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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Ein Nichtamnestirter.

Gottfried Kinkel.
Nach einer Photographie aus dem Jahr 1861.


Die gewöhnlichen Engländer wissen nicht viel von Deutschland, aber bis in die niedrigsten Schichten herab kennen sie Hamburg, Luther und Kinkel. Ich habe das während der zehn Jahre in London oft genug erfahren. Andererseits, so oft ein Deutscher nach England kam, hoch oder niedrig, schwarz-weiß oder roth – immer ganz ohne Rücksicht auf politische Farbe oder Lebensstellung; so oft ich nach meiner Rückkehr in’s Vaterland hohe oder niedere Personen, Beamte, Officiere, Bürger oder Bauern begrüßte: immer blieben sie nach dem ersten Durcheinander von Fragen und Antworten an dem Namen und der Persönlichkeit Kinkel’s haften. Da nun Andere in ähnlichen Verhältnissen immer dieselben Erfahrungen machten, so haben wir den thatsächlichen Beweis für die Bedeutung, welche Kinkel für unsere Zeit sich errungen hat.

Kinkel’s Leben und Geschicke sind wie ein Epos, wie ein Drama, das durch tragische Handlung den Ausspruch Fanny Lewald’s zur Anschauung bringt: „Man bewundert die Wahrheit und ewige Tiefe des berechtigten Anfangs und – beweint die Consequenzen.“ Das Volk hat sie an Kinkel beweint, wie sonst wohl nie und nirgends, wird sie aber auch noch zu ehren, zu verwirklichen trachten.

Kinkel ist der Sohn eines Geistlichen und zwar eines protestantischen mitten im Katholicismus des rechten Rheinufers. Hier ward er am 8. August 1815 in Oberkassel geboren, eine Stunde von Drachenfels und den Siebenbürgen, auf der alten Grenze von Nord- und Süddeutschland, Franke, Rheinländer und doch in einem echt protestantischen Vater- und Predigerhause und in einer Zeit, als noch Niemand wußte, welchem Herrn sein Geburtsort diplomatisch vermacht werden würde.[1] Vielfach einsam, Einsamkeit liebend, in sich gekehrt und reiche Eindrücke auf eigene Weise in sich verarbeitend, als Kind und Knabe schon arbeitsam und riesenfleißig, ward er mit dem sechzehnten Jahre Primaner auf dem Gymnasium zu Bonn und machte im siebzehnten sein Abiturientenexamen, durch welches er sich das Zeugniß Nr. 1 erwarb.

Den sehr jungen und schlanken, schwarzlockigen und dunkeläugigen Studenten Kinkel finden wir in Bonn als evangelischen Theologen für sein Alter sehr ernst und gottesfürchtig. Kein übermüthiges Renommiren und Kneipen. Nach dem Colleg studirt er im väterlichen Hause, da sich sein Vater in Bonn zur Ruhe gegesetzt hatte, oder unterhält sich ernst über göttliche Fragen mit dem Vater, der sorgsamen Mutter, der frommen Schwester. Auch im Umgange mit wenigen treuen Freunden (Marheineke, Bögehold, seinem nachmaligen Schwager und jetzigen Prediger des Zellengefängnisses in Moabit bei Berlin etc.) tritt mehr religiöses und theologisches

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_021.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2020)
  1. Später ward er ein „angefallener“ Preuße, wie sie’s am Rheine nennen.