Seite:Die Gartenlaube (1862) 015.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Alpenstock gerichtet ist, ohne daß er ihn sich jedoch anders, als durch Kauf von einem die Schweiz verlassenden und des schwer transportabeln Geräthes überdrüssigen Touristen verschaffen kann. Mit einem großen Aufwand von Redensarten bringt er sich endlich auf den Rigi oder die Wengernalp, ersteht dort mit beträchtlichen Kosten einige Holzschnitzwaaren zum Andenken für die Seinigen und beschließt seine Reise durch die Erwerbung einer bunten Reliefkarte der Alpen in Zürich. Im Winter erkennt man ihn in der flachen Heimath leicht an seinen selbstzufriedenen Erzählungen von gemachten Bekanntschaften berühmter Bergsteiger und Führer. Im Haslithale lebt ihm ein vertrauter Freund, der zweimal in eine Gletscherspalte gefallen und glücklich herausgeholt worden!

Zuweilen wird der Sonntagsfußgänger von einer fieberhaften Verlegenheit überfallen, die, namentlich in der Schweiz selber, unerfahrene Personen in große Verlegenheiten stürzen kann; man thut daher wohl, den Angaben keines Sonntagsfußgängers unbedingt zu trauen, oder gar seinen persönlichen Anschluß zu dulden. In letzter Instanz ist er immer auch Sonntagsesser, Trinker und Schläfer. Er verursacht regelmäßig mehr Unbequemlichkeiten, als Vergnügen durch seine Gesellschaft. Aber er kann vermöge seiner zeitweiligen Begeisterung und Ekstase zu den angenehmen Genossen bei Tisch gehören. Der kantigste Champagner von Neuschateller Fabrik wird in den Hotels für den enthusiastischen Sonntagsfußgänger aufgespart, und die zur Cither jodelnde Schweizerin verdankt seiner Emphase stets ihre reichlichste Gabe. Kann er irgendwo, wenn auch nur für Stunden, „Nationaltracht“ anlegen, so thut er es nicht mehr als gern, selbst wenn er sich dadurch von Seiten eifersüchtiger Eingeborenen des Landes Unannehmlichkeiten zuzieht. Mißlingen ihm durch schlechtes Wetter Bergpartien, so ergiebt er sich gewöhnlich dem Molkentrunk oder dem Fischfang, obgleich selbst die Forellen ihn zu kennen und zu verachten scheinen. Die meisten schlechten Verse und Verwünschungen des Gebirges in den Fremdenbüchern der Hotels, aber auch die wärmsten Empfehlungen in den Albums der Führer rühren von dieser weitverbreiteten Gattung der Reisenden her. Jüngere Exemplare werden nicht selten von Leidenschaften für Mädchen in der kleidsamen Tracht des Berner Oberlandes verzehrt und zeichnen ihre Portraits mit Bleistift.

In dunklen Schluchten, an steilen Felswänden, wo mannigfaltige Gesteine klar zu Tage liegen, auf Matten, die sich durch seltene Alpenpflanzen auszeichnen, an eigenthümlicheren, entweder rasch vorrückenden oder zurückweichenden Gletschern, trifft man die freundliche Spielart des deutschen Professors. Seiner geringen, oft hart mitgenommenen Tracht nach gleicht er einem ärmeren Landmann; da er als gefühlvoller Mensch seinen Bart nur dem Messer eines städtischen Figaro’s anvertraut, starrt aus den Wangen des Professors ein wildes, meistens schon angegrautes Grummet, die Bergschuhe sind vielfach geflickt, die leinenen Kleidungsstücke nicht übermäßig reinlich, Alles deutet auf Strapatzen und rastlosen Fleiß in der Erforschung schwer zugänglicher natürlicher Gegenstände. Der sparsame, Monate lang die Alpen durchwandernde Professor bedient sich keines Führers, sondern nur eines Knaben, der für eine Kleinigkeit seine Reisetasche von Dorf zu Dorf trägt. Regnet oder schneit der Professor ein, so beginnt er gleich am Kaffeetisch, mitten unter den schwatzenden Touristen, an seinem Tagebuch zu arbeiten, oder mikroskopische Untersuchungen von Pflanzentheilen oder aufgespießten Insecten anzustellen. Immer führt er etwas häßliches Mehrfüßiges in Spiritus bei sich, das er unumwunden zwischen das Kaffeegeschirr und die Milchtöpfe stellt, ohne an den Ekel und das Grauen der Laien zu denken. Der Wechsel von Einsamkeit und Umgang mit den verschiedenartigsten Menschen haben ihn zum Humoristen gemacht; Heil dem gebildeten Reisenden, den er in seiner Nähe duldet, oder dem er gar gestattet, sich ihm für längere Zeit anzuschließen! Er kennt die Schweiz aus- und inwendig. Es giebt kaum einen Ort in den Alpen, an dem er nicht schon einmal gewesen wäre. Wißbegierige Menschen können in jeder Hinsicht von ihm lernen, vorausgesetzt daß sie seine Marschrouten aushalten, denn unter gewissen Umständen ist der deutsche Professor nichts weiter, als ein „gemeiner Stundenfresser“ der gefährlichsten Art. In mancher Hinsicht ähnelt ihm der reisende Künstler (Landschaftsmaler), doch sucht dieser statt düsterer, verkommener Punkte, wo das zerbröckelte Material des Erdballs deutlicher zum Vorschein kommt, gewöhnlich nur die liebenswürdigen Seiten der Natur auf. Er wird nicht selten in Gegenden angetroffen, wo sich sonst nur die Gemsen und Murmelthiere wohl zu fühlen pflegen. Diese beiden Species von Reisenden sind in den Hotels wenig angesehen, da sie nicht viel verzehren und fast niemals mit dem Reisetrain von Führern, Kutschern und Trägern in Verbindung stehen. Der Künstler ist schon vermöge seiner Beschäftigung gewöhnlich ungesellig und nur Abends in Sennhütten genießbarer. Er jodelt und versteht das Alphorn zu blasen.

