Seite:Die Gartenlaube (1862) 104.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

durch Wein zu erfrischen, mißlang vollständig, so flau hatten uns die übermäßigen Strapazen gemacht.

Jetzt ging es wieder frei und ungebunden die Schneefelder hinab, wo sich jedoch im Laufe des Tages eine unangenehme Veränderung eingestellt hatte. Denn vermochten wir am Morgen kaum auf dem harten Boden zu haften, so war jetzt der Schnee so wirksam von der Sonne gelockert worden, daß wir beim ersten Schritt bis zu den Hüften hineinsanken. Oft auch stürzten wir bis zu den Schultern und bis über die Ohren in die nun unkenntlichen, verrätherischen Eisspalten und mußten mit Hülfe der Stöcke aus unserem weißen Grabe herausgezogen werden. Außerdem erlaubte aber die Glätte des unter den Füßen sich ballenden Schnees nicht zu gehen, die Menge des Schnees, der sich wie ein Wall vor der Brust aufthürmte, nicht zu gleiten. Und so stürzten wir denn kopfüber, kopfunter im wahnsinnigsten Lauf unaufhaltsam zwei Stunden lang hinunter. Beinahe aufgerieben vor Müdigkeit, halbtodt, mit zitternden Kniekehlen langten wir am Monterosa-Gletscher an, wandelnden Schneemännern ähnlich von Kopf zu den Füßen in einen Panzer von Eis gehüllt. Auf dem Gletscher hatte die Sonne aber auch Leben und Bewegung hervorgebracht. Ueberall rieselten kleine Bäche auf der Oberfläche dahin, oft höchst unerfreuliche kleine Cascaden bildend, überall krachte die unterhöhlte Oberfläche unter den Füßen. Anstatt uns also, wie gehofft, auf dem harten Gletscher trocken gehen zu können, mußten wir bis zu den Knöcheln im Wasser waten, was die Erwärmung unserer steifen Glieder wenig förderte. Klappernd vor Frost und beinahe der Müdigkeit erliegend erreichten wir in gerade nicht beneidenswerthem Aufzuge das Riffelhaus, von den Freunden mit Jubelrufen bewillkommnet. Um drei Uhr waren wir Morgens aufgebrochen, um ein Uhr hatten wir den Gipfel erreicht, und um sechs Uhr empfing uns die wärmende Stube des Riffelwirthes, so daß wir im Ganzen nur fünfzehn Stunden zu dieser ereignisreichen Expedition gebraucht hatten.

Doch wenn ich sage, daß wir uns am Kaminfeuer des Riffelwirthes wärmten, so gilt dies eigentlich nicht von mir. Denn da ein Unterkommen für die Nacht in dem überfüllten Hotel nicht zu erlangen war, und der sehnlichst erwartete Kaffee nicht fertig werden wollte, so entschloß ich mich sofort nach Zermatt hinabzusteigen, wo ich ein gutes Quartier zu finden hoffen durfte, und wohin mir die nach dem Trank der Levante lechzenden Söhne Albions nachzufolgen versprachen. Ich nahm daher bis auf Weiteres von meinen Gefährten Abschied, nachdem ich zuvor die Führer, welche mir so unvergleichliche Dienste geleistet hatten, großmüthig genug mit der größeren Hälfte des bedungenen Lohnes abgefunden hatte. Doch dies sollte mein Unglück werden. Denn auf dem, so viel mir bewußt, unfehlbaren Wege nach Zermatt hinunterwandernd, befand ich mich plötzlich in einem Gewirr von sich kreuzenden Pfaden, zu welchen ich vergeblich den Ariadnefaden suchte. Unschlüssig verfolgte ich den betretensten Weg, welcher unverkennbare Pferdespuren zeigte, sonst ein untrüglicher Wegweiser in den Schweizer Bergen. Aber nach kurzer Zeit mündete der Pfad auf einer jener gefährlichen Matten, der Verzweiflung des einsamen Wanderers, auf deren glattem Grase auch der scharfsichtige Sohn der Wildniß nicht die leiseste Spur eines Fußstapfens entdecken würde. Was nun thun? Wieder umkehren und meinen wankenden Knieen das Unmögliche eines nochmaligen Berganklimmens zumuthen? Da gewahre ich zu meinen Füßen Lichter, die meiner Berechnung nach von Zermatt heraufleuchten. Frisch gewagt, dachte ich, ist halb gewonnen, also nur gerade auf das Ziel zu! Doch bald gerathe ich in undurchdringliches Gebüsch, das einen abschüssigen Felshang verbirgt. Die Sonne ist unterdeß hinter die Berge gesunken, und schnell bricht tiefe Dunkelheit über mich ein. Nur mühsam tappe ich meinen Weg und springe endlich entsetzt von dem Rande eines schauerlichen Abgrundes zurück. Vergebens raffe ich allen Rest von Energie auf, um wieder aus dem Waldesdickicht hinaus zu gelangen. Die Muskeln versagen ihre Dienste, und kraftlos sinke ich am Stamme einer Fichte nieder. Nur das gelang mir noch, händevoll den rieselnden, schmelzenden Schnee wenigstens von der nackten Brust zu entfernen und meinen Plaid über die Schultern zu ziehen – dann umfing mich unter Fieberschütteln tiefer Schlaf.

