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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

In dem alten runden Thurme, nahe dem Meere, dessen Felsklippen zur Zeit der Fluth von den Wellen bedeckt wurden, deren weißer Schaum hoch hinan bis an die eng vergitterten Fenster emporspritzte, saß der gefangene Reichsgraf auf der hölzernen Pritsche, die ihm zur Lagerstätte diente; vor ihm an die Mauer befestigt stand ein kleiner grobgezimmerter Tisch; seinen Arm darauf gelehnt, stützte die weiße, abgemagerte Hand sein blondes, jetzt kurzgeschornes Haupt. Tiefe Dunkelheit erfüllte den ungesunden Raum, von dessen Wänden die Feuchtigkeit herniedertropfte. Mit brennender, fieberhafter Röthe auf den bleichen Wangen, starrte der junge Mann unbeweglich nach dem Fenster und horchte dem Brausen der Fluth unter ihm. – Endlich brach durch das vom Sturme zerrissene Gewölk der Mond auf Augenblicke hervor, und wie von einem elektrischen Schlage berührt, erhob sich die hagere Gestalt; das Auge glühte in seinen tiefen Höhlen; mächtige Erregung schien seine Muskeln mit neuer Kraft zu stählen, und seine Brust erhob sich in dem Wonnegedanken: Frei! Er zog eine scharfe Feile aus ihrem Versteck hervor und setzte sie an das letzte noch zu durchschneidende Gitter des Fensters.

Die Stelle eines Kerkermeisters auf Aggerhuus war ein hartes Stücklein Brod, und keiner der Vorgänger des jetzigen hatte es lange genossen, wenn seine Natur nicht dem Felsen glich, auf welchem dies traurige Gefängniß am Meere lag. Schon hatte er sein Weib dahinsterben sehen, und sein einziges Kind schien ihrer Mutter folgen zu sollen. Ihm zur Liebe war er endlich bereit gewesen, dem Grafen zu seiner Befreiung behülflich zu sein, und hatte ein Schreiben für ihn vermittelt, welches ihm die nöthige Summe zur Flucht nach England verschaffte. Das Mädchen brachte der Vater einstweilen an den Strand zu Christen Sturen, dem besten Seemann der Küste, der es, wie er vorgab, bei erster Gelegenheit mit nach Kopenhagen nehmen wolle.

An eben jenem Abend lag ein englischer Kauffahrer ein Paar Seemeilen weit vor Anker, und Christen Sturen ging, trotz Sturm und Wellen, sein Boot zu laden, um in See zu gehen.

„Du wirst doch nicht so thöricht sein, bei so finsterer Nacht und steifem Nordwest einen Tanz mit den Wellen zu machen?“ rief ihm ein alter „Seebär“ zu, der unter der Thür seiner Hütte einen Pfeifenstummel zwischen den Zähnen hielt. „Hilft nichts, Vater!“ lachte Christen, „der Engländer muß seine Ladung trockner Fische bis morgen früh haben. Wird auch bald wohl ein bissel mondhell werden, denk’ ich!“ und damit schritt der wetterfeste Schiffer dem Strande zu, wo die Ebbe eben einzutreten begann.

In dem Boote lag wohlverhüllt die Tochter des Kerkermeisters, und er selbst stand schon harrend am Strande.

„Alles in Ordnung?“ rief ihm Christen entgegen. „Will’s hoffen!“ war die Antwort, und der Schiffer schlug die Arme übereinander, wie Jemand, der bereit ist zu harren, indeß der Andere gespannt nach dem nur dann und wann in festen Umrissen hervortretenden Thurme hinübersah. Da leuchtete hinter dem Fenster von „Numero Sieben“ ein rasch wieder verlöschendes Licht auf.

„Gott helfe ihm!“ murmelte der gutmüthige Christen, und das Herz des Kerkermeisters schlug rascher: hing ja doch von der Freiheit des Gefangenen, der eben das eiserne Gitter seines Fensters aushob, sein und seines Kindes Wohl ab.

Die Fluth hatte sich eben erst von den ausgespülten Klippen unter dem Thurme zurückgezogen, was die einzige Möglichkeit bot, nach dem Strande zu gelangen; schon schwebte der Flüchtling auf halber Höhe der schwanken Strickleiter und gelangte mit jeder neuen Sprosse, die sein Fuß prüfend erreichte, der Freiheit näher; da plötzlich – ein lauter Schmerzenslaut verhallte in dem Brausen von Wind und Wellen: das oben an dem Eisen des Fensters befestigte Ende der Strickleiter hatte sich gelöst, und der Unglückliche lag mit gebrochenem Hüftknochen am Boden. – Nur wenig hundert Schritte weit lag das rettende Boot, aber durch keine übermenschliche Kraftanstrengung vermochte er sich über das scharfe, ausgespülte Gestein fortzuschleppen und blieb endlich in ohnmächtiger Erstarrung liegen.

