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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

der Freiheit abfließen und sich in dem Meere des neuen Tageslichtes verlieren. O solche durchwachte Nacht! – Aber der Tag bringt die Weisung: „Nicht auskleiden!“ Um 9 Uhr wird ihm, wie gewöhnlich, das Licht genommen und er hinter das Holzgitter innerhalb seiner Zelle, dann noch hinter die eiserne Eingangsthür schwer und sicher eingeschlossen. Gegen Mitternacht öffnet sich das Eisenschloß draußen für ihn kaum hörbar, das Holzgitter wird beseitigt, und eine stumme, warme Menschenhand geleitet ihn durch die Corridors des ganzen Bauwerks nach der Vorderseite, hinauf an ein Fenster, aus welchem er sich hinaufschwingt auf’s Dach. Kinkel, zeitlebens der beste Turner, Schwimmer, Schlittschuhläufer und Meister auch einer körperlich ausgebildeten Riesenkraft, ist noch Herr über so viel Stärke und Gewandtheit, daß er sich sicher vom Dache an einem angebrachten Seile hinunter läßt und in die Arme des Freundes Schurz sinkt. Der bereit stehende Wagen ist bald bestiegen, und auf und davon geht es durch den märkischen Sand dem Norden zu.

In derselben Nacht war der Ministerpräsident von Brandenburg, der mit Herrn von Manteuffel die Leitung des gegen März- und Paulskirchen-Errungenschaften kriegerischen Preußens übernommen hatte, in Berlin gestorben.

Mit Sonnenaufgang erreichen die glücklichen Flüchtlinge das Städtchen Gransee an der mecklenburgischen Grenze und dann sicherer Rostock. Ein Weizenschiff bringt ihn nach Leith und Edinburg, die Eisenbahn nach London. England, längst entrüstet über die Behandlung eines deutschen Dichters, besonders ganz frisch durch einen Dickens’schen Artikel in den Household-Words vom 2. November, begrüßte den Befreiten mit ehrlicher Wärme und Freundschaft. Voll Selbstvertrauen und stolz auf seine eigene Kraft und nie befleckte persönliche und bürgerliche Ehre, verschmähte es Kinkel, diese ihm entgegenkommende Gunst je anders anzunehmen, als für den Preis harter, ehrlicher, werthvollster Arbeit. Frau und Kinder sah er zuerst in Paris wieder. Im Januar 1851 siedelte er sich mit der Familie in London an, zuerst im nordwestlichen St. John’s Wood, dann im westendlichen Norden des Hyde-Parks in einem großen Hause für seine umfangreichere Lehrthätigkeit und den berühmten musikalischen Unterricht der Frau, zuletzt in noch reicherer Umgebung, in einer gartenumgebenen, schönen Villa.

Die elf Jahre, welche Kinkel bis jetzt in London verlebt hat, sind viel über funfzigtausend Stunden des Lehrens, Redens und Erklärens deutscher Wissenschaft und geistiger Herrlichkeit vergangener Zeiten. Seine Lehrgegenstände waren und sind die von der Universität Bonn: deutsche Sprache, Literatur und Kunstgeschichte, wozu er einen neuen fügte, die Geographie. Letztere hat er in England, besonders in den höheren Damenschulen, als Wissenschaft erst geschaffen und sich damit weitverbreiteten Ruhm erworben. Omnibusse, Cabs, Dampfschiffe und Eisenbahnen müssen ihm täglich mehrmals ihre eilenden Flügel leihen, um ihn in allen möglichen Gegenden Londons und Entfernungen Englands zu rechter Stunde und Minute abzuliefern. Um sieben Uhr früh nimmt ihn ein zweiräderiges Flug-Cab auf, vielleicht um ihn zunächst einer Eisenbahn zu übergeben, die ihn und seine meisterhaften, großen Illustrationen der Kunstgeschichte in den Lehrsaal einer fernen Provinzialstadt bringt. Eisenbahn und er müssen auf die Minute pünktlich sein, damit er weit draußen im Westen von London zu rechter Zeit als Examinator der Navigationsschule oder als Professor in der South-Kensington-Akademie beginne. Unterdessen füllt sich sein größter Saal zu Hause mit Damen, die einen mehrjährigen Cursus in deutscher Sprache und Literatur durchmachen. Gegen Ende dieser zwei Stunden muß er wieder einen Wagen bestellen, damit er mit flüchtigem Kusse für Frau und Kinder und ungefesselt von dem Sirenen-Geruch aus dem Speisezimmer sofort hineinspringe, um zu rechter Zeit in Craydon, Epsom oder noch weiter für die Abendclasse einzutreffen. Um 11 bis 12 Uhr des Nachts sinkt er ermüdet auf sein Lager, schläft den gesundesten Schlaf und steht um 6 Uhr wieder bereit für zwölf- bis achtzehnstündige Arbeit, frisch und jugendlich wie seit Jahren, mit weißem Haar und Bart, aber noch rothwangig und mit heiterstem Glanze des Auges. Kein fehlender oder falscher Zahn in seinem Munde, nie ein falsches Wort von seinen Lippen, sondern immer klangvoll warm aus dem Herzen oder anmuthig, manchmal heiter und herzlich lachend, belehrend aus einem reichen Schatze des Wissens und lebhafter Intelligenz. Die hohe Stirn leuchtet noch ungefurcht, und der massenhafte, edle Kopf bewegt sich frei, aufrecht, leicht über einer stolz und athletisch hervortretenden Brust.[1]

