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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Revolution von 1848 seinen Ausdruck fand. Dieses Buch war ein Beweis, wie tief Herzen die Ereignisse jener Zeit mitgelebt hatte. Es war ganz unmittelbar unter dem vereinten Einfluß der drei hauptsächlichsten Erregungen geschrieben, welche damals die Seele jedes Edleren unter den Kämpfern für die Freiheit füllten: die Begeisterung für das künstlerische Ideal der Freiheit, der blutende Schmerz über die begangenen Fehler und Irrthümer und der heftige Skepticismus, der als eine gewaltsame Reaction der großen getäuschten Liebe nun an allem Erfolge zu zweifeln begann und die Lebensfähigkeit des westlichen Europas überhaupt in Frage stellte. Der lebhafte, mehr polemisch hinwerfende als theoretisch entwickelnde Styl, die kühne Schärfe des Gedankens, die vor keiner Consequenz; zurückscheute und unverzagt die Finger in die brennenden Wundenmale der Zeit legte, würden schon allein dem Buch eine große Wirkung gesichert haben; erhöht wurde dieselbe aber noch dadurch, daß der Autor ein Russe war und uns zugleich mit seinen Ansichten über den Westen den Blick in eine beinah gänzlich neue Welt eröffnete, wo nach seiner Meinung junge Kräfte unter eigenthümlichen gegebenen Bedingungen einer Entwickelung harrten, deren der Westen nicht mehr fähig schien.

Die Erscheinung Herzen’s hatte also von vornherein das doppelte Interesse, erstens in einem Russen (nur Bakunin war ihm darin vorangegangen) eine leidenschaftliche, thätige Theilnahme an den Freiheitsbewegungen in Europa zu finden, zweitens durch ihn Aufschlüsse und Vorstellungen von jenem ungeheuren Reich im Osten zu erhalten, dessen inneres Leben uns bisher beinah ganz verschlossen gewesen und nur seit wenigen Jahren durch Custine und Haxthausen in ungenügenden Umrissen bekannt geworden war.

Die persönliche Bekanntschaft mit ihm enttäuschte die Erwartung nicht, zu der sein Buch berechtigt hatte. Das kräftig männliche Aeußere, das ausdrucksvolle Gesicht, die schönen, ungewöhnlich treu alle Seelenstimmungen wiederspiegelnden Augen, die lebhafte, blitzende Weise, in der sich eine allseitige Bildung, eine scharfe Beobachtung und ein kühner, schöpferischer Geist sogleich im Gespräch offenbarten – alles dies mußte von vorn herein ein lebhaftes Interesse einflößen. Herzen ließ sich in London nieder. Er war eben von harten Schicksalsschlägen heimgesucht worden. In Zeit von wenigen Monaten war ihm seine Mutter, eine noch jugendlich kräftige Frau, sein zweiter Sohn und ein Freund durch einen schrecklichen Unfall, und in Folge dieses Unglücks seine Frau mit einem eben erst gebornen Kinde durch den Tod entrissen worden. Schwer gebeugt und durch trübe Nebenumstände mehr innerlich gekränkt und zerrissen, als die Welt, außer seinen intimsten Freunden, es ahnen konnte, zog er sich in eine fast völlige Einsamkeit zurück. Hier ging ihm, wie es allen edlen, gesunden Naturen zu gehen pflegt, die Nothwendigkeit auf, sich von der lähmenden Qual des Schmerzes durch eine That zu befreien, und er fing an, seine Memoiren zu schreiben, zunächst nur für seine Kinder und Freunde, dann aber wuchs aus den subjectiven Erinnerungen ein solcher Reichthum allgemeiner Beziehungen herauf, daß er fühlte, dies könnte ein mehr als persönliches Werk werden, und er beschloß, es dazu zu machen, wie er selbst in der Vorrede sagt. Dabei aber blieb er nicht stehen, sondern so wie er in den Memoiren von dem persönlichen Erleben den Blick zurückgewendet hatte auf allgemeine Zustände und Forderungen, insbesondre seines Vaterlandes, so beschloß er, nun auch sein vereinsamtes Leben auf’s Neue dem Besten dieses Vaterlandes zu weihen. Er gründete in London eine russische Presse, durch die er censurfrei die Blitze freier, aufklärender Gedanken nach Rußladt hineinschleudern und Alles das drucken konnte, was daheim unterdrückt wurde. Dadurch hatte er zwischen sich und seinem Vaterlande ein neues großes Band geknüpft, denn seit seiner lebhaften Theilnahme an den Pariser Ereignissen von 1848 war ihm die Heimath verschlossen. Aber freilich, ob das Unternehmen gelingen werde, ob es möglich sein werde, Schriften und Bücher solcher Natur nach Rußland hinein zu bringen, ob die Mittel eines einzelnen Mannes, der, wenn auch vermögend, doch kein Krösus war, hinreichen würden, ein derartiges Unternehmen bis zu einem möglichen Erfolge durchzuführen, ob endlich vor Allem seine Bemühungen in Rußland ein Echo und somit den wahren, lebendigen Wirkungskreis finden würden – Alles dies waren bedenkliche Fragen und erregten Zweifel bei Manchen, die dem Anfang der Sache zusahen. Aber Herzen zweifelte nicht. Mit der Zuversicht, ohne die nie ein großes und kühnes Werk gelingt, ging er an das seine. Er wußte es durch den sicheren Takt des genialen Menschen, daß er ein lebendiges Werk begann und daß ein tausendstimmiges Echo aus dem nur scheinbar schlummernden Rußland ihm antworten werde.

