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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

eine Art Bann von den Uebrigen zu lösen; ähnliche Aeußerungen fallen und halblaute Gespräche entspinnen sich, bis eine Stimme, die anderen übertönend, laut wird. „Ich habe wohl schlimmere Aussichten für einen Erfolg gesehen und nicht verzweifelt; ich denke, Gentlemen, wir gehen auf unsere Posten und arbeiten, so viel sich noch thun läßt. Wenn nichts versäumt wird, sehe ich noch kaum einen Grund zu besonderer Sorge!“ Aber nur langsam treten einzelne Gruppen zu kurzen Verabredungen zusammen, sich dann auflösend und geräuschlos entfernend.

In den Straßen ist es stiller als gewöhnlich; die zahlreichen Trinklocale sind geschlossen, und nur in der Nähe der einzelnen Stimmplätze läßt sich durch die immer dichter stehenden Menschengruppen die Bedeutung des Tages erkennen. Bitter hat sich mit Jim Sullivan dem nächsten Spritzenhause, wo der Wahlkasten der Ward zwischen den vereidigten Wahltrichtern aufgestellt ist, zugewandt. „Hurrah für das reguläre Ticket!“[1] werden schon von Weitem vereinzelte Stimmen laut, kein Oppositionsruf antwortet, und Bitter’s Gesicht beginnt sich etwas aufzuklären. „Es sind meist Arbeiter aus den großen Werkstätten!“ bemerkt Jim mit einem scharfen Blicke in das sich entwickelnde Menschengewühl, welches die Straße völlig sperrt, „sie haben einen halben Tag frei und bekommen ihn bezahlt, ich traue aber trotzdem dem Frieden noch nicht! – Halloh, Bob, wie steht’s?“ ruft er einen der ihm entgegen kommenden Tickets-Vertheiler an.

„Curios genug!“ erwidert dieser, sich in den Haaren kratzend, „genug Leute da, aber Keins rührt sich. Es können noch keine zwanzig Stimmen gefallen sein. Am Stimmkasten stehen einige von den großen Meistern und controliren Jeden, der nicht offen sein Ticket zeigt; das scheint die Arbeiter kopfscheu zu machen!“

Bitter drängt sich rasch zwischen den Gruppen hindurch, nach allen Seiten hin freundlich nickend und herabhängende Hände drückend. „Vorwärts, Kinder, woran liegt’s? Je eher wir fertig sind, desto eher kommen wir zum Biere. Flott, immer flott!“

Da schiebt sich plötzlich ein muskulöser Arm fest unter den seinigen, und „Flott, immer flott, Jungens!“ wird eine Stimme neben ihm laut. „Hier ist Capitain Bitter, der gern eine Hand in unserm Gelde hätte, aber: Hurrah für die Reform! und wer kein Feigling ist, der thut’s mir nach!“

Bitter sieht plötzlich eine Bewegung im die Masse kommen; einen Augenblick öffnet sich ihm die Aussicht nach dem Stimmkasten, wo er einzelne von den erwähnten großen Meistern zu erkennen glaubt; aber im gleichen Momente fegt auch eine Menschenwoge dort jedes bekannte Gesicht hinweg: „Hurrah für die Reform!“ klingt es lachend und schreiend; wie durch einen Zauber sieht er das feindliche Ticket in allen Händen um sich her und ist froh dem Gewühle zu entkommen, das ihn zu erdrücken droht. Jim ist abhanden gekommen, und mit einem grimmig gemurmelten: „Lumpenpack! bis Mittag wird’s hier anders pfeifen!“ macht sich der Schatzmeister-Candidat auf seinen weitern Weg.

Er gelangt in einen feinern Stadttheil und nach einer Viertelstunde sieht er einen neuen Stimmplatz vor sich. Hier geht’s wunderbar ruhig und ordentlich zu. Glatt rasirte Gesichter und stehende Vatermörder bezeichnen die Haute volée der Geschäftswelt, überall scheint das „reguläre Ticket“ zu regieren, aber auch wo sich die „Reform“ blicken läßt, wird nirgends eine Demonstration laut. Bitter fühlt sich hier in ruhigem Fahrwasser, und sein Aeußeres erhält wieder Selbstvertrauen, bis er eines Gesichts aus dem „Hauptquarter“ ansichtig wird und darauf lossteuert. „Wie steht’s anderwärts?“ fragt er eifrig. „Die irische Ward bleibt sicher wie immer,“ ist die Antwort, „wenn’s auch noch vor Mittag blutige Köpfe geben wird. Die Reformer werden nicht zum Stimmkasten gelassen, scheinen sich aber nicht geduldig fügen zu wollen. Indessen müssen die deutsche und die beiden Arbeiterwards vor allen übrigen den Ausschlag geben, und dort soll Vieles faul sein!“

