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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Das Singemäuschen.

Eine Erinnerung aus meinem Haftleben.

Unter den vielen und vielerlei Erlebnissen in der dreizehnjährigen Haft, welche ich wegen meiner Beziehungen zu den während der Jahre 1823–35 in einem großen Theile von Deutschland hervorgetretenen politischen Bewegungen aus dem Schlosse zu Marburg und der Bergfestung Spangenberg, sowie in dem Kastell zu Cassel zu erstehen hatte, wird das folgende als besonders mittheilenswerth anzuerkennen sein.

Es war in der zweiten Hälfte des Novembers 1846, als ich im Castell zu Cassel eines Tages zur Zeit der Dämmerung in gewohnter Weise beim Ofen saß und mit einem Male von dem hellen Schlagen eines – wie ich dem Schlage nach nicht anders annehmen konnte – Kanarienvogels, das ganz in meiner Nähe ertönte, überrascht wurde. Der Vogel schien im Kamin zu sitzen und mußte – so dachte ich – dorthin durch irgend einen Zufall verschlagen worden sein; als nach einiger Zeit das Schlagen wieder aufhörte, zweifelte ich daher auch nicht, daß er seinen Rückweg wieder gefunden habe. Um so größer war mein Erstaunen, am nächsten Tag, ganz zu derselben Zeit und von derselben Stelle her, ein gleiches Schlagen ertönen zu hören. In größter Spannung erwartete ich nunmehr die Abendvisitation, um alsdann den Arrestaufseher zu veranlassen, im Kamin nachzusehen. Derselbe fand die Thür des Kamins fest angelegt und im geöffneten Kamin konnte er nirgend Etwas entdecken; zum Ueberfluß erkundigte er sich noch bei einem Zellennachbar, dessen Öfen in dasselbe Kamin mündete, ob er nicht ein gleiches Schlagen gehört habe, erhielt aber von diesem eine verneinende Antwort.

Am zweiten oder dritten Tag später, zur Zeit, wo ich schon Licht hatte, ertönte das Schlagen von Neuem, jedoch diesmal nicht, als komme es aus dem Kamin, sondern aus dem Fußboden in der Nähe meines Sitzes am Ofen, bis es nach wenigen Minuten mit einem Male aus der Gegend des nach einer anderen Seite gelegenen Fensters hörbar wurde. „Wie,“ sagte ich mir da, „konntest Du auch nur einen Augenblick den Ursprung verkennen? Wie konnte es anders sein, als daß ein Arrestat, der in der Zelle unter Dir verbringt, die Dämmerstunde damit feiert, daß er von seiner Gabe Gebrauch macht, das Schlagen eines Kanarienvogels auf’s Täuschendste nachzuahmen?“ Als ich aber den bald nachher eintretenden Arrestaufseher frug, ob die gerade unter mir gelegene Zelle eben besetzt sei, mußte ich diese Annahme schon wieder aufgeben; denn nicht nur in der gerad unter mir gelegenen Zelle, sondern auch in den rechts und links daran stoßenden sollte sich in dem Augenblick kein Arrestat befinden, was ich gleich nachher dadurch noch bestätigt fand, daß ich zur Zeit der allgemeinen Visitation, trotz des angestrengtesten Hinhorchens, Thüren unter mir weder öffnen, noch schließen hörte. Es war also jetzt das Räthsel noch viel größer, eine neue Erklärung vermochte ich schlechterdings nicht mehr zu finden; deshalb unterließ ich auch, weiter über den Zusammenhang der Sache nachzudenken; ich war schon zufrieden, daß die unbekannte Stimme wenigstens hin und wieder zurückkehrte.

Da geschah es, ohngefähr zwei Wochen später, daß ich eines Abends gegen elf Uhr durch das mir bereits bekannte Schlagen aus dem ersten Schlafe aufgeweckt wurde. Ich konnte nicht verkennen, daß die Töne in dem Augenblick von Etwas herrührten, das im Inneren der Zelle dicht bei der Thür sich befinde; zugleich erfolgte das Schlagen in zuvor noch nicht gehörter Weise: die Töne, dem Schlage des Kanarienvogels sonst ganz ähnlich, halten einen sanften und wundervoll melodischen Klang und rollten, ohne irgend abzusetzen, weiter. Ich blieb lange, um nicht durch ein Geräusch zu stören, regungslos liegen. Endlich, nach ungefähr zehn Minuten, übermannte mich aber doch das Verlangen, dem Ding auf die Spur zu kommen. Ich setzte mich auf, um Licht zu machen; währenddeß kamen die Töne plötzlich von einer anderen, der meinem Bett gegenübergelegenen Seite her, aber erst als das Licht angezündet war, erkannte ich als unzweifelhaft, daß das zauberische Wesen jetzt hinter einer Schiefertafel steckte, die, auf dem Boden stehend, an die Wand angelehnt war. So leise als möglich erhob ich mich, um die Tafel vorsichtig wegzunehmen. Doch kaum hatte ich den Fußboden betreten, so schwebte auch schon Etwas wie ein Schatten hinter der Tafel hervor und nach der Fensterseite hin, und ebenso bald nahm das Schlagen dicht unter dem Fenster seinen Fortgang. Einmal im Recognocieren begriffen, setzte ich dies fort, bewegte mich leise nach dem Fenster hin, und, die Töne zum Leiter für meine Augen nehmend, gewahrte ich kurz vor demselben am Boden den aus einer Oeffnung hervorgestreckten Kopf eines – Mäuschens, dessen Mäulchen sichtbar die noch fortgehenden Töne entquollen. Der Sänger, oder vielmehr die Sängerin, war mir jetzt mit einem Male bekannt; meine Ueberraschung deshalb aber nicht geringer, denn bis dahin hatte ich von keinem Mäuschen gehört, das wie ein Kanarienvogel, nur noch schöner, weit melodischer und sanfter, als dieser, schlagen und dies, abweichend vom Kauarienvogel, sogar eine Viertelstunde und darüber, ohne ein Mal abzusetzen, fortsetzen könne.