Merkwürdig und erfreulich war es, daß fast die Ersten, die sich um ihn bei diesem Werke schaarten und die er zur thätigen Theilnahme herbeizog, Polen waren. Eine der Haupttendenzen von Herzen war nämlich, daß das an Polen verübte Unrecht wieder gut gemacht werden müsse. Er war einer der ersten Russen, der dies öffentlich aussprach und den Polen die Hand zum brüderlichen Bunde reichte. Sein Drucker selbst war ein Pole, der sich dem Werk mit der größten Hingebung unterzog und jetzt als unabhängiger Eigenthümer an der Spike der Druckerei steht. Einer der edelsten unter den polnischen Flüchtlingen, Stanislaus Worcell (seitdem in London gestorben), begrüßte den Anfang dieses Unternehmens mit Freudenthränen. Bei zwei polnischen Meetings (das eine im Herbst 1853 zur Getächtnißfeier der polnischen Revolution, das andere im Frühjahr 1855 während des Krimkriegs) erschien Herzen auf der Tribüne vor einem zahlreichen Publicum und verkündete die Existenz eines nach Freiheit strebenden, den Polen brüderlich gesinnten Rußlands. Ganz besonders das zweite Mal erregte das Erscheinen dieses liberalen Russen zu der Zeit, wo England gerade Rußland bekämpfte, einen großen Enthusiasmus, und sein Auftreten war ein wahrer Triumph, denn bis dahin war das liberale Rußland im westlichen Europa und besonders in England fast noch nicht bekannt gewesen.

Man kann sagen, daß die politische Thätigkeit Herzen’s sich von Anfang an in drei großen Forderungen concentrirte: 1) die Vernichtung ber autokratischen und bureaukratischen Despotie, 2) die Abschaffung der Leibeigenschaft, 3) die Versöhnung mit Polen und die Emancipation desselben von der russischen Oberherrschaft. – Dies schienen ihm die lebendigen Fragen, um die es sich handelte, und es bewies große Mäßigung und großen politischen Takt, daß er, der theoretisch bis zu dem äußersten Forderungen des Socialismus geht, dabei stehen blieb. Hierin unterschied er sich von mehreren seiner politischen Glaubensgenossen und Mitexilirten, daß er die Freiheit nicht octroyiren wollte, daß er die Unmöglichkeit plötzlicher Uebergänge einsah. Was er verlangte, war die Decentralisation und die Autonomie der Provinzen; das größte Gewicht aber legte er stets auf die freie Entwickelung der tief im Volksleben wurzelnden nationalen Einrichtung der Gemeinde, die allerdings, weil sie auf gemeinschaftlichem Grundbesitz beruht, eine der wichtigsten Fragen der Zeit in sich schließt, ob es nämlich möglich ist, das Proletariat zu vermeiden oder nicht.

Gleich nach dem Tode des Kaisers Nicolaus, welches Ereigniß, wie Herzen hoffte, das Signal für’s Erwachen des russischen Volks sein würde, druckte er einen offenen Brief an den Kaiser Alexander, in welchem er ihn aufforderte, der Bringer einer neuen besseren Zeit für Rußland zu werden und vor Allem die Schmach der Sclaverei aufzuheben, die auf dem unglücklichen russischen Bauer lastete.

Zu gleicher Zeit schuf er ein periodisches Journal,unter dem Namen des „Nordstern“ (l’étoile polaire), zur Erinnerung an die fünf Märtyrer der russischen Revolution von 1825, die eine Zeitschrift unter demselben Titel herausgegeben hatten. In diesem Journal erschienen seine Memoiren in Lieferungen; sie erregten zunächst das persönliche Interesse, welches alle Memoiren haben, indem sie das Publicum mit der Jugend und dem Entwickelungsgang eines Mannes bekannt machten, der nun schon in mehrfacher Beziehung als eine bedeutende Persönlichkeit vor ihm stand. Die Schilderungen, welche er uns darin von seiner Jugend giebt, führen uns in Zustände ein, in denen eine geistig und physisch nicht ungewöhnlich kräftige Natur hätte untergehen müssen. Geboren in Moskau im Jahr 1812 wurde er als ein Säugling aus den flammenden Straßen von Moskau getragen, und französische Soldaten reichten ihm ein Stück Brot, weil die Amme durch den Schreck der Nahrung für ihn beraubt ward. Obgleich der Sprößling einer vornehmen russischen Familie, war seine Stellung doch der Art, daß sie früh in dem denkenden Knaben Betrachtungen entwickelte, die gewiß viel zu seiner späteren Geistesrichtung beitrugen. Er war nämlich in illegitimer Ehe geboren, und obwohl seine Mutter eine unendlich gute, von Allen, die sie kannten, hochgeachtete Frau war und sein Vater ihn außerordentlich liebte, so kamen ihm doch schon früh Aeußerungen zu Ohren, die in seinem jungen Kopfe ihre Arbeit thaten. Auch war der Charakter seines Vaters nicht geeignet,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_759.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)