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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

einer Gesammtanschauung, wie das Geographiebuch sie dem Schüler giebt, zu einigen Privatansichten, die zum großen Theile falsch sind, und der eigentliche Zweck des Reisens, ja sein eigentlicher Genuß, das Heimischwerden in Zuständen, welche von den unseren verschieden sind, das Herantreten des Menschen an den Menschen, das allein die Ferne belebt und das Dunkel aufhellt, in welches sie sich sonst für uns verbirgt, das geht ihnen verloren ein für allemal. Tausende und Tausende reisen alljährlich nach der Schweiz, aber was wissen die Meisten bei ihrer Heimkehr von dem Lande und von seinen Bewohnern?

Sie kennen von Ansehen die grünen Matten, auf welchen die Heerden weiden, und die Sennhütten des Hochgebirges, in denen der Käse bereitet wird. Sie kennen ebenso von Ansehen die gewerbfleißigen Städte, auf deren Wiesen die feuerrothen Schweizerkattune die Sonnenprobe bestehen, und sie sind durch Dörfer gefahren und haben in Häuser hineingesehen, hinter deren kleinen Fenstern der Webestuhl des Seidenwirkers klapperte oder die kunstgeübte Hand der Näherin auf dem Tambourinrahmen die Gardinen für die Prachtsäle der Königsschlösser stickte. Vor den schönen Kunstschnitzereien der großen Interlakener Magazine, vor den Schaufenstern der Uhren- und Goldwaarenfabriken von Genf haben sie eine Weile stille gestanden und sie wissen somit, daß die Schweizer ein Volk von fleißigen Bürgern sind, die Ackerbau und Industrie treiben. Man hat ihnen gesagt, daß in Basel ein sehr reicher, geldstolzer und zum Theil pietistischer Kaufmannsstand existirt, daß die südliche Schweiz einen lebhaften Handelsverkehr mit Italien treibt, und wenn sie etwa das Rheinthal hinauf fahren und ihnen auf beiden Seiten des Weges von den steilsten Felshöhen die Trümmer der Ritterburgen und tiefer hinab die zum Theil noch bewohnten Schlösser der alten Geschlechter in die Augen fallen, so stört sie das in ihrem erlernten Urtheil über das Land und seine Bewohner nicht sonderlich. Sie fragen sich nicht, woher diese Schlösser einer alten Aristokratie in der republikanischen Schweiz, sondern sie rechnen die Ruinen als zur Decoration des Weges gehörend, und sie haben ja auch schon am deutschen Rheine eben solche Burgen gesehen. Was denn aus all den alten Adelsgeschlechtern in der freien republikanischen Schweiz geworden ist, darauf lassen sie sich nicht ein, denn dazu haben sie auf der Reise, die sie ja zu ihrem Vergnügen machen, keine Zeit.

Wer aber etwas mehr Zeit hat, und wer ein anderes Vergnügen von der Reise erwartet, als das möglichst schnelle Durchziehen möglichst weiter Strecken, dem muß es, wenn er vom Bodensee aufwärts durch das Glarner Land nach Graubünden geht, sich auffallend darthun, wie mit dem sanften, lieblichen Charakter der Gegend sich auch die Gestalten und Physiognomien seiner Bewohner ändern, und welch eine Verschiedenheit den blonden Schweizer von St. Gallen und Glarus von dem dunkelhaarigen, schlanken und doch so kraftvollen Schweizer aus Graubünden trennt, über dessen Flecken und Dörfer sich die eisgekrönten Hochgebirge erheben, und in dessen Felsenthäler einzudringen und sich festzusetzen, einst den Beherrschern der Welt, den Römern, eine so schwere Aufgabe gewesen ist.

Noch steht er da, der hohe viereckige Römerthurm mit seinen altersgeschwärzten Quadern, der Ueberrest der alten Curia Rhaetorum, welche einst die kriegerischen Rhätier im Zaum halten sollte. Noch nennt das Volk von Chur, der Hauptstadt des Bündner Landes, diesen Thurm den Spinöl, die spina in oculis, den Dorn im Auge des Volkes, und wie der Zeuge jener grauen Vorzeit noch von der Höhe auf die Hauptstadt des Bündner Landes, auf Chur, hinabschaut, so ist auch das Blut der alten Rhätier noch nicht in den Adern des Volkes versiecht, denn noch heute sind die Bündner ein kriegslustiger und beharrlich ausdauernder Volksstamm.

Wenn schon die Zeiten lange vorüber sind, in welchen die alten Rhätier ihr Land mit wilder Energie gegen das Eindringen der Römer vertheidigten, und den Raubrittern, welche hier im Mittelalter eine furchtbare Tyrannei geübt haben müssen, ihr Gewerbe längst gelegt ist, so schickten doch die alten Geschlechter, die Toggenburg, die Buel, die Liechtenstein, die Salis, die Travens und viele andere, ihre Söhne immer noch in das Ausland, um sie zu Söldnern irgend einer Gewaltherrschaft zu machen und sie das heiße Blut in fremder Sache abkühlen zu lassen. Ein Theil der alten Bündner Geschlechter, der den deutschen Fürsten gedient hatte, setzte sich in Deutschland fest und half die deutsche Adelsaristokratie verstärken; ein anderer Theil aber blieb im Lande, stieg, durch den Wandel der politischen Ereignisse und durch die veränderten Lebensbedingungen gezwungen, aus seinen einsamen Burgen, aus seinen Wäldern und von seinen Felsen in die Thäler und in die Städte hinab, um nach dem Anschluß des Graubündner Landes an die Eidgenossenschaft unter den freien Bürgern der freien Schweiz wenigstens äußerlich ein bürgerliches Leben zu führen.

