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wird. Sie wissen ferner nicht, daß aus dem neugebornen Menschen, ebenso wie aus einer weichen Modellirmasse, je nachdem diese in die Hände eines Geschickten oder eines Stümpers geräth, ebensowohl etwas Gutes wie Schlechtes hervorgehen kann, und daß durch frühzeitige Gewöhnung ein Mensch, wenn er sonst nur mit gesunden Organen (besonders mit einem gesunden Gehirn) geboren wurde, in körperlicher, geistiger und moralischer Beziehung einen sehr hohen Grad von Vollkommenheit erreichen kann.

Zur Zeit überläßt man aber die erste Erziehung des Menschen größtentheils nur dem Zufalle, bei dem die Ammen, Kindermädchen und Kindermuhmen, Tanten und Großmütter eine Hauptrolle spielen, und die allermeisten Eltern, bauend auf die spätere Besserung ihrer Kinder durch die Schule, thun ihr Möglichstes in der Sitten-, Willens- und Verstandesverderbniß derselben. Macht dann aber die Schule aus solchen Rangen keine so guten und klugen Kinder, als die Eltern wünschen, dann schreiben diese den armen Lehrern, nicht aber sich selbst, die Schuld davon zu. Und solcher einfältigen Eltern giebt es sehr viele und ganz besonders auch unter den sogen. bessern Ständen.

Aber auch die guten Leistungen eines kleinen Kindes beurtheilt man in der Regel ganz falsch, indem man sie stets ohne Weiteres einem angebornen Talente (einer Anlage) zuschreibt, ohne sich darum zu kümmern, unter welchen Verhältnissen jenes Kind bis zu der Zeit lebte, als man auf seine Leistungen aufmerksam wurde. Forscht man aber genau darnach, so ergiebt sich stets, daß in den ersten Lebensjahren des Kindes solche Momente eingewirkt haben, die das sogen. Talent zur Entwickelung brachten. Ohne Zweifel hat es der Mensch in seiner Macht, aus dem Kinde ein Genie zu erziehen, nur muß er mit der Erziehung dazu gleich nach der Geburt des Kindes anfangen.

Womit beginnt denn eigentlich das Verziehen des Kindes? Mit dem Herumtragen, Schaukeln, Wiegen, Einbischen und Einsingen. Auch das kleinste Kind gewöhnt sich nämlich sehr bald so an jene Bewegungen, daß es schreit, wenn es dieselben entbehren soll. Da nun die Angehörigen das schreiende Kind sofort durch das Herumtragen u. s. f. zu beruhigen suchen, so lernt das Kind nach und nach durch Schreien seine Wünsche zu erreichen, seinen Willen durchzusetzen und wird eigensinnig, trotzig, dickköpfig. Läßt sich ein schreiender Säugling nur durch Herumtragen u. s. f. besänftigen, so ist er sicherlich schon verzogen, und es muß ihm so schnell als möglich durch Liegen- und Schreienlassen, ja sogar durch einige Klitsche auf das Gefäß, diese Unart wieder abgewöhnt werden. – Es sei hierbei den Müttern gesagt, daß sie beim Schreien eines gutgezogenen, gesunden, kleinen Kindes die Ursache des Schreiens stets nur zu suchen haben: 1) im Mangel an Nahrung, und dann hört das Kind sofort auf zu schreien, wenn es zu trinken bekommt; 2) im Naß- und Kaltliegen, und dann wird frische warme Wäsche das Schreien stillen; 3) in Luftanhäufung im Darme, und dann wird ein Klystier von warmem Wasser, sowie Reibungen des Bauches das Kind still machen. Aber die allermeisten Kinder schreien aus Ungezogenheit.

Man bedenke doch, daß der Mensch in der ersten Zeit seines Lebens, weil die Hirnthätigkeit durch Sinneseindrücke noch nicht gehörig erweckt ist, ohne alles Bewußtsein lebt und daß seine Bewegungen und sein Schreien rein automatisch (durch Nervenreflex erzeugt) sind. Nach und nach erst bildet sich durch wiederholte Eindrücke auf die Empfindungsnerven und das Gehirn, also durch Gewöhnung, das Behaglichkeits- und Unbehaglichkeitsgefühl aus. Es dauert lange, ehe das Kind die Einzeleindrücke unterscheiden lernt. Ueber die Zunge des Säuglings muß erst einige Zeit die süße Muttermilch geflossen sein, ehe er sie als angenehm schmeckt, vorher nimmt er eben so leicht die bittersten Stoffe, wie die Brust der Mutter. Gerade so verhält es sich mit allen andern Empfindungen, und man hat es deshalb in der Hand, dem Kinde durch Gewöhnung eine Menge von Empfindungen zum Bedürfnisse zu machen, die, wenn sie dann einmal nicht erregt werden, das Kind zum boshaften Schreien und Erzwingen des Gewünschten antreiben. – Die Hauptregel bei der geistigen Erziehung des jungen Menschen, und zwar schon des Säuglings, ist deshalb: Alles vom Kinde abzuhalten, an was es sich nicht gewöhnen soll, dagegen das, was ihm zur andern Natur werden soll, beharrlich immer und immer zu wiederholen. Man lasse sich gesagt sein, daß das Kind schon Eindrücke für das ganze Leben aufnimmt, noch ehe wir oft denken, daß überhaupt Etwas Eindruck auf dasselbe macht.

