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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

– mit einem Angstblick sah er sich nach einem Schlupfwinkel um; aber links zeigte ihm ein matter Lichtschimmer nur den Ausgang nach der Eisenbahn, welche ihn augenblicklich seinen Feinden sicher in die Hände liefern mußte; und rechts ließ die Dunkelheit des Waldes keinen einzigen Gegenstand unterscheiden. Unwillkürlich drehte er den Kopf rückwärts und sah dort den Wald sich erhellen, schon meinte er, selbst von dem Lichte der auftauchenden Feuerbrände beschienen zu werden, und ohne sich Rechenschaft über sein Thun zu geben, nur instinctmäßig bestrebt, freie Bahn zu gewinnen, wandte er sich dem offenen Schienenwege zu; er durchbrach in blinder Hast das Strauchwerk am Rande der Böschung und stieß hart gegen einen der baumhohen Telegraphenpfosten, wie sie den Lauf der Bahnlinie bezeichnen; kaum aber hatte er das Hinderniß in seinem Wege erkannt und war durch einen mechanisch empor fliegenden Blick belehrt, daß die Mitte des Pfahls von dem herüber ragenden Zweige eines Baumes verdeckt wurde, als er auch wie eine Katze daran hinauf zu klimmen begann. Er hatte die Höhe des Zweiges gewonnen, sich zwischen den Blättern durchgearbeitet und suchte mit dem Fuße nach einem Stützpunkte, aber er traf zwischen dem Laube nur auf schwaches, dürres Holz, das bei jeder Berührung prasselnd zu brechen drohte, und schon vernahm er in der Nähe die Rufe seiner Verfolger, die unter dem rothen Scheine brennender Holzstücke wie eine losgelassene Meute die Umgebung abzusuchen begannen.

Die Beine fest um den rauhen Stamm schlingend, gab er jeden Versuch, sich einen besseren Halt zu verschaffen, auf und blieb, kaum wagend, seiner ungestüm athmenden Lunge freie Bewegung zu lassen, über den Blättern hängen, während sein Ohr scharf jede Bewegung und jeden Ruf seiner Feinde verfolgte. Er hörte die Versicherung von der Eisenbahn her, daß nichts Menschliches die Schienen gekreuzt habe, er hörte das Buschwerk am Rande des Waldes durchsuchen, sah bereits das Licht der improvistrten Fackeln das Laub unter sich durchdringen und meinte in seinen zitternden Knieen kaum mehr die Kraft zum Festklammern zu haben; dicht unter ihm klangen Antwortsrufe auf die Schreie aus den übrigen Theilen der nächsten Waldstrecke, und ein einziges Stückchen fallende Rinde, das sich durch die Schwere seines Körpers von dem Pfahle losgelöst, hätte ihn verrathen müssen – aber die Suchenden schritten unter lauten Flüchen weiter, der Lichtschein ward schwächer, und nach Kurzem klang nur noch ein entfernter Lärm zu seinem Ohre. Noch wagte Bill, hochausathmend, keine Bewegung, und erst als er seine Beine steif werden und das Blut in denselben stocken fühlte, begann er, mit peinlicher Vorsicht jedes Geräusch vermeidend, sich hernieder zu lassen. Eine Zeitlang saß er, tief in das Strauchwerk geduckt, am Boden und überlegte seine nächsten Schritte; er war eben zu dem Entschlusse gelangt, neben den Büschen fortkriechend die Eisenbahnlinie zu verfolgen, bis er hoffen durfte, aus dem Gesichtskreise der aufgestellten Posten zu sein, und dann, auch ohne Brief, seinen Weg nach Jefferson-City fortzusetzen, als eine Stimme so in seiner Nähe laut wurde, daß er sich, unwillkürlich noch tiefer unter die schützenden Blätter duckte. „Hier heraus kommt er nicht unvermerkt, wenn er noch im Walde steckt,“ klang es, „habt nur ein scharfes Auge auf die Querstraße, so kann er gar nicht entwischen, ehe wir nicht hier weg sind!“ Und Bill sah im Geiste die erwähnte Querstraße, die den Wald und die Eisenbahn durchschnitt, seinen weitern Weg ihm verlegen und erkannte, daß er nichts thun könne, als an irgend einem verborgenen Platze den Abzug der Secessionisten zu erwarten. Dann aber war auch jede Hoffnung verloren, dem bedrängten Heimathsorte Hülfe zu schaffen; die Feinde waren allerdings kaum fünfzig Mann stark, aber er kannte die wilde Verwegenheit dieser Menschen, die nichts zu verlieren hatten, und die Zaghaftigkeit seiner eigenen friedfertigen Landsleute.

