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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

hat tiefliegende Augen mit einem gelblichen Hofe und liebt das Kurella’sche Brustpulver oder auch gebackene Pflaumen, die er selbst nüchtern in den Morgenstunden, jedoch ohne die Steine, verzehrt. Gleich jenen Geschöpfen, die den Moschus, Bisam und Bezoars liefern, zeichnet er sich durch eine „Hämorrhoiden“ genannte Eigenthümlichkeit aus, die ihn, nachdem er schon Monate lang dadurch lebhaft beunruhigt worden, endlich in den längsten Tagen des Jahres aus den Mauern der Städte auf die Berge treibt.

Hier findet man ihn im Juli, August und September auf allen für Fußgänger besonders schwierigen Straßen und Punkten, meistens in Begleitung eines Führers oder Knaben, niemals aber zu Pferde. Den Namen „Stundenfresser“ hat er wegen seiner Manie erhalten, die längsten Tagereisen ohne sonderliche Rast zurückzulegen und das Vergnügen seiner Reise nach den möglichst in einem Athem durchrannten Strecken abzuschätzen. An seinen Füßen trägt er außer den Gamaschen dicke, mit ungeheueren Nägeln beschlagene Schuhe, welche, von Seinesgleichen im gebirgigen Norden Deutschlands angewandt, den Harz oder Thüringen als Berglandschaft vollständig ruiniren würden. Seine Tracht verziert er gern mit Haaren und Federn von Alpenthieren; er liebt vor Allem die Hörnchen der Gemsen und die Spielhahnfeder. Wegen Milz- und Leberbeschwerden strebt er nach einer von seinen städtischen Gewohnheiten ganz abweichenden Lebensweise und schließt sich gern den Sennen an, bei denen er sich Tage lang von Milchkost nährt. In den Hotels entwickelt er einen ungeheueren Appetit, auch wohl mäklerische Unarten, die er von Hause mitgebracht, aber unterwegs durch philosophische Reflexion unterdrückt hat. Er glaubt noch an den Original-Gemsbraten und ißt während der Schonzeit den ältesten Ziegenbock des Dorfes als ein im Hochgebirge geschossenes Zicklein. Er führt regelmäßig in der Reisetasche ein Notizbuch, in welchem er Abends die Ereignisse jedes Tages aufzeichnet, um im Winter daraus kleine Artikel für das Localblatt seiner Heimath oder Vorlesungen für Damen anzufertigen. Wie gesagt, trifft man ihn überall, vom Genfer- bis zum Bodensee, von Basel bis Pontresina in der Nähe des Bernina, im Chamouni, wie im Lauterbrunnenthal, nur nicht in Pensionen und Ortschaften, die sich für einen längeren und ruhigen Aufenthalt eignen.

Eine seltenere und feine Spielart dieses Reisenden ist das in England und vorzüglich in London lebende „Mitglied des Alpenclubs“. Man begegnet ihm in Savoyen, im Engadin, am häufigsten aber in Zermatt, am Ende des Vispachthales. Er unterscheidet sich von dem gemeinen Fußreisenden, wie der Gold- und Silberfasan von seinem böhmischen Vetter, dessen Braten wir ohne wissenschaftliche Gemüthsbewegung verzehren. Das Mitglied des Alpenclubs gelangt zu dieser Würde erst nach Ersteigung gewisser Höhen über der Meeresfläche und nach Zurücklegung ausgezeichnet schwieriger Wege. Kenntnisse in der Physik, Mathematik, Geologie und Chemie dürfen ihm nicht fremd sein, da es zur Anstellung von Beobachtungen für den Club verpflichtet ist und zu den gelehrten, an Tabellen arbeitenden, für Akademieen schreibenden und sammelnden Touristen gehört. Der Alpenclubbist ist stets ein gesunder, stattlicher Bursche von mehr Manieren, als seine ungelehrlen Landsleute, da er die Hülfe der Eingeborenen dringend braucht und die Erfahrungen der Reisenden anderer Nationen gern für seine Zwecke ausbeutet. Die Tracht dieser Herren ist anscheinend nach einer Theorie des Clubs geordnet und mit englischer Praxis allen Schwierigkeiten der Bergreisen angepaßt. Leichtere, aber doch unverwüstliche Bergschuhe, Kniehosen, lederne oder wollene Strümpfe, ein elegantes rothes oder blaues Hemde aus Vigognewolle, ein Hut, unter dem ein zartes, leinenes Tuch den Hals vor dem Sonnenbrande schützt, handliche Bestecke und Becher, Schreib- und Zeichenmaterialien, Alles auf den engsten Raum zusammengepackt, vollenden die Ausrüstung. Das Mitglied des Alpenclubs hat längst sein Testament gemacht und fügt vor der Abreise auf den Continent ein Codicill hinzu, einen Beitrag für milde Anstalten betreffend. Da sein Beruf ihn wesentlich auf Gletscherfahrten, Durchwaten von Schneefeldern, Ueberkletterung von Felsspalten auf Leitern, Ersteigung der äußersten Bergspitzen mittelst in das Eis gehauener Stufen anweist, regt sich in ihm eine löbliche Neigung zu religiösen Uebungen. An den wichtigsten Anfangspunkten der Bergfahrten des Clubs halten sich daher, z. B. zu Zermatt, junge Geistliche auf, welche den sonntägigen Gottesdienst feiern, beim Diner den Vorsitz führen, durch ihre fromme Gegenwart jeden sittigen Engländer, auch wohl solchen deutschen Heiden, wie den Verfasser dieser Naturbeschreibung, veranlassen, nach der Landessitte Messer und Gabel stets über Kreuz zu legen, und den Clubbisten den nöthigen geistlichen Beistand leisten, sobald sie Rippen, Arme und Beine zerbrochen oder anderweitige lebensgefährliche Unfälle erlitten haben.

