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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

that ich, während wir im Wagen saßen und nach dem nächsten Dorfe, wo der Typhus herrschte, auf grundlosen Wegen fuhren.

„Sie verzeihen,“ sagte ich ihm, „daß ich ein wenig den Mentor bei Ihnen spiele, indeß berechtigt mich dazu die langjährige Erfahrung und eine genaue Kenntniß des Landes und seiner Bewohner. Ich muß Sie auf Dinge vorbereiten, von denen sich unsere Kathederweisheit nichts träumen läßt. Sie werden Zustände kennen lernen, welche wahrhaft herzzerreißend sind, und es gehört viel Muth und Selbstverleugnung dazu, um all die Schwierigkeiten, die physischen und geistigen Anstrengungen und den Widerstand, welcher sich unserem Wirken entgegenstellt, zu ertragen. Wir haben es nicht nur mit einer entsetzlichen Krankheit zu thun, sondern auch mit einer vollkommen vernachlässigten, durch Hunger erschöpften und in jeder Beziehung verkommenen Bevölkerung. Außerdem stoßen wir noch häufig auf allerlei Vorurtheile, zumeist religiöser Natur. Die Bewohner des Landes gehören fast ohne Ausnahme dem katholischen Glauben an und befinden sich gänzlich in den Händen einer ultramontanen Geistlichkeit.“

„Ich habe bereits viel von dem Einflusse dieser Herren gehört,“ entgegnete mein Reisegefährte, der aus einer protestantischen Gegend und Familie stammte.

So bemühte ich mich, ihm ein getreues Bild von den Verhältnissen des Landes und besonders von der herrschenden Epidemie zu entwerfen und ihn auf die Scenen vorzubereiten, welche ich aus eigener Anschauung bereits kannte. Unterdeß bewegte sich der Wagen in dem aufgeweichten Lehmboden nur langsam vorwärts. Zuweilen schien es, als ob die Pferde nicht weiter kommen sollten; vergebens strengten sie ihre Kraft an, und mein alter Kutscher war genöthigt, von der Peitsche einen mir keineswegs angenehmen Gebrauch zu machen. Endlich erblickten wir die ersten Häuser oder vielmehr Hütten des Dorfes. Ich ließ den Wagen vor der Schenke halten, welche, wie gewöhnlich in Oberschlesien, einen Juden zum Wirthe hatte. Derselbe begrüßte uns mit der diesem Volke hier eigenen, fast knechtischen Höflichkeit. Er klagte über die schlechten, traurigen Zeiten und führte uns in die Stube, wo wir an dem Ofen unsere erstarrten Glieder einstweilen aufthauten. Sein Bericht über die Fortschritte der Krankheit lauteten eben nicht sehr tröstlich; mehr als die Hälfte der Einwohner lagen am Typhus schwer darnieder.

„Ach! Herr Doctor,“ seufzte der zuthunliche Israelite, „Sie wissen gar nicht, was sich hier thut. Es ist ein Jammer, der sich gar nicht beschreiben läßt. Die Leute sterben wie die Fliegen hin, und was das Schlimmste ist, sie haben nichts zu beißen und zu brechen. An all dem Unglück sind aber nur die Mäßigkeitsvereine schuld. So lange die Bauern Schnaps getrunken haben, wußten sie von keiner Krankheit; seitdem ihnen aber die Geistlichen den Eid abgenommen haben, keinen Schnaps mehr zu trinken, gehen sie am Typhus zu Grunde. Der Bauer muß seinen Branntwein haben, sonst kann er nicht bestehen.“

Der Schenkwirth sprach mit der vollsten Ueberzeugung diese Meinung aus, welche ihm der Egoismus eingab. Leider mußte ich ihm einigermaßen Recht geben, da der Branntwein dem oberschlesischen Bauer zu einem nothwendigen Reizmittel geworden war und die plötzliche, fast gänzliche Entsagung des gewohnten Genusses in Folge der oft nur durch religiöse Zwangsmittel eingeführten Mäßigkeitsvereine unter den einmal vorhandenen Verhältnissen fast mehr Schaden als Nutzen stiftete. Mein junger College war nicht wenig erstaunt, daß ich den eigennützigen Ansichten des Juden beipflichtete. Ich hatte indeß keine Zeit, ihm die Gründe für meine Behauptung auseinander zu setzen, da der indeß herbeigerufene Ortsvorstand mit seiner sogenannten Ordonnanz eintrat. Der Voit oder Schulze des Dorfes war ein alter, elwas stumpfer Mann, dessen Aeußeres keineswegs seine Würde und Stellung als oberste Magistratsperson erkennen ließ. Er trug einen alten, schmutzigen Schafspelz, in welchem seine nicht allzu imposame Gestalt sich fast verlor. Ein fuchsiger, abgeriebener Filz mit flachem Deckel bedeckte sein Haupt, das die charakieristischen Merkmale des slavischen Typus, besonders die breiten, hervorstehenden Backenknochen aufzuweisen hatte. In der Hand hielt er den großen Stock mit dem dicken Knopf, das Zeichen seines Amtes. Auf mein Befragen antwortete er in einem wunderlichen Mischmasch von deutschen und polnischen Worten mit steter Verwechselung des männlichen und weiblichen Artikels über die Zahl der Kranken und über die Fortschritte des Typhus in seinem Dorfe. Sein Bericht war nur äußerst mangelhaft und mußte ihm mit Mühe und Noth abgepreßt werden. So viel ging indeß daraus für mich hervor, daß die Epidemie schon seit längerer Zeit hier wüthete und so gut wie gar nichts geschehen war, um ihren verheerenden Fortschritten Einhalt zu thun. Ich forderte den Schulzen auf, uns zu begleiten und die einzelnen Häuser namhaft zu machen, worin sich die Kranken befanden. Er wies diese Zumuthung mit allen Zeichen der Furcht und des Entsetzens zurück und gab der herbeigerufenen Ordonnanz den Auftrag, uns an seiner Stelle als Führer zu dienen. In Begleitung des noch jungen und, wie es schien, sehr bereitwilligen und aufgeweckten Burschen traten wir unsere ärztliche Wanderung an. Dieselbe war mit mannigfachen Schwierigkeiten verbunden. Das Dorf zog sich länger als eine halbe Stunde hin, und die einzelnen Wohnungen und Gehöfte lagen durch Gärten, Felder und unbebaute Strecken von einander getrennt. Der Boden war durch den vorangegangenen Regen und das Schmelzen des Märzschnees im höchsten Grade aufgeweicht, so daß wir mehr als einmal in Gefahr geriethen, unser Schuhwerk in dem zähen, flüssigen Moraste stecken zu lassen. Der schmale Fußpfad, welcher von einem Hause zu dem andern führte, wurde häufig durch Lachen und Pfützen unterbrochen und vollkommen unzugänglich gemacht. Das Dorf selbst gewährte den traurigsten Anblick, den man sich denken kann; verfallene Hütten, eingestürzte Mauern, zerbrochene Zäune stießen uns bei jedem Schritte auf.