Ist nun dem Kinde dadurch, daß seinem Schreien zur Erreichung seines Willens von Seiten der Erzieher stets nachgegeben wurde, Eigensinn und Trotz anerzogen worden, so bildet sich bei demselben allmählich neben Willensschwäche die entschiedenste Willkür aus. Denn anstatt durch Ueberwinden von Hindernissen und durch selbstständige Anstrengungen von Seiten des Kindes demselben Willenskraft anzuerziehen, lassen sich die Eltern und Wärterinnen durch Schreien und Weinen des Kindes, ganz nach Willkür der verzogenen Krabbe, alle möglichen Hilfsleistungen abzwingen. Ja, manche Eltern sind sogar stolz auf den festen Sinn ihres Kindes, wie sie den Eigensinn desselben zu nennen belieben, und wünschen geradezu, daß diesem Eigensinne stets Folge geleistet werde. Da braucht man sich dann freilich nicht zu wundern, daß solche Kinder nur das thun und lassen, was ihnen gerade behagt, daß ihre Willenskraft sich nicht, wie es doch sein sollte, zum Wollen und Thun des Guten entwickelt, und daß von Selbstbeherrschung und Gehorsam, der Haupttugend eines Kindes, nicht die Rede sein kann. Man werfe nur einige Blicke in die Kinderstuben und man wird reichliche Gelegenheit haben, zu bemerken, welche Willkürherrschaft weinende Kinder über die Angehörigen ausüben und wie diese letztern als folgsame Sclaven unartiger Kinder von diesen Alles abzuhalten und denselben Alles zu leisten suchen, was einige Mühe oder unangenehme Empfindung machen könnte. Wie kann aber bei solcher Erziehung die Grundlage zur wahren Willensstärke, Selbständigkeit und Charakterfestigkeit gelegt werden? Den meisten Kindern wird auch dadurch, daß ihnen die Eltern und Wärterinnen Alles an den Augen absehen, nicht bloß Unselbstständigkeit, Willensschwäche und Herrschsucht anerzogen, sondern gleichzeitig der Entwickelung von Aufopferungsfähigkeit und Wohlthätigkeitssinn entgegengetreten. Das Kind werde selbst beim Spielen nicht daran gewöhnt, zu meinen: es brauche immer Jemand, der ihm spielen helfe.

Ein großer Fehler bei der Erziehung ist es auch, daß man in Bezug auf Beherrschung unangenehmer Empfindungen und Schmerzen die Kinder falsch gewöhnt, daß man ihnen Widerwillen gegen eine Menge von Dingen anerzieht und daß man sie so leicht „aus dem Häuschen kommen“ läßt. Aber freilich sind die Erzieher in dieser Hinsicht meistens selbst verzogen und gehen dem Kinde mit einem schlechten Beispiele voran, indem sie sich gleich über Alles entsetzen und ekeln, bei Ueberraschungen außer sich gerathen etc. Man bedenke doch, daß der Nachahmungstrieb beim Kinde so groß ist, daß es sich sehr schnell ebenso das Gute wie Schlechte seiner Umgebung angewöhnt. Das Beispiel, das Beispiel! ohne dieses bringt man es bei Kindern zu nichts (Rousseau). Und wenn dein Kindermädchen nascht, lügt und trügt, sollte wohl dein Kind von Allem das Gegentheil von ihr lernen? – Es ist ferner ganz falsch, bei jedem Stoße oder Falle, bei Verletzungen und Unwohlsein des Kindes in lautes Jammern und Wehklagen darüber auszubrechen, das Kind zu bemitleiden und leidenschaftlich zu liebkosen; man beachte lieber viele dieser Zufälle gar nicht oder rede höchstens dem Kinde darüber ruhig zu. Ebenso suche man die Verdrießlichkeit und Uebellaunigkeit eines gesunden Kindes ja nicht etwa durch Aufmerksamkeiten und absonderliche Beschwichtigungsmittel zu verscheuchen, wohl aber durch Beschäftigung, sowie durch Nichtbeachtung oder selbst Strafe. Man erhalte die Kinder durch Beschäftigung in guter Laune, denn Thätigkeiten (Spiele), nicht Genüsse, erhalten Kinder heiter.

Daß Kinder in ihren ersten Lebensjahren schon zu Heuchlern und Lügnern, ja sogar zu Dieben erzogen werden, läßt sich fast in allen Kinderstuben wahrnehmen, nur sieht man da diese Laster nicht als solche an, sondern findet sie ganz allerliebst und possirlich, und nennt sie pfiffige, kluge Streiche. Meistens legt Naschwerk (die Zuckerdüte) den ersten Grund zu diesen Lastern, denn um dergleichen zu erlangen, stellt sich manches Kind unwohl, während ein anderes sich auf Schmeichelei oder Stehlen verlegt, ohne daß die Eltern wegen dieser Geringfügigkeit, wie sie dieses Gebühren des Kindes zu nennen pflegen, strafend einschreiten. – „Nicht wahr, das hat unser Engelchen nicht gemacht?“ spricht die Frau Mama ihrem unartigen Kinde so lange vor, bis dieses endlich seine That wirklich ableugnet. – Nimmt das kleine Brüderchen seiner ältern Schwester heimlich Etwas weg und will diese ihr Eigenthum zurück, so entsteht eine große Heulerei und es heißt: „Du großes garstiges Mädchen, laß doch dem lieben Kleinen das Spielzeug.“ – „Wer hat das zerbrochen?“ „Ich nicht!“ schreien gleichzeitig alle Kinder und dabei beruhigt sich denn auch die Frau Mutter, anstatt den Lügner nun erst recht ausfindig zu machen und tüchtig durchzugerben

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_075.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)