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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)


„Habe altes Pferd gehabt, zu nichts mehr nutz, und das schlachten lassen; schmeckt aber gut und thut dasselbe Dienst.“

Mit diesen Worten ergriff Herr von Prodschintzky meinen Arm und führte uns, nachdem ich ihm meinen Collegen vorgestellt hatte, in seine Wohnung. Der Hausflur war mit Ziegeln gepflastert, welche, hier und da ausgebrochen oder durch die Länge der Zeit abgenutzt, gefährliche Schlünde und Abgründe, wahrhafte Fallen für unsere Füße bildeten. Aus der halbgeöffneten Küche drang uns der feuchte Dunst von allen möglichen Gerichten für Mensch und Vieh entgegen. Hier antichambrirte auch die zahlreiche Dienerschaft, deren Livree oft nur in einem schmutzigen Hemde und grauen Leinwandhosen bestand, die nothdürftig durch eine Hanfschnur oder einen Ledergürtel zusammengehalten wurden. In dem Wohnzimmer selbst fanden wir eine wunderliche Mischung von altväterischem Hausrath und modernen Möbelstücken, von wurmstichigen Schränken und verschossenen Gardinen, welche höchst seltsam mit den neuen Rohrstühlen und dem Cylinderbureau von Mahagony contrastirten. Zwischen alten, nachgedunkelten Familienportraits hingen schlechte Steindrucke in Goldrahmen, wie man sie auf Jahrmärkten für wenige Groschen zu kaufen pflegt. Von der Wand schaute ein Crucifix und das Bild der Jungfrau Maria hernieder, umgeben von einem weißen, mit bunten Bändern durchflochtenen Kranz. Mehrere Gewehre, Peitschen und Pferdezäume vollendeten die charakteristische Ausstattung des Zimmers. Mit der bekannten oberschlesischen Gastfreundschaft nöthigte uns unser Wirth zum Niedersitzen. Bald erschien das Factotum des Hauses, das in einer Person die Stellung eines Haushofmeisters, Kellermeisters, Aufsehers und Bedienten vereinigte, mit dem unausbleiblichen Ungarwein. Das feurige Getränk behagte uns nach der ausgestandenen Kälte und den Strapazen um so besser. Wir bedurften in der That der Stärkung, da wir uns erschöpft fühlten, und ließen uns deshalb nicht besonders nöthigen. Beim Glase Wein besprachen wir noch einmal die eben durchlebten schauderhaften Scenen. Herr von Prodschintzky war keineswegs ein empfindsamer Mann und die Sentimentalität gewiß nicht seine schwache Seite, aber unser Bericht schien doch einigen Eindruck auf ihn zu machen. Freiwillig erbot er sich, meinem jungen Collegen eine Wohnung auf seinem Schlosse einzuräumen, damit dieser in der Nähe seiner Patienten bleiben und sie so besser beobachten und verpflegen könnte. Dieses Anerbieten wurde natürlich dankbar angenommen, und ich war um so mehr damit einverstanden, da das Dorf so ziemlich den Mittelpunkt der meinem jungen Gehülfen zur Krankenpflege übergebenen Ortschaften bildete.

Während wir noch so tranken und die näheren Anordnungen besprachen, öffnete sich leise, fast unbemerkt die Thüre. Erst als ich zufällig aufblickte, bemerkte ich eine junge Dame mit zwar nicht auffallenden, aber reizenden Zügen. Sie hatte eines jener sanften Gesichter, aus denen der ganze Himmel einer zarten Weiblichkeit dem aufmerksamen Beobachter entgegenstrahlte. Wie ein Schleier verbarg eine angeborene Schüchternheit und Demuth einen Schatz von herrlichen Eigenschaften, die um so mehr entzückten, je weniger man sie vermuthet hatte. Solche Naturen blenden nicht mit einem Male, sondern gewinnen mit jedem Tag eine neue Macht über unser Herz, sie erregen keine plötzliche und stürmische Leidenschaft, aber wohl eine wachsende und ewig dauernde. Die junge Dame erröthete bei unserem Anblick und wollte sich sogleich, wie es schien, wieder entfernen.

„Hiergeblieben, Anna!“ herrschte ihr der Vater zu.

Sie leistete ihm sogleich gehorsam Folge und wurde nun in aller Form mir und meinem jungen Collegen vorgestellt. Zugleich machte Herr von Prodschintzky sie mit der soeben getroffenen Aenderung bekannt, da sie seit dem Tode ihrer Mutter das ganze Hauswesen verwaltete. Sie versprach für Doctor Brand ein passendes Zimmer auszuwählen und sogleich in Stand setzen zu lassen. In ihren sanften, fast theilnahmlosen Mienen verrieth sich weder Vergnügen noch Unlust wegen des neuen Hausbewohners, den sie so unvermuthet erhalten hatte. Still und geräuschlos, wie sie gekommen, verließ sie wieder das Zimmer, um die nöthigen Anordnungen für den jungen Freund zu treffen. Wir entfernten uns ebenfalls, um noch einige naheliegende Dörfer zu besuchen. Doctor Brand mußte noch unserem Wirthe das Versprechen geben, schon morgen mit seinem Gepäck und seinen Büchern nach dem Schlosse zu ziehen. Der junge Mann hatte das ganze Herz des alten Gutsbesitzers gewonnen; nebenbei mochte dem Letzteren die Anwesenheit des Arztes zur Zeit der gefährlichen Epidemie doppelt willkommen sein. Bei der Trennung rief ich meinem Collegen scherzend zu: „Verlieben Sie sich nur nicht in Fräulein Anna von Prodschintzky. Der Alte ist ein ebenso strenger Katholik als Aristokrat und in jeder Beziehung ein Feind der gemischten Ehen.“

