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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

führte, machte das unthulich, und ohnmächtig und schutzlos der Wuth der Elemente preisgegeben, wurden die Minuten uns zu langer Zeit. Die unthätige Sorge, die Unmöglichkeit helfen, abwehren, beschützen zu können, und das lautlose Schweigen der Frauen marterten mich. Ich hätte mich erleichtert gefühlt durch ihre Klagen; ich hätte sie zu beruhigen, zu trösten, ich hätte doch irgend Etwas zu thun, für sie zu thun gehabt; ich hätte weniger lebhaft empfunden, wie hülflos wir waren.

Endlich nach einer halben Stunde ließ der Orkan in seinem Toben nach, die Blitze wurden seltener, Schnee und Regen hörten auf, nur die Kälte blieb empfindlich. Zog noch bisweilen ein Windstoß durch die Luft, so klang es, als ob er jetzt von ferne käme, und er fegte das Gewölk und die Nebel, in denen wir uns befanden, vor sich her, daß die blaßgelbe kalte Scheibe des Mondes für Secunden aus der Finsterniß hervorbrach, um eben so schnell hinter den fliegenden, sich zusammenballenden und wieder verschwebenden Wolkenzügen zu verschwinden.

Wir athmeten auf, wir konnten daran denken, vorwärts zu kommen, wenn schon es unmöglich war, die Pferde wieder zu besteigen, denn die Verwüstung auf dem Wege war zu groß. Hier lag eine riesige Arve entwurzelt, als hätte man sie mit Hebeln aus der Erde gehoben, dort versperrten niedergerollte Steinblöcke den Weg, den an andern Stellen das Wasser des ausgetretenen Flusses durchgerissen hatte. Mit Mühe und Noth erreichten wir spät in der Nacht den nächsten Hof. An ein Weitergehen, an eine Heimkehr war nicht zu denken. Nicht nur unsere Kleidung, auch die mitgenommenen Mantelsäcke waren bis in ihren innersten Kern durchnäßt. Man half uns in dem Hofe aus, und der Eindruck des Traumhaften, dem ich hier so häufig unterliege, umfing mich lebhafter als je zuvor, da ich mich in jener Nacht unter dem schlichten Dache, an dem weißen Holztisch, in der Kleidung eines Landmanns, den bäuerlich gekleideten Frauen gegenüber befand.

Als das Feuer auf dem Heerde brannte, uns zu erwärmen, sagte meine Schwester: „Mir ist ganz bange geworden draußen!“ „Mir auch!“ fügte Veronika hinzu. „Ich dachte, wie der Vater um uns in Sorgen sein würde, ich fürchtete auch wirklich, wir würden umkommen in dem Orkan, und ich lebe doch so gern!“

„Aber Sie äußerten keine Furcht!“ wendete ich ein.

„Ich betete in meinem Herzen!“ gab sie mir zur Antwort.

Glückliches Mädchen! möge der Himmel Dir Deinen starken und schweigenden Muth, Dein frommes Gottvertrauen und Deine Freude an dem Leben stets erhalten. O, daß ich sie zu theilen vermöchte!




Die Aufzeichnungen des Grafen Joseph brachen damit ab. Es fanden sich deren auch keine aus spätern Tagen vor; es ist anzunehmen, daß nur das erste Alleinsein in der ihm fremden Natur ihn in jene lyrische Stimmung versetzt hat, in der er zu dem schriftlichen Selbstgespräch seine Zuflucht genommen. Dagegen bot eine Reihenfolge von Briefen den weiteren Einblick in die Verhältnisse des Grafen Joseph dar. Der erste derselben ist von der Freifrau von Thuris an ihren Sohn gerichtet. Ich theile ihn und die ihm folgenden Briefe ganz so mit, wie sie mir übergeben worden sind.

„Thuris, den 16. Februar 1788.

Ich habe Dir eine Trauerpost mitzutheilen, mein lieber Sohn! Unser alter, trefflicher Freund, mein treuer Gunta ist gestorben. Eine Erkältung, die er sich auf der Jagd zugezogen, ist ihm tödtlich geworden, und unsere arme Veronika ist nun verwaist. Sie hatte Dir das Unglück, das sie betroffen, den Verlust, den wir Alle erlitten haben, selber melden wollen, ich habe es ihr abgenommen, da sie viel zu schreiben hat und nebenher für die Freunde ihres Vaters Sorge tragen muß, die gekommen sind, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Sie hat sich in allen diesen Tagen, am Krankenbette, bei dem Tode ihres Vaters und in den Obliegenheiten, welche jetzt auf sie fallen, durchaus bewährt, wie ich sie zu finden gehofft hatte. Ihr Schmerz ist sehr tief, aber sie bleibt Herr über sich und ihn, und zeigt sich sanft und fest zugleich.