Die heroische Species der Alpenclubbisten sucht mit sichtlicher Leidenschaft jungfräuliche Gipfel zu ersteigen, oder auf ältere Berge von einer neuen Seite zu klimmen, errichtet auf allen Spitzen weit sichtbare Malzeichen und versteckt in Spalten gern Thermometer mit jener den Physikern bekannten Vorrichtung, den tiefsten Kältegrad des Winters für die Beobachtung des nächsten Clubbisten zu fixiren. Die Schweizerführer haben eine geheime Scheu vor dieser stattlichen Race, weil die Angehörigen derselben ihr Leben ebenso leichtsinnig in die Schanze schlagen, wie ihr Geld, und es für eine Auszeichnung halten, ihren Namen auf dem Leichensteine irgend eines entlegenen Alpenkirchhofes zu lesen.

Ganz das Gegentheil des Alpenclubbisten ist die häufig vorkommende Bastardart des falschen Clubbisten, dessen Beobachtung die Zoologie erst den neuesten Naturforschern verdankt. Der falsche Gletscherfahrer wird von der Oberflächlichkeit zwar vermöge seiner gutnachgemachten Außenseite leicht mit dem Original verwechselt. Dem Scharfblick macht sich indessen die kokette Ausstaffirung seiner Effecten verdächtig, aber auch der Neuling erkennt ihn sehr bald am „Pferde“ oder „Maulthier“ als nachgemacht. Der echte Alpenclubbist reitet nie und wird deshalb von allen seinen weniger rüstigen Landsleuten mit größter Hochachtung behandelt. Die bezeichnete Bastardspielart renommirt ferner bei Tisch mit ihren Exkursionen, trägt Compasse und Thermometer, chirurgische Bestecke und Arzneibüchsen tendenziös zur Schau, verhält sich aber der Unbill des Wetters gegenüber überaus weichlich. In Randa, am Fuße des berüchtigten Gletschers, der im Jahre 1819 herabstürzte, wurde ich eine Stunde lang durch einen jungen, prachtvollen Clubbisten arg getäuscht. Es stürmte draußen rasend, und der Jüngling erzählte während dessen mit Wonne von seiner Besteigung des Monterosa; als aber das Schweizermädel im Kamin ein Feuer aus Lärchenholz anzündete und der prachtvolle Clubbist sich zuerst vor mehreren Damen herandrängte, um seinen hintern Menschen zu wärmen, war er in meinen Augen sofort entlarvt und nie Mitglied des tapfern Clubs gewesen.

Zu den interessantesten Spielarten der Schweizer Fußreisenden gehört die Species der Inseparables. Sie leitet ihren Namen von der Eigenthümlichkeit des Männchens her, das Weibchen stets mitzunehmen, mit ihm aus einer Schnapsflasche zu trinken, schlimmsten Falles auf demselben Heu zwischen Führern und Pferdeknechten zu schlafen, mit großer Ausdauer die schwierigsten Kämme zu überschreiten und jeder Witterung Trotz zu bieten. Das Weibchen ist nur ganz in der Nähe vom Männchen durch seinen bis hoch über die Kniee aufgeschürzten Rock zu unterscheiden; hinsichtlich der Größe der Hände und Füße, der Derbheit des Knochensystems, der braunen Gesichtsfarbe und der groben Stimme sind beide Geschlechter einander bis zum Verwechseln ähnlich. Am leichtesten erkennt man den Hahn an dem Ranzen, den er über die Schultern gehängt trägt. Die Inseparables durchziehen alljährlich die Schweiz und sind in den meisten Hotels bekannt und angesehen. Sie gehören zu ihren Stammgästen, und ein unerfahrener Fußreisender erspart viel Geld, macht gute Erfahrungen und reist mit Sicherheit, wenn er stets hundert Schritte hinter einem solchen behäbigen Paare drein geht und in Kost, Logis und Reiseeintheilung unbedingt seinem Beispiele folgt. Kann er das Vertrauen der Inseparables erwerben, so ist es für ihn noch vortheilhafter. Auch dem Fußreisenden, der sein Junges, gewöhnlich einen deutschen Gymnasiasten oder englischen Kostschüler, mit sich führt, darf der Unerfahrene unbedingt vertrauen, insofern er nicht von verwöhnterer Complexion ist, denn fußreisende Väter und Onkel in Begleitung ihrer Kleinen sparen in pädagogischer Tendenz gern Geld, nehmen keinen Anstoß, in Ställen, hart über den Ferkeln und unter den Ziegen zu schlafen, leben nicht selten Tage lang von einer Morgenportion Kaffee, nebst Käse und hartem Brod in den späteren Nachmittagsstunden, und gehören zu den hartmäuligsten Trabern der Felspfade.

Den Sonntagsfußgänger fängt der Naturforscher leicht in Wäggis am Rigi, in Thun, Zürich und Interlaken. Er klagt in den meisten Fällen über eine Blase am Fuß, entzündete Augen und hartnäckige Verstopfung. An ihm zehrt eine krankhafte Schwermuth, die auf einen mit eingebrannten Berg- und Paßnamen versehenen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_014.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)