Nirgends zeigte sich eine Spur von Leben, Alles schien wie ausgestorben. Wir hörten weder das eintönige, aber doch so wohlthätige Klappern der Dreschflegel, diese echte Dorfmusik, welche laut und schon von fern die segensreiche Arbeit des Landmanns zu verkünden pflegt, noch sahen wir irgend ein Zeichen menschlicher Thätigkeit. Auf dem ganzen Wege begegneten wir nur einem alten Mütterchen, das uns scheu und verwundert nachstarrte. So erreichten wir eine der elenden Hütten, in welcher nach der Aussage des Burschen einige Typhus-Kranke liegen solllen. Das Haus war von Holz gebaut und mit Stroh gedeckt; mit der Hand konnten wir bequem das zerfallene, mit Moos bewachsene Dach erreichen. Die blind angelaufenen Fenster, nicht viel größer als eine gewöhnliche Laternenscheibe, ließen kaum einen Sonnenstrahl in die dumpfe Stube fallen. Die Thür, durch welche ein erwachsener Mann nur gebückt hindurchschreiten konnte, war verschlossen und von innen fest verriegelt. Lange pochten wir vergebens, bis uns aufgethan wurde. Eine Jammergestalt mit bleichen Wangen und eingefallenen Augen wankte uns entgegen. Augenscheinlich war der Mann erst vor Kurzem von einer schweren Krankheit genesen und noch so schwach, daß ihn seine zitternden Glieder kaum zu tragen vermochten. Unser Anblick setzte ihn in Erstaunen und rüttelte ihn aus seinem apathischen Zustande auf. Wir waren sicherlich die ersten Menschen wieder, welche er seit Wochen zu Gesicht bekam. Sein Erinnerungsvermögen schien gelitten zu haben, und er mußte sich besinnen. Er machte mit der abgezehrten Hand eine abwehrende Bewegung und winkte uns, uns zu entfernen.

„Geht!“ ries er in dem polnischen Idiom jener Gegend. „Geht schnell fort, denn hier ist die große Krankheit.“

Mit diesem Namen belegte der Bauer den Typhus, den er soeben erst überwunden hatte. Es lag für mich etwas unendlich Rührendes in dieser Sorge, welche der Aermste für unsere Gesundheit zeigte. Er wollte uns vor der Ansteckung behüten, der er selbst mit seiner Familie erlegen war. Der polnische Bauer besitzt neben manchen Fehlern, welche mehr in den Verhältnissen als in seinem Charakter liegen, eine angeborene Gutmüthigkeit und Menschenfreundlichkeit. Ich erklärte ihm, daß ich und mein College keine Furcht hätten, daß wir gekommen wären, um ihm und den Seinigen ärztlichen Beistand zu leisten. Stumpf und ungläubig schaute er uns an, denn die Hoffnung auf menschliche Hülfe war in den armen Leuten schon längst erstorben. Erst unsere wiederholte Versicherung und der Anblick der uns beigegebenen Ordonnanz, welche sich indeß wohlweislich aus Furcht vor der Ansteckung so fern als möglich hielt, erweckte sein Vertrauen, so daß er uns einzutreten bat.

Der Anblick, welcher sich uns hier darbot, wird mir ewig unvergeßlich bleiben. Auf dem schwarzen Lehmboden und auf faulem Stroh lagen sechs Personen in allen Stadien der Krankheit, fast nackt, nur mit schmutzigen Lumpen bedeckt. Hier starrte uns ein junges und trotz der Verwüstung des Typhus noch immer schönes Mädchen mit stumpfen Blicken an und murmelte unverständliche Worte mit den verdorrten, aufgesprungenen Lippen; dort

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_802.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)