Ich habe ihr vorgeschlagen, zu mir nach Thuris zu kommen, wenn die Bestattung ihres Vaters erfolgt sein wird; sie hat das aber abgelehnt, und ich finde das begreiflich. Sie wird sich selbst genügen, ihren Gram ausleben wollen, wenn sie ihre ersten Obliegenheiten erfüllt hat; ja ich traue ihr zu, daß sie den Vorsatz ausführt, welchen sie am Sarge ihres Vaters in den ersten Augenblicken nach seinem Tode aussprach, als ihre Leute wehklagend den Verlust ihres Gebieters beklagten. Sie scheint in Gunta bleiben und mit Hülfe ihrer treuen und erfahrenen Leute die Bewirthschaftung ihrer Güter in dem Sinne unseres verehrten Freundes fortführen zu wollen. Ich wüßte auch nicht, was sie daran hindern sollte, denn ich würde in dem gleichen Falle das Gleiche gethan haben.

Indeß hoffe ich, daß bald eine andere Hand ihr die immerhin nicht leichte Aufgabe tragen helfen wird. Vielleicht sage ich mit dem Worte „hoffen“ mehr, als ich vertreten kann. Was man aber lebhaft wünscht, das hofft man auch.

Dein Onkel lebt sich bei uns ein, und die Nachrichten, welche Du mir im vorigen Herbste gegeben, haben sicherlich nicht wenig dazu beigetragen. Schon seit Monaten spricht er nicht mehr von seiner Rückkehr nach Paris, die anfangs eine fest beschlossene Sache für ihn war. Die Stille und Einsamkeit auf Rottenbuel gewinnen einen Reiz für ihn, die Bewirthschaftung seines Erbes fängt an, ihm ein Interesse einzuflößen. Es geht ihm allmählich der Sinn dafür auf, daß der Adel nur ein Edelmann ist in seinem eigenen Schlosse, auf seinem eigenen Grund und Boden, und daß er in die Classe der abhängigen Dienerschaft hinuntersteigt, sobald er sich herbeiläßt, sich fremdem Willen unterthan zu machen, wäre es auch dem Willen eines Königs. Es überraschte ihn offenbar, als ihm Veronika dies ihr angeborene und anerzogene Empfinden einmal aussprach, und ich hoffe, ihr Einfluß wird ihn bewegen, seinen Abschied zu begehren und hier zu bleiben, wo er hingehört. Was hat er an dem Hofe Ludwig’s XVI. zu suchen? Was soll ihm diese Marquise und ihr falsches Spiel? – Sein freier Mannessinn hat Schaden gelitten in der gefährlichen Luft jenes Hofes, sein Empfinden ist verwirrt in dem trügerischen Lichtglanz einer Atmosphäre, in der auch Du, wie mich bedünken will, jetzt lange genug geweilt hast. Wer, wie ich, beständig in der freien Natur gelebt und gelernt hat, sie zu beobachten und zu verstehen, der gewinnt, so meine ich, auch ein Verständniß für die Zeichen in dem Geist der Menschen und der Zeit; und wie ich meist voraussehen kann, wenn der Sturm uns droht in unsern Bergen, so dünkt mich, fühle ich das Herannahen eines Sturmes, der vom fernen Westen, über den Ocean herüber, ein Wetter, ein befreiendes, die Luft entladendes Gewitter vor sich hertreibt. Der Marquis von Lafayette, der die Reihen seines Regiments verließ, um den Amerikanern zu Hülfe zu eilen, welche für ihre Unabhängigkeit kämpfen, war vielleicht schon der Sturmvogel, der dem Orkan vorausflog. Und wir wissen, was ein Orkan zerstören kann! Habe ich das in der Erdenwelt doch im letzten Jahre an unserm armen Walde praktisch genugsam erfahren.

Deine baldige Heimkehr würde mir in jedem Sinne lieb sein, obschon sie um meinetwillen, die ich mich gut befinde, nicht eben nöthig ist.“

(Fortsetzung folgt.)




Schweizer Alpen-Bilder.
Nr. 2. Meister Braun.

Meister Braun, von dessen riesiger Kraft und Gutmüthigkeit so viel gerühmt wird und dem’s wohl gerade wegen dieser seiner letzten löblichen Eigenschaft Altmeister Goethe im Verkehre mit Freund Reinecke so übel ergehen ließ, ist selbst bei uns, in dem schluchtenreichen schweizerischen Hochlande, bereits ein seltener, deswegen aber immer noch kein unbedingt gern gesehener Gast geworden, weil’s um die vortrefflichen Eigenschaften des zottigen, anscheinend so bauernhaft plumpen Burschen denn doch, bei Lichte besehen, hie und da bedenklich aussieht. In den Thälern und Schluchten, die sich zu Füßen und an den Flanken der riesigen Gletscherpyramiden des Berner Oberlandes doch zahlreich genug vorfinden, ist er seit Jahrzehnten weder von Wildheuern, Sennen, noch selbst von Gemsjägern mehr angetroffen worden. Der gute Petz ist zwar ein ganz erträglich guter Kletterer und ein weit flinkerer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_068.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2020)