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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 5.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Letzte seines Stammes.
Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung)


Auf dem Lande und vollends in den Bergen, wo der Winter jedes Dorf und bisweilen jedes einzelne Haus im Dorfe zu einer abgeschiedenen Insel macht, bleiben, wie die Cultur rund umher auch fortgeschritten sein mag, doch theilweise noch heute jene Verhältnisse bestehen, in denen das Haus erzeugen und leisten muß, was innerhalb desselben bedurft wird. Der Hausherr und die Hausfrau müssen, wenn sie ihrer Pflicht genügen wollen, Rath wissen für jeden vorkommenden Fall und geistig und leiblich die Hülfe zu bieten verstehen, die der Augenblick erheischt. Das war aber vor sechzig bis siebzig Jahren und vollends in den Schweizer Bergen noch viel unerläßlicher, und die Freiin von Thuris galt in weitem Umkreise für eine Frau, die wohlerfahren, rasch entschlossen und auch sehr geduldig war, wo es darauf ankam, ein Leiden des Körpers zu heilen oder einem Kummer der Seele tröstend zu begegnen. Sie verstand zu reden und reden zu machen, und wußte zu schweigen und zum Schweigen zu zwingen.

So hielt sie denn auch den Bruder ab, ihr sein Herz zu enthüllen, so lange dieses Herz ihr noch von Leidenschaft bewegt und mit sich selbst im Kampfe zu sein schien. Er sollte ihr nichts vertraut haben, was ihn vor seinem eigenen Gefühl oder vor seiner Schwester binden konnte, und sie wünschte sich nicht auf eine Widerlegung einzulassen, ehe die Zeit und die Entfernung ihr als siegbringende Bundesgenossen zu Hülfe gekommen wären.

Sie sprach mit dem Bruder nur von sich und von ihrem eigenen Leben. Von der Liebe redete sie zu ihm, welche sie ihrem Gatten verbunden, und wie dieselbe stark genug gewesen sei, ihr den ganzen Lebensweg zu erhellen und ihr Herz noch zu erwärmen, da das seine erkaltet war. Sie schilderte ihm den Hingegangenen, den Graf Joseph nur gesehen, als er mit den Eltern gekommen war, die Schwester in Thuris nach ihrer Hochzeit zu besuchen, und indem sie ihm beschrieb, wie ihr Gatte hier im Lande gewaltet und gewirkt, forderte sie den Bruder, ohne es auszusprechen, zur Nachfolge auf.

Die Herren von Thuris waren ein neues Geschlecht im Vergleich zu den Grafen von Rottenbuel, und sie gehörten nicht dem hohen Adel des Landes an. Einige von ihnen hatten aber Töchter desselben geheirathet, viele sich mit den Töchtern nichtadliger freier Häuser verbunden, und gerade diese Stellung zwischen den alten Geschlechtern und dem übrigen Volke hatte den Herren von Thuris ihren Einfluß und ihr Ansehen unter dem Theile der Bündner verschafft, welchem das Uebergreifen der österreichischen oder französischen Herrschaft in Graubünden ein Dorn im Auge war, und welcher es deshalb als eine Schmach ansah, wenn die Bündner, welche freie Männer in einem freien Lande waren, sich zu Söldnern an den fremden Höfen hergaben und ihre Söhne die Schlachten fremder Fürsten mit ihrem Blute ausfechten ließen.

Conradine war in den Begriffen der alten Aristokratie erzogen worden, aber aus der Atmosphäre des Hofes in die Berge, aus ihrem Vaterhause zu Paris in das Haus ihres Gatten nach Thuris in die Stammesheimath versetzt, hatte sie sich[WS 1], eben weil sie eine unabhängige und zum Herrschen geneigte Seele war, mit warmer Ueberzeugung den Ansichten ihres Mannes angeschlossen, und der Stolz auf ihr altes Geschlecht hatte sie die Unabhängigkeit des Vaterlandes schätzen lehren, in welchem kein Fürst die Freiheit des Edelmannes beeinträchtigte und keine Schranke für denselben existirte, sofern er dem Gesetze nicht zu nahe trat, das er selbst sich mit den Theilnehmern der drei Bünde auferlegt hatte.

Geehrt von dem alten hohen Adel, dem sie durch ihre Geburt verbunden war, und dessen Ansprüche sie aufrecht erhalten zu sehen wünschte, geliebt von den neuen Geschlechtern, denen sie sich freiwillig angeschlossen hatte, genoß die Freifrau eines ungemeinen Ansehens in dem ganzen Engadin, und Schloß Thuris war der Vereinigungspunkt für alle diejenigen, welchen die Suprematie der fremden Fürsten und die Tyrannei der Mächtigen gegen die Geringen im Lande gleich verhaßt waren. Nach Thuris ging man, um sein Herz zu entlasten, nach Thuris, um Rath und Trost für seine Sorgen und Mitgefühl für seine Freuden zu finden, und wer die Freifrau in ihrem Hause beobachten konnte, wenn Leute aus den entlegensten Thälern und von den höchsten Bergen sie aufzusuchen kamen, oder wer sie gesehen hätte, wenn sie bei irgend einer Reise durch das Land in den Schlössern und in den Hütten vorsprach, der hätte eingestehen müssen, daß manche Königin die Freifrau um die Herrschaft zu beneiden habe, welche sie durch ihre ernste Güte gewonnen hatte, und um die Liebe und Verehrung, mit welcher man ihr lohnte.

Was Frau Conradinen geschah und sie betraf, war an und für sich ein Ereigniß im ganzen Engadin, und man hatte daher kaum erfahren, daß ihr Bruder, der Graf von Rottenbuel, heimgekehrt sei, so wurde Schloß Thuris von Gästen nicht leer, und Graf Joseph sah allmählich vor seinen Augen sich Menschen und Zustände entfalten, so verschieden von Allem, was er bisher gekannt, daß er ein Bedürfniß fühlte, fest zu halten, was er erlebte und was er bei diesem Erleben dachte. Die Tagebuch-Hefte, welche Jungfer Ursula mir überließ, geben davon Kunde.


Schloß Rottenbuel den 16. August 1787. Man erzählt von einem Manne, der so lange im Gefängniß gesessen, daß er, der reinen Luft und des hellen Tageslichtes entwöhnt, sie nicht ertragen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sich sich
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_065.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)