„Geht doch und schaut, woran’s liegt,“ mahnte wiederholt Sturen, „denn ausgeflogen ist der Vogel doch nun einmal, dem Signal nach; oder laßt mich mit Euch gehen; ist ihm etwas passirt, so nehme ich ihn auf die Schultern. Ich sage Euch, wir müssen fort, denn kommt erst die Fluth wieder, so erreichen wir bei dem Winde den Engländer nimmer zur rechten Zeit.“

„Der Mond ist zu hell, laßt uns warten! Gehen wir jetzt über die offne Düne nach dem Thurm, so kann uns leicht die Schildwache oben bemerken, und bis wir den Gefangenen gefunden und fortgebracht haben, ist uns der Rückweg abgeschnitten. Verdammte Geschichte das! – Habe nichts weiter für mich in Händen, als den Brief da, nach Holstein; das Geld soll der Engländer draußen haben!“ sagte der Kerkermeister.

„So laßt mich allein gehn, Ihr eigennütziger Gesell!“ brummte der mitleidige Sturen.

Der Umstand, daß der Gefangenwärter an diesem Abend gar nicht heimgekehrt war, hatte unter der Besatzung des Schlosses Verwunderung erregt, und der Corporal hatte einigen Argwohn und schauete oft und scharf nach dem Strand hinab, wo er mehrere Gestalten bemerkt zu haben glaubte. Er that dies auch gerade im Augenblick, wo Christen Sturen nach dem sogenannten Wasserthurme abbog.

„Wer da? Antwort oder ich gebe Feuer!“ – Rasch sprang der brave Schiffer mit ein paar mächtigen Sätzen zurück und warf sich auf den Sand, so daß die Kugel über ihn hinweg flog; eine Patrouille ward hinab beordert, aber schon wenig Minuten später tanzte das Boot mit den beiden Männern auf den Wellen, und mit ihm schwand jede Hoffnung auf Erlösung des unglücklichen Grafen Adolph.

Er hatte, durch den Gefangenwärter mit Schreibmaterial versehen, auf alle Fälle vor seiner Flucht einige Anordnungen getroffen, die durch des ehrlichen Christen’s Hände seinen Anverwandten die erste genauere Kunde von seinem Schicksal und der trauernden Isa ein letztes Lebenszeichen brachten. Ihr war auch die Sorge für die Tochter des nach England entkommenen Gefangenwärters empfohlen, und sie behielt dieselbe bei sich. Konnte sie doch mit ihr von dem einzigen Punkte, der auf der weiten, schönen Erde für sie noch Interesse hatte, reden – von dem meerumbrausten Felsen der Nordsee, und das Mädchen, das einst neugierig bei der Ankunft des Grafen gelauscht, mußte ihr immer wieder jede traurige Einzelheit davon erzählen.

Clara hatte sich in eines der großen Fräuleinstifte von Holstein zurückgezogen, wo sie, wie so viele ihrer einsamen Gefährtinnen, in Erinnerung und den Blick auf die Hoffnungen des Jenseits gerichtet, der Gegenwart nur in soweit lebte, als sie ihr Gelegenheit bot, Thränen zu trocknen und Leid zu mildern. Dorthin folgte ihr die durch gleiche Trauer mit ihr verbundene Freundin Isa nach dem Tode ihres Vaters.

Die große Familiengruft der Grafen von Ranzau-Breitenburg, der nächsten Agnaten der nunmehr erloschenen Hauptlinie jenes Namens, war an einem trüben Märztag um die Mitte des vorigen Jahrhunderts durch Fackeln erhellt, die eine seltsame Scene beleuchteten. Unter den reich mit Silber beschlagenen Särgen, die hier seit Decennien aufgeschichtet standen, befanden sich auch zwei ganz von starkem Silberblech: sie enthielten die sterblichen Ueberreste der Grafen Detlev, Vater und Sohn, und ein dritter war eben von der kunstfertigen Hand des Meister Martin in Preetz geliefert worden.

Er sollte einen andern aus grob gezimmerten Bretern umschließen, der geöffnet daneben stand. Lautlos, in stillem Gebet, umgaben ihn die anwesenden Männer entblößten Hauptes und schauten mit tiefer Bewegung auf die irdische Hülle Dessen, der darin nach dreizehn langen Jahren das Ziel schwerer Leiden gefunden hatte. In dem groben Anzug des Sträflings, den eisernen Ring um Hand und Fuß, lag der zum Skelet ausgetrocknete Körper vor ihnen.

Auf einen Wink des Grafen machte sich der anwesende Chirurg an sein Werk und sagte dann: „Kein Zweifel, gräfliche Gnaden, hier ist der schlechtgeheilte Schenkelbruch, den der selige Herr bei seinem Fluchtversuch von Aggerhuus erlitten hat.“

Der anwesende Geistliche sprach den Segen, und die silberne Hülle mit dem Wappen des Hauses empfing den letzten der sieben blühenden Söhne des Grafen Detlev Ranzau.

Alles, was die Familie endlich erlangt hatte, war – die Herausgabe seiner Leiche. Vergebens waren ihre Klagen bei Kaiser und Reich verhallt. Zwar hatte Karl VI. die Entfernung der dänischen Besatzung von den Schlössern der Grafschaft decretirt, aber ohne dem Befehl weiteren Nachdruck zu verleihen, als dies nicht geschah.

Und als endlich gar die Sterbeglocken des lebensmatten deutschen Reiches läuteten, waren es zugleich die der rechtlichen Ansprüche zur Wiedererlangung der großen Familiengüter in Holstein, Schleswig und Jütland, die zu der Grafschaft gehörten, und deren Revenüen noch heute nach der Hauptstadt Dänemarks wandern.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_080.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)