Es mochte ungefähr eine Woche verstrichen sein, als ich es für meine Pflicht hielt, nach meinem Freunde und den ihm übergebenen Patienten zu sehen. Ich fand ihn sehr zufrieden mit seiner neuen Stellung; er hatte sich in kurzer Zeit bereits das volle Vertrauen seiner Umgebung erworben und allgemeine Anerkennung gefunden. Die Zahl der Kranken hatte sich, Dank seiner Bemühnung oder vielleicht der milderen Natur, welche die Epidemie angenommen, augenfällig vermindert. Herr von Prodschintzky konnte mir die Thätigkeit, Umsicht und Aufopferung des jungen Arztes nicht genug rühmen. Er wurde wie ein bewährter Hausfreund von dem Gutsbesitzer betrachtet, in dessen Augen er um so mehr gewonnen hatte, da Brand in den Mußestunden ein bedeutendes Talent als Whist- und L’hombre-Spieler entwickelte. Bei diesen Partien pflegte der Pfarrer des Dorfes stets der dritte Mann zu sein. Ich kannte den Geistlichen von früher: er gehörte einer jüngeren Generation von katholischen Priestern an, welche sich von ihren älteren Standesgenossen durch einen fanatischen Glaubenseifer unterscheiden. Unter scheinbar sanften und freundlichen Formen verbarg dieser Dorfpfarrer einen starren, unbeugsamen und herrschsüchtigen Charakter. Als Seelsorger des frommen, sehr bigotten Gutsbesitzers übte er keinen geringen Einfluß in dem Hause desselben aus. Wie es schien, beobachtete er mit keineswegs günstigen Augen die Fortschritte, welche mein Freund in der Gunst seines neuen Gönners bereits gemacht hatte. Da mir nur wenig Zeit übrig blieb, so begnügte ich mich mit einem kurzen Bericht über den Zustand der Patienten, welche ich Brand übergeben hatte. Nur die schwersten Fälle wollte ich aus eigner Anschauung kennen lernen und nahm deshalb seine Begleitung an. Unterwegs sprach ich ihm aufrichtig meine Anerkennung über seine bisherige Leistung aus.

„Sie haben wirklich,“ sagte ich ihm, „Erstaunliches in so kurzer Zeit geleistet. Eine so schnelle Abnahme der Epidemie habe ich kaum gehofft, und besonders muß ich Ihr Organisations-Talent loben, womit Sie so Großes geleistet haben. Die Kranken werden, wie ich sehe, mit Sorgfalt gepflegt und sind fast überall mit den nöthigen Lebensmitteln, Decken und Kleidungsstücken versehen.“

„Dieses Verdienst,“ lehnte Brand bescheiden ab, „kann ich mir durchaus nicht zuschreiben. Was in dieser Beziehung geschieht, ist das Werk von Fräulein Prodschintzky. Das Mädchen ist ein Engel. Heimlich eilt sie von Hütte zu Hütte und setzt sich großherzig der Gefahr und der Ansteckung aus. Sie versorgt die Kranken mit Allem, was Noth thut. Täglich muß ich ihr Bericht erstatten, und wo Hülfe oder Unterstützung fehlt, da ist sie sogleich zur Hand. Ihr allein haben wir die außerordentlichen Resultate zu verdanken, welche Sie mit Recht bewundern.“

Je länger mein Freund in solch enthusiastischen Ausdrücken von dem trefflichen Mädchen sprach, desto klarer wurde mir die Lage seines Herzens. Es war kein Zweifel, daß er die Tochter seines Wirthes heiß und innig liebte, und daß diese Liebe, obgleich er sich mir gegenüber auch nicht die geringste Indiscretion zu Schulden kommen ließ, von ihr eben so erwidert wurde. Ich bedauerte die jungen Leute im Voraus, da bei der bekannten Gesinnung des Vaters sich ein glückliches Ende der beginnenden Leidenschaft nicht denken ließ. Was ich vorausgesehen, war auch schnell genug eingetroffen. Bei einem zweiten Besuche, den ich meinem Collegen aus dem Schlosse abstattete, fand ich denselben in der größten Verzweiflung und im Begriff seine Wohnung nach der Schenke des Dorfes zu verlegen. Mit kurzen Worten schilderte er mir die stattgefundenen Ereignisse.

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 804. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_804.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)