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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

ja, daß ich die theuerste Arznei ohne Rücksicht auf die Dosis verschreibe, das kostet viel Geld.“

„Wird hier bei Ihnen jeder Kranke, ohne Rücksicht auf die Religion, zu der er sich bekennt, aufgenommen, Signor Dottore? Auch die Ketzer?“

„Der Orden der barmherzigen Brüder und das Irrenhaus von San Servolo kennen keine Ketzer. Für ihn giebt es als einzige Richtschnur nur den Wahlspruch, den Sie gelesen haben.“

„Aber Sie sind ein Italiener, Signor, Sie lieben Italien; finden auch die Feinde Ihres Landes hier Aufnahme? Ein österreichischer Soldat?“

Ueber das schöne, kluge Antlitz des mir gegenübersitzenden Arztes flog wieder das milde, ruhige Lächeln.

„Der Orden der barmherzigen Brüder und das Irrenhaus von San Servolo kennen keine politische Feindschaft. Ich liebe Italien. Aber auch die Feinde Italiens finden hier dieselbe Aufnahme, wie die Ketzer, wie Sie sie nannten. Für mich giebt es nur das Gebot der Liebe und des Wohlthuns, der Wahlspruch meines Ordens.“

Mit einem Gefühle von Hochachtung, wie ich es selten vor einem Menschen empfunden habe, trennte ich mich spät Abends von dem Irrenarzte in San Servolo. Zum ersten Male hatte ich einen jener großen Apostel des Christenthums gesehen, von denen uns die Geschichte des Mittelalters erzählt, welche ein ganzes, langes Leben der Erfüllung der Pflichten ihrer religiösen Ueberzeugung opfern. Man hatte mir in Venedig gesagt, daß der Pater Arzt in San Servolo ein Mann von ausgezeichneten medicinischen Kenntnissen sei, dem es leicht werden würde, eine bedeutende und glänzende Stellung an dem großen Hospital in Mailand oder an jedem ersten Krankenhause in Italien zu bekleiden, wenn er es nur wolle. Und hier lebte er einsam, fast ohne jede geistige Unterhaltung, mitten zwischen armen Kranken und Blödsinnigen, ein Leben voll Anstrengungen und Entsagungen – weil er es so wollte, oder nein, weil er der Ueberzeugung war, das höchste Gebot seines Ordens so am besten zu erfüllen. Und so ohne Prunk in seinem Wesen, nicht einmal in der Erfüllung seiner Pflichten sich brüstend, so anspruchslos, so bescheiden, so ohne Sehnsucht nach den Genüssen und Freuden einer der prächtigsten Städte Italiens, deren Tanzmusik der Abendwind an den Strand seiner düstern Insel trug, deren Lichtschimmer den Horizont röthete! Als ich in die Gondel stieg, um nach Venedig zurückzukehren, konnte ich nicht umhin, die Gefühle von Hochachtung, welche mein Herz empfand, in lebhaften Worten auszusprechen. Da überflog noch einmal das milde, ruhige Lächeln seine schönen Züge; er drückte mir herzlich die Hand zum Abschiede, während er die Linke zu der goldenen Inschrift über dem Marmorbogen des byzantinischen Thores erhob, an dessen unterster Marmorstufe meine Gondel sich schaukelte.

Die Bilder des armen Irrenhauses von San Servolo und jenes Priesters der wahren Christusreligion traten mir wieder vor die Seele, als ich kürzlich auf meiner Reise durch die Herzogthümer das Irrenhaus in Schleswig besuchte. Ihre Contouren wurden schärfer; die klösterliche Ruhe, die stille Einfachheit, der religiöse Sinn, der in den Krankensälen jenes traurigen Hauses auf der kleinen, öden Insel des adriatischen Meeres waltete, welche wie ein grauer Streifen zwischen den glänzenden, blauen Fluthen und dem mit den warmen, farbigen Tinten des Südens geschmückten Himmel Italiens sich abhob, besonders aber die erhabene Gestalt des Pater Arztes vom Orden der barmherzigen Brüder mit seinen schönen, guten Augen und mit seinem milden Lächeln traten in diesem Bilde der Erinnerung um so lebendiger und charakteristischer hervor, je länger ich in den großen, mit allem Comfort versehenen Sälen und auf den langen, prächtigen Corridoren dieses deutschen Irrenhauses weilte. Dort, auf jener kleinen Insel im Meer, umschloß ein einziges, großes, graues Gebäude sämmtliche Räume, in denen zweihundert Kranke ihre Genesung oder den Tod als den Erlöser aus ihrem traurigen Dasein begrüßen sollten, und kaum hatte das kleine Eiland zu jenem Gärtchen und zu jenem mit Marmorfließen bedeckten Platze Raum, wo die Kranken die linde Abendluft einathmeten und auf die entfernten Klänge der Musik des Marcusplatzes lauschten. Hier, in Schleswig, standen palastartige Gebäude in einem parkähnlichen, mit schattigen Alleen, duftigen Rasenplätzen und in allen Farben schimmernden Blumenbeeten geschmückten Garten. Die hohen Korridore, die mit allem Comfort versehenen Wohnzimmer der Kranken und die mit luxuriösen Tapeten, Mobilien und Teppichen ausgestatteten Conversationssäle, die breiten Treppen, die geräumige Kirche zeugten von Ueberfluß an Allem, was zur Verwaltung und Ausstattung der Anstalt nothwendig war – es war ja die gemeinschaftliche Irrenanstalt der Herzogthümer Schleswig-Holstein, eines der reichsten und fruchtbarsten deutschen Länder –; über 600 Kranke bewohnten diese stattlichen Räume und spazierten in den Alleen und zwischen den Blumenbeeten dieses schönen, großen Gartens. Dort versah ein einziger Priester mit einigen Ordensbrüdern und wenigen Wärtern sämmtliche Kranke; hier waren eine Menge Aerzte, Kranke und Wärter angestellt, und kein Arzt brauchte mit ängstlicher Sorge zu berechnen, ob die starken Dosen der theuren Arznei auch finanziell in der Apotheke des Hauses herzustellen seien.

