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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

eine ihr Kindchen stillende Mutter. Die wilden, streitenden Männer schonten sie bei der Ausübung ihren süßen Pflicht. Jeden Augenblick kam das Aermchen wieder zum Vorscheine und jedes Mal wurde es von der Mutter zur Seite geschoben. Endlich erhob sich das Kleine und langte mit beiden Händchen nach der Frucht, und wieder wurden sie bei Seite geschoben, aber in einer etwas mehr unwirschen Manier. Als aber das Kleine sich dennoch nicht beruhigen wollte und immer wieder auslangte, gab sie ihm einige derbe Schläge, und als das noch nichts half, biß sie es, daß es laut aufschrie, warf es auf den Rücken, und fort ging es von Ast zu Ast den andern nach.

Dr. Fr. Ellendorf.





Ein Blick in’s freie Ialien.
Tagebuch-Blätter von Adolf Stahr.
Nr. 1.
Der Wechsel von Nord und Süd. – Keine Polizeiwirthschaft. – Die Sache Gottes. – Am Lago Maggiore. – Alte Freunde. – Die Geschichte eines Gemordeten. – Patriotische Kinder.
Baveno am Lago Maggiore, 29. Septbr. 1861.

Hier in diesem lieblichsten Erdenwinkel will ich versuchen, einige meiner italienischen Reiseeindrücke aus meinem Tagebuche für Euch niederzuschreiben, hier, wo das Wort des alten römischen Poeten, jenes:

Ille terrarum mihi praeter omnes
Angulus ridet –
[1]

eine Wahrheit ist – wenn man von der zweiten Wahrheit absieht, daß jetzt kein solcher Erdenwinkel, wo es Einem wohl werden könnte, mehr ohne die Landplage von reisenden englisch snobs zu finden ist, die unser Einem das Leben vertheuern und gelegentlich mit ihren Prätensionen und ihrem von Jahr zu Jahr breiter und zerflossener werdenden Gequäk, das sie Sprechen nennen, den Naturgenuß und den Mittagstisch verstören.

Es ist nun fast einen Monat her, daß ich das freie Italien, die Italia dei Italiani – wie die Italiener sich mit ihrem Könige auszudrücken lieben – betreten habe; aber es ist mir zu Muthe, als wäre es ein halbes Jahr her, daß ich die Alpen überschritten und zum dritten Male meinen Einzug gehalten in das geliebte Land meiner Sehnsucht. Es war ein heller, sternfunkelnder Morgen, als wir von dem einsamen Alpensee von St. Moritz Abschied nahmen, um über den Malojapaß nach Italien zu gehen. Alle die Alpenriesen, welche rings das fünf- und ein halbtausend Fuß hohe Thal von St. Moritz umgeben, starrten bis zum Gürtel weiß von frischgefallenem Schnee, auf den Thalwiesen schimmerten Reif und Eis; und wenige Stunden darauf, als wir die rauhe Klippenhöhe des Maloja überschritten hatten und der Wagen die zahllosen Windungen der groß und kühn angelegten Gebirgsstraße im vollen Laufe der dampfenden Rosse hinabgedonnert war bis zu den untern Thalstufen des über alle Beschreibung romantischen Bregaglia-Thals, durch das die schäumende Maira rauschend dahinbraust – welch ein Abstand! Statt der wetterzerzausten Tannen und graubärtigen Arven – Kastanienwälder und Weinberge in reicher Fruchtfülle, durchglänzt von dem silberleuchtenden Laube des Oelbaumes, lachende Himmelsbläue, warme, südliche Luft, durchduftet von dem Geruch der Vegetation und der Früchte des Südens. Nie erlebte ich einen so plötzlichen Wechsel von Nord und Süd! Aber meine Gedanken waren diesmal doch weniger als sonst der Natur und den Eindrücken zugewendet, die ihre Schönheit uns in so reicher Fülle bot. Ich warf kaum einen Blick auf die romantisch gelegenen Villen, auf die alten Burgtrümmer und verfallenen Zwingherrnschlösser, deren gebrochene Mauern und trotzige Thürme von den Felsenabhängen niederschauen. Ich hatte kaum eine Empfindung bei dem Anblicke des schauerlichen Felsengrabes von Plurs, unter dessen sechzig Fuß hoher Steindecke eine ganze Stadt von dritthalbtausend Einwohnern seit 243 Jahren begraben liegt, beschattet von dem dichten Kastanienwalde, mit dem die „ewig keimende Natur“ die Todesstätte geschmückt hat. Mein Herz und meine Gedanken waren anderswo beschäftigt. Sie weilten bei den Lebenden, bei den aus dem Grabe der Knechtschaft zu neuem Leben Auferstandenen; sie weilten bei der größten aller Schicksalswendungen im Leben der Völker unserer Zeit und unseres Welttheils, bei der Auferstehung Italiens. –

Der Wagen hält. Wir sind auf italienischem Boden. Ueber dem weißen Kreuze im rothen Felde steht: Reame d’Italia!