Das Gekrächz einer Krähe auf dem Gipfel der Fichte erweckte mich. Es war Morgens, ungefähr fünf Uhr. Der Schnee, welcher mir am Abend noch an den Gliedern geklebt hatte, war spurlos verschwunden, und auf dem Plaid lagen die Perlen des frischen Thaues. Ich raffte mich auf, um von Neuem den verlorenen Weg zu suchen. Nachdem ich den Waldsaum glücklich hinauf gekrochen, entdeckte ich endlich am Ende einer Matte einen Pfad, der mir wenigstens zu Menschen zu führen scheint. So schnell, als die Kräfte erlaubten, ging es hinab. Aber der einsame Weg wollte und wollte kein Ende nehmen, und das Tempo meiner Schritte wurde schwächer und schwächer. In der ersten Aufregung hatte ich vergessen können, daß seit dem Frühstück auf den schwarzen Platten am vorigen Morgen einige Schluck Cognac Alles gewesen, was ich genossen. Jetzt stellten sich Hunger und Durst um so empfindlicher ein. Umsonst rief ich auf einer Wiese, wo die hölzernen Heuschober mich die Nähe von Menschen vermuthen ließen, nach irgend einer lebenden Seele. Nur das Echo höhnte den armen Verirrten, der sich endlich beinahe verzweifelnd in eine Waldblöße mit Blaubeeren warf, um seine brennenden Lippen an deren Safte zu kühlen. Endlich höre ich Pferdegestampf, und wer beschreibt mein Entzücken, als mir ein wohlbekannter Engländer mit seiner Frau entgegen kam! Sie waren gleichfalls auf dem Wege nach Zermatt, und unbewußt war ich also doch der wahren Richtung gefolgt. Die Gewißheit allein, nunmehr das Ziel nicht wohl verfehlen zu können, gab mir Kraft genug, um die Anerbietungen des freundlichen Engländers, das Pferd seiner Frau zu besteigen, abschlagen zu können. Im jammervollsten Costüme, das mir selbst ein Lächeln abzwang, kam ich an seiner Seite in Zermatt an, wo bereits die Meldung von dem verunglückten jungen Reisenden den Wirth und die Fremden erschreckt hatte. Mit Fichtennadeln und Blättern besäet, den Rock vom Gesträuch zerrissen, mit wunden Lippen, die Haut im Gesicht trotz des schützenden blauen Schleiers von den am Schnee abprallenden Sonnenstrahlen braun gebrannt und so zersetzt, daß sie in Lappen herunterhing: so begrüßte ich im Hotel zum Monterosa die neugierige Gesellschaft. Mein erster Ruf war aber dann: „Ein Bett!“ Denn daß sich die erlittenen Strapazen an dem übermüdeten Körper rächen würden, mußte ich von Stund an erwarten. Aber der Gott der Reisenden war mir gnädig, und statt des gefürchteten hitzigen Fiebers verspürte ich nur die behaglichste Wärme in dem lang entbehrten Lager. Und dieses Abenteuer hatte so wenig ernstliche Folgen, daß, wenn schon der Name des Monterosa mit seinen grandiosen Umgebungen mir unvergängliche Bilder überwältigender Naturscenen erweckt, die Erinnerung an die wunderbare Rettung aus den der Ersteigung folgenden Gefahren mich mit einem unaussprechlich erhebenden Wonnegefühle erfüllt.

B…d.




Zur Geschichte des Aberglaubens.
Nr. 6.     Das Nummerträumen.

Unserm Leserkreise ist jedenfalls durch die Zeitungen die Nachricht von dem gräßlichen Morde, welchen im October des vergangenen Jahres ein Mann an seinen vier Kindern und sich selbst beging, bekannt geworden. Der Schauplatz dieser entsetzlichen Begebenheit war Prag; und so gern sich der Blick von solchen Trauerbildern wegwendet, so müssen wir doch darauf zurückkommen, weil die naturwidrige That eines Einzelnen einer ganzen Generation das Feld des Aberglaubens wieder gedüngt hat.

Der fünffache Mord, heißt es in der Donauzeitung, hat viele Personen veranlaßt, auf gewisse Zahlen in der Lotterie zu setzen. Da die Leichen am 28. October aufgefunden wurden, die Zahl der ermordeten Kinder 4 betrug und der unglückselige Vater 43 Jahr alt war, so lag es nahe, die Zahl 28, 4 und 43 für die Lotterie zu wählen, und siehe da: in der letzten Brünner Ziehung wurden folgende Zahlen gezogen:

28, 4, 11, 18, 43.

Die Zahl der dadurch erzielten Gewinnste ist in Prag eine sehr bedeutende; in einer Collection allein wurden 200 Extraten, 30 Nominaten, 180 Ambo, 7 Ambo-Solo und 5 Ternen gewonnen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_104.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)