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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

englische Industrie, die verderblichste für Europa, hängt von der Peitsche, der Knute, der Tyrannei auf der andern Halbkugel ab. –

Die erwähnte fünfte Erweiterung der Kershaw’schen Anstalt ist einstweilen aufgeschoben worden. Gott sei den Millionen von Arbeitern und Capitalien gnädig, deren Heil vom Siege der Sclavenhalter Amerika’s und der englischen Satrapen Indiens abhängt!

Nachdem wir dem Cerberus von Wächter, in einem Käfige am Eingänge wohnend, befriedigende Legitimation gegeben, treten wir ein in die noch voll arbeitende Anstalt, eine ganze Stadt, ein Königreich der Baumwollen-Industrie. Unter Krahnen, schwebenden Balken, auf donnernden, krachenden Boden, zwischen zischenden, puhstenden Legionen von einäugigen Dampfkesseln, durch Labyrinthe von Wegen und Gängen kommen wir endlich in’s Bureau, wo wir mit einem Führer und Erklärer versehen werden.

Zuerst wird vor zwei mysteriösen Maschinen Halt gemacht, in deren Innerem es stürmt und tobt wie ein gefesselter Orkan, der zugleich an allen Wänden seines Kerkers vor Wuth platzen möchte. Das sind die „blowers“ oder Bläser, sagt der Junge vor der einen Maschine. Was thun sie? „Das,“ sagt er, indem er eine tüchtige Handvoll Rohbaumwolle aus dem Ballen reißt und sie, nachdem er uns den Schmutz, die Holzstückchen und Knoten darin gezeigt, seiner Maschine zu fressen giebt. Sie zupft daran etwa wie eine fromme Kuh, der man eine Handvoll Heu vorhält. Es ist rasch verschwunden. Der Junge holt einen ganzen Arm voll baumwollenen Schnee unter der Maschine hervor und behauptet, daß dies die eben verzehrte Handvoll sei. Wir zweifeln, und er zeigt es uns, wie's zugeht. Im Innern wird die Baumwolle mit rasender Kraft und Geschwindigkeit zerzaust und geworfelt, so daß alle fremdartigen Bestandtheile zu Boden fallen.

Nun ist sie reif und rein zum Spinnen, sagen wir. Das ist unser stärkster Irrthum. Es war das erste von mehr als einem Dutzend läuternden Fegfeuern. Die nächsten sehen wir unter den beiden Roh-Bläsern, eine ganze Reihe dumpf zischender und pfauchender Höhlen, in welche der baumwollene Schnee wie ein milchiger Regen herabströmt. Wir sehen in das Innere hinein und finden, daß die Baumwolle gleich am Eingänge von einer furchtbaren Windkraft in die dünnsten Nebel zerblasen wird. Die Kraft geht von einem runden, stehenden Nebel aus, den wir nach Stauung der Maschine als ein Parallelogramm von stählernen Flügeln erkennen. Sie bewegen sich so schnell, daß sie zu einem kaum sichtbaren Nebelfleck verschwinden. Hier werten die Samenkörner und kleineren fremdartigen Bestandtheile vollends abgesondert und durch Ritzen unten zu Boden geschleudert, während die leichtern Baumwollenfasern von Worfelschaufeln unten und deren unsichtbar schnellen Drehungen im Fluge erhalten werden, bis sie am entgegengesetzten Ende wie ein immerwährender Schneesturm herausfliegen, so daß wir im Nu beim Zusehen über und über in chinesische Trauer gekleidet sind und wie lebendige Schneemänner nebeneinander stehen. Gegenüber wird der Baumwollenschnee von „Käfigen“ verschlungen, die ihn auf der andern Seile in wattenartige Bogen gepreßt abliefern. Ein Blick in einen solchen geöffneten Käfig zeigt uns einen Wirrwarr von Freß- und Verdauungsapparaten, so schlingt es, so wurmt und windet es sich darin.

So geht die Baumwolle durch, glaub’ ich, zwölf Reinigungs-, Worfel-, Fächel-, Dresch- und Siebungs-Processe, bis sie zuletzt ruhig, blendend weiß, wunderschön als ein sich sanft senkender Schnee hinsäuselt, aber ohne Flocken, ohne sichtbare Zwischenräume.

Jetzt rollt sich diese gleichsam flüssige Baumwollenmasse auf „Wickel“, große Rollen („laps“), die nun einer ganz andern Armee von Maschinen in einem andern Raume zum Krempeln und Kämmen übergeben werden. Wir fragen nach der Zahl derselben, wie sie auf beiden Seiten wie dicke Bürgermeister aufgestellt sind.

