Auftrag für Sie habe. Ich weiß nicht, ob Sie an dem Morgen, wo Sie von uns gingen, etwas gemerkt haben – nun es ist einerlei!“ sprach er mit einer launigen Kopfbewegung weiter, „und kurz heraus, meine bisherige Wirthin wird meine Frau und läßt bitten, ob Sie nicht morgen zur Hochzeit auf ein paar Stunden, oder so lange es Ihnen gefiele, mit bei uns sein wollten – sie hat Sie geradezu in’s Herz geschlossen und die ganze Zeit her von Ihnen gesprochen!“

Dem Mädchen ward es bei der schmucklosen Einladung, als überwehe sie in der eisigen Luft ihrer jetzigen Verhältnisse ein warmer Hauch, und nie glaubte sie das deutsche Gemüth mehr ausgeprägt gesehen zu haben, als jetzt in den Mienen des vor ihr Sitzenden. Sie konnte es nicht unterlassen, ihm nochmals mit einem lebhaften Drucke die Hand zu reichen, und sagte: „Ich wünsche Ihnen alles Glück, das gewiß nicht ausbleiben wird, Mr. Reinert, und ich würde mich jedenfalls einstellen, wenn meine Verhältnisse es nur einigermaßen erlaubten. Aber ist es auch nicht morgen, so komme ich sicher einmal in den nächsten Tagen – Sie haben mir wirklich eine große Freude durch Ihre Einladung gemacht.“

„Ich hab’s doch gewußt, Sie sind eine echte Lady, Zoll für Zoll, daß man Ihnen nicht einmal für die abschlägige Antwort böse sein kann,“ erwiderte der junge Mann, mit einem eigenthümlichen Gemisch von Unmuth und Herzlichkeit die dargebotene Hand schüttelnd und sich dann erhebend. „Meine Alte wird schimpfen und meinen, ich habe meine Commission nicht fein genug angebracht, aber ich will Sie nicht weiter damit plagen. Versprechen Sie mir nur, Miß, daß Sie nicht vergessen wollen, wo die Reinert’s wohnen, wenn Sie einmal nach der Stadt kommen, und daß Sie uns für alle Fälle zu Ihren Freunden rechnen, wenn Sie einmal nichts Besseres bei der Hand haben.“

„Ich weiß wahrhaftig nicht, womit ich so viel Freundlichkeit verdient habe,“ gab das Mädchen zurück, „aber verlassen Sie sich darauf, daß ich sie zu würdigen weiß!“ und mit einem: „Wir werden ja sehen, uns sollen Sie wenigstens immer auf dem Platze finden!“ verabschiedete sich der Besucher, von dem Mädchen bis nach der Treppe geleitet.

Lucy war in ihr Zimmer zurückgekehrt und fühlte sich leichter, als sie es noch vor wenigen Minuten für möglich gehalten. Es war

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 706. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_706.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)