Natürlich war am anderen Morgen mein Erstes, den Arrestaufseher von meiner Entdeckung in Kenntniß zu setzen, doch denselben zu überzeugen, fand ich erst zehn bis zwölf Tage später Gelegenheit.

Von der Nacht an, wo die Sängerin mir zuerst sichtbar geworden war, kam sie unter den gewohnten Schlägen immer häufiger zum Vorschein, und zwar nicht blos am Abend, sondern auch bei Tage; ja bald trieb sie sich ohne alle Scheu um den Sitz herum, den ich während des Tags vor einem Tische einzunehmen pflegte; ein Junge von zwei bis drei Jahren, der dem Arrestaufseher gehörte und manchmal eine Stunde am Tage bei mir verbrachte, durfte sich dem Mäuschen ganz vertraulich nahen, und besonders hübsch war es anzusehen, wenn der Junge, sobald das Thierchen zu schlagen anfing, mitten in seinen Bewegungen inne hielt und, einen Finger an die Nase legend, aufmerksam lauschte. Das Schlagen war übrigens nicht immer ein lang andauerndes, bei Tage mehrentheils sogar nur ein kurzes; am längsten, mindestens zehn bis fünfzehn Minuten, hielt es an beim Schlußconcert, welches das Mäuschen mit einem Male allabendlich präcis 73/4 Uhr gab; alsdann konnte ein noch so starkes Geräusch in der Nähe eintreten, das Schlagen brach doch nicht ab.

Sobald ich diese ganz präcise Wiederkehr des Schlußconcertes wahrgenommen halte, machte ich den Arrestaufseher damit bekannt, damit er um dieselbe Zeit sich einmal bei mir einstelle und mit eigenen Augen und Ohren überzeuge. Er kam, sah und hörte, und gestand mir dann, daß er sowohl, wie der Commandant des Castells, dem er zum Oefteren schon Mittheilung über die Sache gemacht habe, an dieselbe nie hätte glauben wollen. An einem der nächsten Abende erschien nun auch der Commandant und überzeugte sich von dem, was er immer noch bezweifeln wollte.

Einige Tage später trat der Commandant wieder bei mir ein, theils um sich nach dem ferneren Verhalten des Mäuschens zu erkundigen, theils um mir mitzutheilen, daß, wie er unterdessen erfahren habe, von einem Kaufmann Gundlach in Cassel ein ähnliches Mäuschen längere Zeit in einem Käfig bewahrt worden sei. Von dieser Mittheilung nahm ich denn Veranlassung, den Commandanten zu ersuchen, mir aus dem kleinen Bestand meiner Casse, die er bewahrte, einen ähnlichen Käfig und zugleich eine Mausefalle besorgen lassen zu wollen, in welcher das Mäuschen lebendig eingefangen werden könne. Ich hätte allerdings das Mäuschen wohl auch mit der Hand greifen können, allein ich, wollte es doch, auf keinen Versuch hierzu ankommen lassen, indem ich fürchtete, durch einen möglicherweise mißlingenden Versuch das Thierchen ganz zu verscheuchen.

Von da an sehnte ich wahrhaft den Augenblick herbei, wo ich Falle und Käfig erhalten würde, denn plötzlich hatte mich eine ordentliche Furcht beschlichen, es werde meine geheime Sängerin nicht lange mehr bleiben. Ich glaubte mir sogar den Vorwurf machen zu müssen, Verrath an unserm Verhältniß dadurch begangen zu haben, daß ich das Geheimniß nicht besser bewahrte. Meine trübe Ahnung sollte sich leider mir zu bald begründet zeigen. Schon am dritten Tag nach dem letzten Besuche des Commandanten blieb das Mäuschen aus. Da dies jedoch schon früher manchmal einen halben Tag und länger geschehen war, so hoffte ich noch auf den folgenden Tag. Allein diese Hoffnung war eine eitle, mein kleiner Liebling ließ auch an diesem Tag vergebens auf sich warten, wohl aber drangen an selbem, zu meinem Entsetzen, andere Töne an

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 777. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_777.jpg&oldid=- (Version vom 8.12.2022)