Nicht alle Tage sind so überfüllt mit Arbeit, wie der angedeutete. Dann kann er um 5 Uhr mit der Familie und oft einigen Freunden heiter und mit herzhaftem Appetit essen, trinken und plaudern und später zum Thee oder dem „Schlummerpunsch“ die beste, echte Havannah reichen und selber rauchen. Solche Stunden sind für ihn, die Familie und Alle, die an dem Glück seines Hauses und Herzens theilnehmen, wahre Feier-Abende. Das Haus verbindet mit den besten Bestandtheilen englischen Geschmacks und Comforts unenglische, echt deutsche Frische und Freiheit und einen gastlichen, heimischen, aus allen Gebieten lieber Herzen, des Wissens und des Schönen immer inhaltvoll regen und doch heiter spielenden Geist. Es wirkt hier immer so viel Günstiges und Glückliches zusammen, wie es wohl kaum in der besten Familie je wieder so reich und heiter, so sicher und harmonisch sich vereinigen mag.

Die Geschichte und die Geschicke seines Lebens, die gegenwärtige Stellung und Thätigkeit mit deren Spuren, Proben und Früchten um sich her, seine gastliche Aufmerksamkeit nach allen Seiten, die anmnthigste Redner- und Unterhaltungsgabe, das edle, schöne, warme Ineinanderklingen der Beziehungen zwischen Vater, Gatte, Gattin und Kindern, die still glückliche, zarte Frau so mütterlich und schwesterlich zugleich, die älteste Tochter Johanna, zarte, erblühende Jungfrau und Malerin, Adele, schalkische, tief brünette, überglückliche Humoristin des Familien-Journals und kleine Meisterin der Töne, Gottfried, der blasse Gelehrte mit einer ganzen Bibliothek von ersten Preisen (an denen es den Geschwistern auch nicht fehlt), und Hermann, der jüngste, der kleine Indianer und graziöse Wildfang – diese Fülle von Familienglück, von Herzlichkeit, Wissen, Streben, Arbeit, Intelligenz, Kunst und Schönheit ist wohl nur Wenigen der Besten und Glücklichsten in diesem Grade noch einmal beschienen.

Ich sage dies gern und glücklich öffentlich vor dem deutschen Volke, das einmal eben so parteilos und tief über ihn trauerte, wie es über seine Befreiung – im Gefühle einer Selbstbefreiung von einer nationalen Schmach – wahrhaft begeistert aufjauchzte. Der Vorwurf der Indiscretion kann mich hier nicht treffen; ich hielt es für eine Pflicht gegen das deutsche Volk, anzudeuten, daß sich Kinkel auch in seiner Häuslichkeit ein herrliches Lebensglück erwarb. Was ihm noch fehlt, kann nur der feste Wille der deutschen Nation ihm verschaffen.

Biographisch aus seiner Londoner Zeit bleibt noch Einiges zu erwähnen. Seine Reise durch Amerika im Sommer und Herbst 1851 war vom Anfang bis Ende ein Triumphzug, obwohl politisch ein Fehler. Desto anerkennenswerther ist seine politische Einwirkung auf seine deutschen Landsleute in England. Durch seine Vorträge über deutsche Geschichte und Literatur, bald vor Handwerker-, bald vor kaufmännischen Kreisen, weckte er die ersten Keime deutschen Selbstgefühls und deutscher Zusammengehörigkeit in London. Hätten Viele gleiche Kraft dafür geopfert, besonders nach dem Schillerfeste, als Kinkel durch seine ergreifende, nationales Selbstgefühl entflammende Rede und Freiligrath und Pauer durch die Cantate geradezu das höchste Bedürfniß dafür wach und warm gerufen, so hätte sich noch viel mehr durchführen lassen.

Mit Anfang des Jahres 1859 gründete Kinkel ein deutsches Wochenblatt in London, den „Hermann“, gab jedoch das Blatt nach einem halben Jahre in die Hände des bisherigen Mitarbeiters Dr. Juch, der es seitdem trotzig und tapfer nicht nur fortführte, sondern auch vergrößerte. Auch die Tragödie „Nimrod“ gehört in die Londoner Zeit Kinkel’s, eine „lyrische Philosophie der Geschichte, ein menschheitliches Culturgemälde“ des Uebergangs von patriarchalischen Zuständen des Nomadenthums zum Königthum, zum Assarek, der 20,000 Menschen mit Feuer und Schwert würgte, um sich als Alleinherrscher einen hohen Thron auf diesem Leichenhaufen zu bauen. Wir können’s hier nicht beurtheilen, aber es ist ein glänzendes Bühnenstück. Nur wenn Kinkel die jetzigen deutschen Theaterverhältnisse kennte, würde er begreifen, warum es bis jetzt von keinem Director oder Intendanten entdeckt ward.

Kinkel’s übrige literarische und dichterische Werke liegen der Welt in mancherlei Auflagen vor und sind allgemein zugänglich. Sie sind größtentheils im Laufe dieser biographischen Skizze erwähnt worden und mögen zur Ergänzung derselben empfohlen sein.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_040.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2020)
  1. Sein Portrait nach einer meisterhaften Photographie Ph. Fink’s in London stellt den jetzigen Kinkel mit dem ihm eigensten Ausdrucke dar.