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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Meister Braun auf dem Ziegenstalle.
Originalzeichung von H. Jenny.

Fußgänger, als man ihm bei bloß oberflächlicher Bekanntschaft zutrauen möchte; der windschnellen Gemse aber thut er’s in beiden Künsten gleichwohl bei Weitem nicht nach, selbst nicht einmal dem Steinbock, der, gleich ihm, vor der unermüdlichen Beutelust der Jäger dieses Revieres sich in noch wildere und unzugänglichere Gebiete zurückziehen mußte. Dennoch ist er noch weit entfernt, so ganz wie Cooper’s letzter Mohikaner sein ganzes edles Geschlecht aussterben zu sehen. Noch immer bieten ihm die grausigen, wild zerklüfteten Gebirge des Unter-Engadin, des Ofnergebirges, Münsterthals etc., das tessinische Blegnothal und die fast unzugänglichen Felslabyrinthe, die sich um die gigantischen Felsstöcke des Wallis lagern und auffallender Weise auch die bei Weitem weniger steilen und wilden Gebirgszüge des waadtländischen Jura bequeme und sichere Standquartiere, in denen ihn nur selten der Jäger aufstören würde, wenn nicht das Bedürfniß nach einer guten Mahlzeit ihn von selber in weniger einsame Regionen hinaustriebe. Freund Braun ist nämlich ein außerordentlich fein gebildeter Gastronom, und wenn er auch ein Ziegen- oder selbst Rinderlendenstück ungebraten verzehrt, so liebt er doch einen Salat ohne Essig und Oel, aber von feinen, fetten Wiesenkräutern dazu, und vermißt dabei nur mit schwerem Verdruß eine Nachkost von Erdbeeren, Birnen, Trauben und besonders von süßem Honig, lauter Dinge, für die er zuweilen seinem Wirthe den warmen, weichen Pelzrock in Versatz lassen muß.

Das südliche Rhätien scheint noch immer die meisten Bären zu zählen, und besonders im untern Engadin hausen jedenfalls beständig eine Anzahl von Bärenfamilien, deren Spuren dem in jenen felsigen Revieren herumstreifenden Jäger fast jeden Tag zu Gesichte kommen und deren Zahl immerhin auf dreißig Stück geschätzt wird. Ihren beständigen Aufenthalt nehmen die Bären mit Vorliebe in einsamen, zwischen steil abfallenden Gebirgswänden liegenden, schwer zugänglichen Schluchten, die bis fast zur Schneegrenze hinauf mit finsterem Nadelholz bewachsen sind. Von da aus aber machen sie, wie bereits bemerkt, oft sehr verwegene und weitgedehnte Spaziergänge in die bewohntem Gegenden, so z. B. vom Engadin aus durch die ganze Südkette der rhätischen Alpen und von da in’s traubenreiche, milde Tessin hinunter, oder vom Einfischthale, wo es hinsichtlich feiner Leckereien nur sehr mittelmäßig bestellt sein mag, abwärts in die sonnigen Rebgelände des Walliser Landes. Doch mögen wohl solche Streifereien bloß mehr zu den Extratouren oder sommerlichen Vergnügungsreisen zu rechnen sein, denn im Allgemeinen gehört Freund Braun seiner ganzen gewichtigen Anlage nach zu den behäbigen Philistern unter der sonst so beweglichen Sippschaft der Alpenthiere und verläßt, wie der Staatshämorrhoidarius, nur selten sein eigentliches Gebiet, was auch um so gerathener für ihn erscheint, als es bekanntlich im Bündnerlande der Leute gar manche giebt, die eine sicher treffende Büchse führen und ihm gar scharf auf den Dienst lauern, und die, wie der Schloßpächter von Zernetz, schon eigenhändig zwölf seiner naschhaften Vettern erlegt haben. Im Jahre 1857 mußten einzig

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_069.jpg&oldid=- (Version vom 11.1.2020)