Behutsam kroch er aus dem Busche hervor und suchte den Baum, von dem ein Zweig ihn bereits verborgen hatte; er fand ihn glücklicherweise nur so dick, daß ein leichtes Emporklimmen ermöglicht ward, und bald saß er, rings von Blättern dicht umhüllt, auf einem starken Aste. Unwillkürlich trat ihm Fred Minner’s Bild vor die Augen, der wohl jetzt die Männer in Pleasant-Grove mit der Hoffnung auf die erwartete Verstärkung ermuthigte und auf die Schlauheit Bill’s, der sich gewiß nicht fangen lassen werde, hinwies – und der Bursche hätte vor Erregung und Ungeduld, daß er hier eingeschlossen sitzen mußte, in das Holz des Baumes beißen mögen. Dann dachte er an seine Mutter, die sich wohl von Fred Auskunft über seinen Gang hatte geben lassen und mit Sorge ihm in Gedanken jetzt auf seinem Wege folgte. Er hatte nur diese beiden Menschen, die er auf der Welt liebte, und er liebte auch Beide mit der ganzen Ungezügeltheit seines Herzens – vor Allem aber hätte er seiner Mutter ein besseres Loos schaffen mögen, hätte er es auch mit seinem Herzblute thun sollen. Unwillkürlich blickte er zurück nach der Zeit, wo sein Vater noch gelebt hatte und wo Alles ein so anderes Aussehen gehabt. Sein Vater war Kaufmann und Postmeister in dem kaum entstandenen Orte gewesen und hatte seine Mutter, die als armes Mädchen mit Verwandten nach Missouri gekommen, mit dem frischen Muthe der Jugend geheirathet. Fred Minner, der später als Gehülfe in das Geschäft getreten war, hatte dem Knaben oft erzählt, wie lieb sich die Beiden gehabt. Aber der Mann war gestorben, ehe er etwas für seine Hinterbleibenden hatte zurücklegen können, und Bill hatte sich mit seiner Mutter in ein kleines Haus versetzt gesehen, in welchem die verlassene Frau lange Zeit ihre Tage nur mit angestrengter Nätherei und Thränen verbracht. Erst als Fred sich ein eigenes Geschäft gegründet, waren durch seine Vermittelung und Hülfe die Verhältnisse etwas leichter geworden, und er hatte auch den Knaben, als dieser kräftig genug geworden, nach der Farm des „Squire“ Anderson gebracht, der den anstelligen jungen Menschen wohl zu verwerthen gewußt. Und hier war Bill der Mitwisser eines Verhältnisses zwischen der Tochter seines Brodherrn und seines Freundes Minner geworden, welches der Alte nie gern gesehen zu haben schien, das aber seit Ausbruch der Rebellion und der Aechtung aller Deutschen ihn augenscheinlich zu Fred’s Todfeinde gemacht hatte.

Ueber den Burschen war, seit er auf dem Aste ein vorläufig sicheres Versteck gefunden, eine Abspannung aller seiner Kräfte gekommen – wie lange er hier gesessen und von seinen gegenwärtigen und vergangenen Verhältnissen geträumt haben mochte, wußte er nicht, aber er fuhr auf, als er sich von seinem Sitze gleiten fühlte, und nur ein rasches Fassen der nächsten Zweige verhinderte seinen Sturz. Er mußte trotz seiner gefährlichen Lage geschlafen haben, und eben überlegte er, ob er nicht hinabsteigen und einen behutsamen Blick über die Eisenbahn werfen solle, als ein Rauschen der Zweige, aus kurzer Entfernung kommend, seine Aufmerksamkeit erregte. Es war so dunkel um ihn geworden, daß nicht einmal mehr ein Lichtschimmer von der Waldöffnung her zu ihm drang, und alle Wahrnehmungskraft in seinem Ohre vereinigend, lauschte er. Bald meinte er halblautes Gemurmel zu vernehmen und deutlich unterschied er endlich gedämpft gegebene Befehle. Jetzt hörte er das Gesträuch an der Böschung der Bahn fortdauernd knacken und prasseln – er konnte sich kaum täuschen, seine Feinde waren im Abzug begriffen, aber die Vorsicht, mit welcher dies geschah, ließ eben so wenig Zweifel übrig, daß sie auf dem Wege zu einem Ueberfall auf Pleasant-Grove. Ein Schauer durchfuhr bei dieser Ueberzeugung den Knaben – seine Mutter! seine Mutter! und in derselben Secunde wußte er auch, daß er sein halbes Leben daran setzen mußte, um vor der Bande in dem Städtchen zu sein und Kunde zu bringen. Angestrengt lauschte er, bis das letzte Geräusch verstummt war. Dann glitt er von dem Baume herab und trat vorsichtig nach der Eisenbahn hinaus. Zu sehen vermochte er aber hier nichts. Der Himmel hatte sich mit dichtem Dunste umzogen und ließ den früher so erhellten Nachthimmel kaum erkennen, und nur durch das Gehör vermochte Bill zu entdecken, in welcher Richtung der abziehende Trupp sich entfernte.

Einige Secunden stand er, sich ein Bild der ganzen Umgegend vor seinen Geist stellend; er wußte, daß bei Verfolgung der Eisenbahn ein Umweg gemacht ward, und daß, wenn es ihm nur gelang, den Wald in gerader Richtung zu durchschneiden, er mindestens eine halbe Stunde vor den Abmarschirten das Städtchen erreichen mußte. Er entsann sich der Querstraße, die sein Entweichen vereitelt – sie konnte kaum nach einem andern Orte als der niedergebrannten Mühle führen, und auf ihr hatte die Bande jedenfalls ihren soeben verlassenen Lagerplatz erreicht – er sprang die Böschung hinab und nach kaum hundert Schritten, welche er neben den Schienen hingeeilt, sah er den Seitenweg sich zwischen dem dunkeln Walde öffnen. Gern hätte er jetzt die neue Richtung im vollen Laufe verfolgt, aber die steinige, von Baumwurzeln durchgezogene Straße verlangte in der Dunkelheit volle Vorsicht, wenn nicht ein Sturz ihn vielleicht ganz unfähig zum Weitergehen machen sollte; schon jetzt mußte er zu Zeiten seinen Gang anhalten,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_098.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)