Trotzdem sind die Spuren der einstigen Adelsherrschaft noch in dem ganzen Bündnerlande sichtbar. Im Rheinthal und an der Via Mala, im Prätigau, im Domleschthal, im Engadin und an den Quellen des Inn, im Bergagliathal und hinab bis zu den italienischen Seen liegen sie weit verstreut, die zahlreichen Schlösser des Adels mit ihren Thürmen und mit ihren mauerumgebenen Gärten, und selbst in Chur und in seiner nächsten Umgebung sprechen die Stadtwohnungen des Adels, die Häuser mit der alten steinernen Wappenzier auch heute noch von dem Reichthum, welchen die Geschlechter einst besessen, als sie noch das Veltlin beherrschten und, römischen Proconsuln gleich, das Land aussogen, das sie erobert hatten.

Ein Zufall hatte uns in Chur zu Bewohnern eines solchen alten adligen Herrenhauses gemacht. Es war von außen eben nicht mehr viel Besonderes daran zu sehen. Unterhalb des Berges, welcher den Dom, den Bischofssitz, das Seminar und das Cantonsgymnasium trägt, war es in einem Garten am Rande der Plessur, des wild rauschenden Bergwassers, gelegen, das, hier aus engem Felsenthale hervorbrechend, sich später in den Rhein ergießt. Hohe Pappeln bezeichneten stattlich des Gartens Eingang, und der räumige Flur, die steinerne breite Treppe im Innern des Hauses, die schönen sich aneinanderreihenden Zimmer der drei Stockwerke mußten selbst einer zahlreichen Familie eine angemessene Wohnung dargeboten haben, als die Grafen von Rottenbuel das Haus noch inne hatten.

Jetzt waren die Grafen von Rottenbuel ausgestorben. Ihre Erben, die Herren von Rottenbuel, besaßen das Haus. Die einzelnen Stockwerke waren schon seit geraumer Zeit an verschiedene Familien vermiethet, und die nicht eben vermögenden Eigenthümer nahmen nur eines derselben in Beschlag. Wenn ihnen aber auch der alte, einstige Reichthum nicht mehr geblieben war, und wenn das im Jahre 1848 im Canton Graubünden erlassene Gesetz ihnen auch das letzte Vorrecht ihres Standes, die Erwähnung ihres Adels in öffentlichen Verhandlungen und Documenten, genommen hatte, so war ihnen doch noch die schöne und würdige Gestalt ihres Geschlechtes als ein letzter und großer Vorzug zu eigen geblieben. Der Typus der Köpfe war noch derselbe, welchen die Ahnenbilder des Hauses aufzeigten, und die Herren von Rottenbuel fühlten sich noch als Bevorzugte und Vornehme, obgleich einzelne Glieder der Familie, gegen die frühere Sitte des Geschlechtes, in bürgerliche Gewerbe überzutreten und Handel und Industrie zu treiben begonnen hatten.

Bei meiner Vorliebe für alles Physiognomische hatte ich mir oftmals die Bilder betrachtet, welche in der Wohnung unserer Gastfreunde und selbst auf den Fluren und Treppenwänden umherhingen, weil die Zimmer sie nicht alle zu fassen vermochten. Ich hatte sie mir dadurch fest in das Gedächtniß eingeprägt. Es waren zum Theil sehr schöne Köpfe, sowohl die der Männer als die der Frauen, und sie waren, namentlich die aus dem fünfzehnten und achtzehnten Jahrhundert, auch von guten Meistern gemalt. Der Zug der Familienähnlichkeit ließ sich durch das ganze Geschlecht hindurch verfolgen. Das dunkle Haar, die breite Stirne über den großen, weitgeöffneten Augen, die starke gradlinig vorspringende Nase und das feste rhätische Kinn mit dem kräftig geschnittenen Munde und den stolz geschwellten Lippen war fast Allen gemeinsam. Nur der Kopf des letzten Grafen von Rottenbuel, welcher nach der Inschrift, die keinem der Bilder fehlte, zu Paris im Jahre 1757 geboren war, wich von dem Familientypus ab.

Das Bild zeigte einen schönen, etwa dreißigjährigen Mann in der Uniform der französischen Schweizergarden und war ebenfalls gut gemalt. Die Grundformen des Kopfes waren freilich die des ganzen Geschlechtes, nur kleiner und weniger scharf ausgeprägt, aber der Graf war blond, und der Ausdruck der großen dunkelblauen Augen und die feinen Züge um die weichen Lippen hatten etwas so Schwärmerisches und so Melancholisches, daß man sich unwillkürlich fragte: was hat der Mann gethan und erlebt?

Wir blieben einige Wochen in dem Rottenbuel’schen Hause und verließen es dann, um einen Besuch auf einem Schlosse im Prätigau zu machen, dessen gegenwärtiger Besitzer, der hochbetagte Herr von Thuris, mit seiner ebenso bejahrten Schwester in dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_002.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)