Erstrecken sich diese mannigfaltigen Species des Fußreisenden bis in die Region der Hochalpen, ja der Firnmeere und des ewigen Schnees hinauf, so beschränkt sich der reitende Tourist fast ganz auf Gegenden in der Höhe der Mittelalpen. Er liebt gute und reichliche Fütterung, namentlich warme Fleischspeisen und frisches Brod, ist zu verwöhnt, um auf Heu zu schlafen, will seinen Durst mit Wein löschen und vermeidet daher grundsätzlich die höheren Regionen, wo dem Menschen nur Milch, Käse und hartes Brod geboten werden können. Niemals trennt er sich von gewissen Bequemlichkeiten des bürgerlichen Lebens, er führt einen reichlichen Wäschevorrath mit sich, Seifen feiner Art, Pomaden und Parfüms, er verfügt stets über einen ausreichenden Cigarrenvorrath, eine kleine Reiseliteratur zur Ausfüllung von Regentagen, und disponirt der Sicherheit wegen über Anweisungen auf Banquiers in Genf und Basel. Befindet sich das Weib seiner Wahl mit ihm auf Reisen, so wird nicht selten ein drittes Roß oder Maulthier zum Tragen der Effecten gemiethet, das nicht selten unter einer Last von drei bis vier Koffern seufzt.

Im Rhonethale brachte ich einen halben Tag in Gesellschaft eines solchen (alten) Ehepaares zu. Der Gatte, ein Lord von schwerstem Kaliber, kleidete sich täglich dreimal um. Frühmorgens repräsentirte seine Toilette in den Stunden, wo gewöhnlich bergan geritten wurde, den „Frühling“: mitteldichter Rock, leichterer Plaid, halb Regen- halb Sonnenschirm[WS 1], schottische Mütze, braune Gamaschen, Cognac! Von elf Uhr an ging er in den „Sommer“ über: weiße Tracht, feiner Leinen, Sonnenschirm, hellgraue Gamaschen, Glacé- oder seidene Handschuhe, blaue Brille oder grüner Flor, moussirende Limonade aus Sion, Mittagschlaf auf dem Sopha des Gastzimmers! Um drei Uhr begann der Winter: langer Oberrock, dunkler Hut, bis an den Hals zugeknöpfte Weste, Stiefeln mit dicken Sohlen, dunkelgrüner Regenschirm, schwarze Cravatte, Bordeaux! Mylady folgte zwar nicht ihrem Gemahl in der Nachbildung der Jahreszeiten, allein sie war von Bewunderung seiner Person durchdrungen und betrachtete den merkwürdigen Gespons nach dem Uebergange aus einer Saison in die andere oft Viertelstunden lang durch ihr Augenglas. Nach Tisch hielt sie ihren Mittagsschlaf, gelehnt an die Schulter des „Winters“; das schien zur Tagesordnung des Paares zu gehören.

Der größere Theil der in Gruppen reitenden Touristen stammt überwiegend aus England und Amerika, doch rekrutirt er sich in den letzten Jahren auch stärker aus Frankreich und Deutschland. Er giebt den Ton in den Hotels an und entscheidet über die Rentabilität der Saison. Als ich einen Oberkellner mit weißer Cravatte nach dem Reisebesuch des letzten Jahres fragte, sagte er, wie Talleyrand das Kinn in die Cravatte ziehend: „Monsieur, die Saison ist verpfuscht!“ Das Hotel wurde seit acht Tagen nur von niederträchtig wohlfeilen Fußreisenden, pro Kopf und Tag zu acht bis zehn Franken gerechnet, besucht. Dabei muß das gastliche Helvetien zu Grunde gehen. England sitzt obenan beim Mittagstisch, in manchen Hotels hat es sogar eine eigene Specialtafelrunde, und der gemeine Tourist wird an den „Katzentisch“ verwiesen. Für die Cavallerie der Alpen werden die besten Cotelettes, die frischen Eier, die ruhigsten Zimmer, die trockensten Betten verwahrt. Die Insulaner werden zuerst, oft sogar allein aufmerksam bedient. Ihnen werden in kritischen Fällen stets die besten Pferde, die sichersten Kornaks zu Theil. Die Zahl der schweizer Gasthäuser ist seit einigen Jahren jedoch so angewachsen, daß diese Unbequemlichkeit für anspruchslosere, namentlich deutsche Reisende zu verschwinden beginnt, allein es giebt noch immer empfindliche Naturfreunde, die lieber in Tyrol Mangel und Entbehrungen ertragen, ehe sie sich in der comfortabeln Schweiz absichtlich hintenan setzen lassen. Nur die eingetretene große Concurrenz der Wirthe kann diesen couventionellen Uebelstand beseitigen, doch giebt es auch noch glückliche Districte, in denen der englische Reisende sich noch nicht übermäßig vermehrt hat, so die östliche Schweiz, vorzüglich das Oberinnthal.

Bis zur Bösartigkeit verwildern kann der reiche englische

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sonnenschirn
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_015.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)