Aber auch sonst war es hier ganz anders. Die christliche Liebe, die zarte, ärztliche Sorgfalt, welche in San Servolo waltete – sie fehlte hier; der Pater Arzt vom Orden der barmherzigen Brüder, der innerhalb der Mauern seines Klosters weder Ketzer noch Feinde Italiens kannte, der nur dem Gebote seines Ordens gehorchte, welches die höchsten Lehren des Christenthums umschloß, die Lehren von der Liebe, von der Barmherzigkeit und von der Brüderlichkeit, dieser Mann war nicht da. Statt seiner waren Aerzte da, von denen Einer den Andern haßte, unter denen Einer den Andern ausspionirte, unter denen Einer mit dem Andern in einer Sprache sprach, die der Andere nicht verstand, obschon er die eigene Sprache seines Collegen wohl zu sprechen wußte, von denen Einer den Andern verleumdete und aus seinem Amte zu bringen suchte. Man horchte. Man sprach leise. Aengstlich schaute man sich um, wenn man sprach; denn das Ohr des Spions lauschte an der Wand. Hier haßten die Kranken in ihren lichten Momenten ihre Aerzte; denn die Aerzte brachten den politischen Haß mit in die Krankensäle, und das Vertrauen der Kranken zu ihrem Arzte, die erste Bedingung in der Heilmethode des Irren, war ganz und gar verschwunden. Zuweilen verstand der Arzt auch gar nicht die Sprache des Kranken; denn der deutsche Kranke sprach nur plattdeutsch, und der dänische Arzt sprach das Hochdeutsche nur nothdürftig, das Plattdeutsche gar nicht. Die Heilung der unglücklichen Irrsinnigen war hier Nebensache geworden, die politische Parteinahme war Hauptsache. Aber auch auf die Sprache des Herzens lauschte hier der Spion, selbst wenn der Mund diese Sprache vorsichtig verschloß. Man durfte hier nicht einmal deutsch denken. Die Krankenjournale wurden in zwei Sprachen wild durcheinander geschrieben, dänisch und deutsch. Der Kranke, dessen Krankheitsgeschichte und Heilmethode fünf Jahre lang in deutscher Sprache geschrieben war, erhielt plötzlich einen dänischen Arzt, und dann schrieb dieser die Fortsetzung seiner Krankheitsgeschichte in Dänisch, und der deutsche Arzt wurde gezwungen, auf Grund dieser Krankenberichte, welche er nicht lesen konnte, ärztliche Gutachten zu geben. Aengstlich schaute sich der Mann, der mich umherführte, überall um, ob auch Jemand sähe, daß er mich umherführe. Er sprach leise, oder er sprach in halben Worten, oder er zuckte die Achseln, ohne mir eine Antwort zu geben, oder er horchte, ob auch der Tritt eines Spions auf dem Gange schleiche. Und er wußte gar nicht einmal, zu welchem Zwecke ich die Anstalt besuchte. Ich hatte einen Empfehlungsbrief einer dem diplomatischen Corps in Kopenhagen angehörenden Person in der Hand, und aus diesem Briefe ging nur das Interesse eines Neugierigen hervor. Aber der Mann hatte das Gefühl der allgemeinen Unsicherheit, welches ein Gefangener in der Untersuchungshaft hat, „wo die Wände Ohren haben“, deshalb horchte er, und deshalb sprach er leise oder gar nicht mit mir.

Und was war denn eigentlich mit der Irrenanstalt in Schleswig geschehen? Warum horchte man dort, weshalb spionirte man, warum sprach der Arzt zu dem Kranken in einer Sprache, welche der Kranke nicht verstand?

Die deutsche Irrenanstalt in Schleswig wurde seit zwei Jahren danisirt.

Man wird erwidern: das ist unsinnig! Wie kann man eine Irrenanstalt danisiren? Die Heilung der Kranken ist doch der einzige Zweck in einer Irrenanstalt, und es ist doch wohl ganz gleichgültig, ob in dieser Irrenanstalt deutsch oder dänisch gesprochen wird, ob deutsche oder dänische Krankenberichte geschrieben, ob in derselben dänisch oder deutsch gepredigt wird. Vernünftigerweise ist es freilich so; aber die Danisirungswuth der dänischen Regierung in Schleswig geht auch über die Grenzen aller Vernunft

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_025.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)