Ich hatte, als guter Deutscher, den Paß und die Kofferschlüssel in der Hand und wollte eben aus dem Coupé aussteigen, um die bekannten polizeilichen und mauthnerischen Tribulationen eines Reisenden an mir vollziehen zu lassen, ohne die bekanntlich Thron und Staat nicht sicher bestehen können, als ein soldatisches und dabei doch freundlich und höflich blickendes Gesicht durch das Coupéfenster hereinschaute und mich in meinem Vorhaben mit der die Antwort schon in sich schließenden Frage unterbrach: „Die Herrschaften haben ohne Zweifel nichts Steuerbares bei sich?“ Ich zeigte auf die kleine Kiste, welche den grausam geschmolzenen Rest meiner Raucherfreuden enthielt, und die ich vorsichtig schon in St. Moritz aus dem Koffer genommen. Der Officier – seine militairische Haltung und eine tüchtige Stirnnarbe verriethen ihn als solchen – machte lächelnd eine abwehrende Bewegung, rief uns ein buon viaggio! zu, und fort rollte der Wagen in’s Königreich Italien hinein, ohne Paßfrage, ohne Visitation, „ohne Alles“, wie die Berliner sagen. Schauderhaft! Wie kann ein Reich mit solcher „liederlichen Wirthschaft“ bestehen! Denn ich will es nur gleich auf einmal sagen: es war überall dasselbe in diesem heillosen neuen Reiche. Kein Polizist ließ sich blicken. Nirgends in Italien, nicht in Varenna, nicht in Como, nicht in Mailand, nicht in Turin, der provisorischen Hauptstadt des Reichs, hat sich eine sterbliche Seele um uns und unsre Namen und Pässe, um unsren „Charakter,“ unsere Reiseabsichten, um unser Kommen und Gehen, oder um den Inhalt unsrer Koffer gekümmert; nirgends hat man von Reisenden, die ihr Geld in einer Stadt verzehren wollen, eine Steuer unter dem Titel „Aufenthaltskarte“ verlangt; nirgends hat die Polizei die Freunde, die uns unter ihrem gastlichen Dache beherbergten, mit zeitraubenden An- und Abmeldungen belästigt – wie das Alles im lieben deutschen Vaterlande zur höheren Civilisation unerläßlich nothwendig ist und in Italien unter dem Doppeladler ein Dogma war. Freilich giebt es auch in Italien Leute, die mit dieser Kraftersparniß der Polizei unzufrieden sind – nämlich die Spitzbuben, für deren Ueberwachung und Verfolgung jetzt die Polizei alle die Zeit und Kräfte übrig hat, die sie bei uns für die Molestiruug der ehrlichen Leute verschwenden muß. Aber wäre es denn ein so großes Unglück, wenn bei uns, in Berlin z. B., die Herren Spitzbuben etwas mehr und die ehrlichen Leute etwas weniger über die Thätigkeit der Polizei zu klagen hätten? Ich denke nicht.

So viel wenigstens steht fest, und eine sehr genaue Durchmusterung der öffentlichen Blätter, Zeitungen, Ankündigungen, Maueranschläge etc. hat mir das Resultat geliefert, daß in Turin und Mailand unendlich weniger eingebrochen und gestohlen wird, als bei uns, wo die Anschlagsäulen und Zeitungen täglich von den zahlreichen Thaten der Verehrer des alten Diebesgottes Hermes beredtes Zeugniß geben, und wo Sicherheitsketten und Doppelthüren mit Lugauslöchern und ähnliche bürgerliche Festungsgeräthe fast für jede Wohnung nothwendigste Erfordernisse geworden sind, während dergleichen hier in Italien Raritäten sein müssen, da ich deren seit Wochen nirgends gesehen, so viel Häuser ich auch in den zwei großen Hauptstädten Mailand und Turin betreten habe.

Die einzige Art, die Stimmung eines Volkes kennen zu lernen, ist und bleibt für einen Reisenden doch der Verkehr mit Menschen aller Stände und Berufsclassen. Ich habe diese Methode angewendet, von dem Postillon und Handarbeiter, dem kleinen Landbesitzer und Ackerbauer, dem Fischer und Schiffer aufwärts durch die mittleren und wohlhabenderen Classen der Fabrikanten und Kaufleute, der großen „Besitzer“, der Advocaten und sonstigen Studirten, bis zu dem altangesehenen Edelmanne, dessen Stammbaum nach Jahrhunderten zählt, und ich habe keinen gefunden, der sich nicht – jeder nach seiner Art – mit Freude und Genugthuung

  1. Wie dieser lacht kein Winkel der ganzen Welt mich an.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_089.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)