„Achtzig auf der einen, siebenzig auf der andern.“ Sie alle krempeln und kämmen mit einer Präcisison, Einheit und Eleganz mechanischer Kunst, wie sie das beste preußische Regiment auf der Parade nicht nachmachen kann. Die „Wickel“ werden so gestellt, daß die Maschinen selbst sie abwickeln und den ätherischen Wattenpelz gerippten Walzen der Krempel und Kämm-Maschinen übergeben. Diese sind von allen Seiten geschlossen, so daß sie ungesehen im Dunkeln arbeiten. Eine, für unsere Belehrung aufgemacht, zeigt einen großen sich drehenden Cylinder in der Mitte und eine Menge kleinere um ihn herum als Krempelkämme thätig. Kleine Stahldrähte, feiner und dichter als die Borsten in einer Haarbürste, auf diesen Cylindern spielen so gegen den großen mittleren, daß sie die in ihre Zähne gezogene Baumwolle den in entgegengesetzter Richtung eingreifenden Stahlborsten desselben überliefern, so daß sie sich wie ein zarter Reiffrost über denselben verbreitet, nachdem sie von Cylinder zu Cylinder oder Krempelhechel zu Krempelhechel in allen ihren feinsten Fäserchen so glatt gekämmt ist, daß sie wie das beste, gekämmte Haar des Stutzers neben einander liegen. Von dem großen Cylinder nun wird der so glatt gekämmte baumwollene Hauch durch einen rasch und leise entgegengesetzt eingreifenden, zitternd vor und zurück spielenden Kamm wie ein schneeweißer Nebel fortwährend abgehechelt. Dieser Nebel sieht kaum so substantiell aus, wie ein Paff Rauch von der Cigarre, gleichwohl zieht er sich sicher und graciös zu einem lockern, ebenen, glatten Faden zusammen, der fortwährend durch eine Röhre gezogen sich fortbewegt, um durch folgende Maschinen-Operationen erst die Weihe zum glatten, haarartigen, egalen, glänzenden Maschinen-Baumwollenfaden zu erhalten. Die wolkige, abgekämmte Scheibe („silver“) zieht sich also zu einem lockeren Faden zusammen, indem sie sich durch eine Röhre hinunter in einen nässenden Trog bewegt, um von da aus mit sechzehn ganz ähnlichen Scheiben und Fäden zu einem einzigen vereinigt zu werden. Dies geschieht, um die sonst noch möglichen Unebenheiten in den einzelnen Fäden so zu vertheilen, daß an dem hernach daraus gesponnenen Faden keine bemerklich werden, da die Wahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens aller dieser noch möglichen Unebenheiten an einer Stelle wie viele Millionen zu Eins sein würde und deshalb unter vielen Millionen von Meilen Fäden, die täglich gesponnen werden, kaum alle Monate einmal wirklich vorkommt.

Die je sechzehn zu Fäden gewordenen und vereinigten Scheiben wickeln sich wie ein ruhig fließender milchiger Strom um große Walzen, die, wenn bis zu einer gewissen Dicke umwickelt, abgenommen und durch leere ersetzt werden. Die 150 Krempel- und Kämm-Maschinen thun genau dasselbe neben einander, d. h. sie verwandeln den vorher erwähnten Schneesturm in ungedrehte, dicke, talglichtartige, aus je sechzehn Strähnen neben einander gelegte und dann auf Walzen gewickelte Fäden.

Jetzt endlich kommt das Spinnen – noch lange nicht. Die Walzen wandern in das Departement der Zieh-Maschinen. Als die Zeiten, wo Bertha spann, noch nicht vorbei waren und die Spinnstuben noch zur täglichen Winter- und Dorfpoesie gehörten, war die geschickteste und feinste Spinnerin Deutschlands nicht im StaNde, den Faden so regelmäßig und gleichartig auszuziehen, als es hier ein paar Hundert Maschinen einer Spinnerei Tag und Nacht thun, ohne müde zu werden, einzunicken, den Faden zu zerreißen, sich den Wocken stehlen zu lassen und ihn durch Küsse wieder einlösen zu müssen. Hier ruht, hier küßt nichts, hier ist Alles, Alles morgenweit um uns her und acht Stockwerke hoch, Alles, Alles endlos drehende, rollende, walzende, donnernde, von Dampf und Angst, Börsen-Coursen und Kriegsnachrichten gepeitschte, gefühllose, unersättliche, unerbittliche Bewegung.

Die Operationen der Ziehmaschinen zu beschreiben, halte ich kaum für möglich, ohne Zeichnungen und technische Ausdrücke zu brauchen. Sie beruhen auf der Einrichtung, daß je zwei von den sechzehnfachen Fäden von einer sich langsamer bewegenden Walze auf eine sich schneller drehende zu einem 32fachen, aber dünneren ausgezogen werden. Dieses Ausziehen von je 32 und 32, von 64 und 64, 148 und 148 Fäden und so weiter zu je einem wird desto weiter getrieben, je feiner der endlich gesponnene Faden werden soll. Unser Cicerone im Zieh-Departement bemerkte beiläufig, daß man eben nichts besonders Feines spinne und deshalb blos 4608 Fäden zu je einem ausziehe.

Wenn aber dabei einmal einer reißt mitten unter Tausenden, die vor uns hin und zusammenkriechen? Wunder über Wunder! So wie einer reißt, fällt eine Platte an der Stelle hörbar nieder, wodurch vor den Augen des Maschinisten ein Zeichen entsteht, das ihn mahnt, die bestimmte Stelle sofort in Ruhe zu versetzen. Dies geschieht; eines der beaufsichtigenden Mädchen holt das davon gelaufene Stück Faden zurück, legt es an das Ende des zurückgebliebenen, und der Schaden ist schneller geheilt, ehe wir nur bemerken, daß die Maschine still stand. Dieses Ankleben, scheinbar eine gedankenlose Kinderei, ist beiläufig eine solche Kunst, daß man ordentlich Lehrjahre durchmachen muß. Wir versuchten’s unter allgemeinem Gelächter öfter, ohne daß die Fäden nur daran dachten, sich wieder zu vereinigen. Unser Führer bemerkte noch, daß man für den feinsten Twist die Fäden bis zu 60,000 aus- und zusammenziehe,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_782.jpg&oldid=- (Version vom 8.12.2022)