„Werden bald bessere Luft hineinbringen!“ nickt Bitter energisch. „He, Jim –!“ ruft er, als er den Genannten durch die Menschen streichen sieht, „einen Wagen genommen und hinaus nach der „Sonne“. In einer Stunde müssen die Eisenbahnarbeiter in der deutschen Ward sein – ohne Fehl, ich erwarte sie dort!“ setzt er leise hinzu. Mit einem Blicke des Verständnisses fliegt der Adjutant davon, und Bitter wandert in die Straßen hinein, um irgend eine Hinterthür zu suchen, durch welche sich, trotz des Verbotes, zu einer geistigen Stärkung gelangen läßt. Möbelwagen mit einem Musikcorps an der Spitze und der großen Inschrift: „Hurrah für das reguläre Ticket!“ rasseln über seinen Weg; sie sind dazu bestimmt, aus den entfernten Stadttheilen die säumigen Stimmgeber, die Kranken und Lahmen zum Wahlkasten zu bringen, und der Capitain winkt mit seinem Stocke den Führern einen ermunternden Gruß zu; in einer Stärke von halben Compagnien werden Trupps von jungen Fremdgeborenen nach dem Courthause geführt, um zu amerikanischen Bürgern gemacht zu werden und dann nach dem ihnen eingehändigten Wahlzettel zu stimmen, die alte Partei bezahlt heute für Jeden, der sie unterstützt, das Bürgergeld; an den Ecken stehen discutirende Menschenhaufen, und Bitter erkennt in den Sprechern wohlbekannte Gesichter; überall sieht er eine rastlose Thätigkeit sich entfalten, und mit gehobenerem Herzen schlüpft er endlich in eine enge Seitengasse, um hinter dem Glase die nächste Stunde für seine eigene weitere Thätigkeit abzuwarten.

Als er endlich, einen Feldzugsplan in seinem Kopfe umherwälzend, die Richtung nach der deutschen Ward einschlägt, kommt ihm im raschen Einspänner Simmers entgegen. „Halloh, Capt’n!“n ruft dieser, ihn bemerkend, „wir bleiben Freunde, so oder so!“

„Geh zur Hölle!“ brummt der Angerufene und wendet das Gesicht ab, rascher seinem Ziele zuschreitend. Schon als er dem letztern naht, bemerkt er zahlreiche Gestalten unter der Menge, die ihm zeigen, daß seine Bundesmacht angekommen. Vorsichtig wendet er sich durch den Menschenknäuel und läßt plötzlich ein energisches: „Hurrah für das reguläre Ticket!“ ertönen. Wie die zum Gliederfeuer angeschlagenen Gewehre, die nur des Commando’s geharrt, wiederholen neben und um ihn brüllende Stimmen den gleichen Ruf; bis zum fernen Ende der Menschenmasse klingt er wieder, und zugleich kommt unter diese eine wilde, wogende Bewegung. Von allen Seiten drängen sich rauhe, kräftige Gestalten dem Stimmkasten zu, der bald durch sie von der übrigen Menge völlig abgeschlossen zu sein scheint. Da aber wird vorn eine klingende Stimme laut: „Wer sind die neuen Wähler? Ich mag keinen Verdacht aussprechen, aber ich verlange, daß Jeder, den wir nicht kennen, durch Eid seine Rechtmäßigkeit darthue!“ – „Bravo!“ – und „Hurrah für die Reform – fort mit den importirten Stimmen!“ tönt es von hinten; Bitter, welcher seinen Verbündeten sich nachgedrängt, sieht zwei junge Deutsche neben dem Wahlplatze sich dem Andränge der Eisenbahnarbeiter entgegenstellen, sieht die Ersteren durch zehn plumpe, sich hebende Fäuste weggestoßen, aber zugleich auch die Linie seiner Hülfsmacht von hinten durchbrochen und die Bedrohten von muskulösen Gestalten umgeben. Da fällt ein Faustschlag, und in der nächsten Secunde verbirgt ein wirrer, kämpfender Menschenknäuel den Stimmplatz. „Drauf! Nieder mit den Betrügern!“ klingt es von der Rückseite der Masse, und Bitter fühlt sich in ein wildes Durcheinander hineingerissen, ein Schlag klatscht in sein Gesicht, der ihm halb die Besinnung raubt; Geschrei, Flüche und Anfeuerungen zum Kampfe tönen von allen Seiten in seine Ohren; ohne zu wissen wie, sieht er sich endlich aus der Menschenmenge erlöst, sinkt aber, seiner Sinne nicht mehr mächtig, auf den Stufen eines Hauses nieder.

Wie im Traume nur fühlt er sich endlich fortgeführt; er weiß, daß er in ein bekanntes Trinklocal geleitet wird, daß sich helfende Hände um ihn bemühen und er begierig die ihm gereifte Stärkung einschlürft, aber eine unbesiegliche Müdigkeit läßt ihn bald Alles in dem ihn überkommenden Schlafe vergessen.

Als er erwacht, ist es Abend, und bald stehen alle erlebten Vorfälle wieder klar vor ihm. Ein einzelnes bekanntes Gesicht ist über den Tisch, unweit des Divans, auf welchem er liegt, gebogen. „Wie steht’s mit der Wahl?“ fragt er.

„Schlecht,“ erwidert der Dasitzende, ohne aufzublicken, „wir brauchen nicht einmal die Stimmzählung abzuwarten. Die deutsche Ward, welche die importirten Eisenbahnarbeiter mit blutigen Köpfen heimgeschickt, hat unserer Sache noch den letzten Gnadenstoß gegeben.“

Der Daliegende erhebt sich langsam, nimmt Hut und Stock und entfernt sich wortlos, den Weg nach seiner Wohnung suchend. An der nächsten Ecke aber bleibt er stehen und blickt wie unschlüssig nach den verschiedenen Richtungen. „Es wäre vielleicht am besten, ich ginge gleich in den Fluß!“ murmelt er; dann aber, wie in einem zweiten Gedanken, schüttelt er den Kopf und sagt: „Hätte ich doch ein Bein gebrochen, als ich das erste Mal für ein Amt lief!“

  1. Ticket wird bei Wahlen kurz der Zettel mit den Namen der aufgestellten Candidaten einer Partei genannt, welcher zur Erleichterung des Stimmens in zahllosen gedruckten Exemplaren ausgegeben wird.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_010.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)