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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

gereifte Liebhaber der Eisbahn folgt dem Mahnrufe Klopstock’s: „Künstele nicht!“

So wiegt und schaukelt er sich denn in einfachen, sicher geschweiften Bogen, denen er bald größere, bald kleinere Halbmesser giebt, absichtslos und doch nicht unbedacht auf der frischen, elastischen Bahn und findet bei dem mühsamen, behaglichen Eistanze erwünschte Zeit und Lust, seinen Gedanken nachzuhängen. In der That giebt es kaum eine schönere Gelegenheit zum Meditiren, als ein solcher einsamer Eislauf. Leicht und rasch, wie ihm das Blut durch die Adern rollt, so fluthen dem Schlittschuhfahrer Gedanken- oder öfter Phantasien-Reihen durch den Kopf, die wie aus unbekannten Quellen in seine Seele strömen und sein geistiges Leben befruchten. Es ist fast, wie wenn ein Trunk edlen Weines die Gedanken beschwingte und in wohliger Leichtigkeit Erinnerungen und Phantasiebilder in muntern Schwärmen auffliegen ließen. Vor Allem schön ist eine solche einsame Fahrt auf dem Eise an einem Mondscheinabende, wenn die glasige Bahn in sanftem Goldschimmer glänzt, wenn die Erlen am Ufer lasurblaue Schatten auf den Schnee werfen und die Eisrinde geheimnißvoll schwermüthig tönt, als ob die unter ihr hausenden Nixen und Wassermänner einen Klagegesang über ihr verfallenes Reich anheben wollten.

Doch für lange Zeit ist es gewöhnlich einem solchen Schlittschuhläufer nicht vergönnt, einsam zu bleiben. Bald hat ein Trupp fahrlustiger Knaben die Gelegenheit erspäht; beginnt die Eisbahn mit jubelndem Lärm zu erfüllen und bietet dem Veteran manch belustigendes Schauspiel. Hier hetzt Einer mit kurzen, hastigen Schrittchen dahin, gewaltig mit den Armen fechtend und laut triumphirend, daß er es am schnellsten könne; dort fährt ein Anderer, dem in der Schule das Uebersetzen gar schwer fällt, prahlend im Kreise, um zu zeigen, wie gewandt er auf dem Eise über setze; ein Dritter reitet sich selber als rückwärts gehendes Schulpferd vor und schiebt sich schnickend und zappelnd nach Art der Krebse rücklings vorwärts, bis er auf einem Schilfblatt festfährt, den Schwerpunkt verliert und so wuchtig niederfällt, daß der krachende Spiegel in großen Sternsprüngen zerberstet. Daneben versucht sich ein Neuling in den ersten Schritten auf der schmalen Stahlsohle, die das Gleichgewichthalten fast so schwierig macht, wie das Gehen auf dem Seile; das kleine Männchen scheint durch den häßlichen populären Namen „Schrittschuh“ (welcher andere Schuh wäre nicht auch ein Schuh zum Schreiten?) das Vorurtheil eingesogen zu haben, er müsse auf dem ungewohnten Kothurn etwa wie auf Holzschuhen einhertrappen; er hebt seine Füße fast ’wie ein Haushahn, nur ohne dessen stolze Sicherheit, stapft zwei Schrittchen vorwärts, um wieder zu ruhen, und stapft unermüdlich fort, bis er einmal ausschlüpft und zu Boden sinkt.

„Fallen ist der Sterblichen Loos. So fällt hier der Schüler,
Wie der Meister; doch stürzt dieser gefährlicher hin!“

Das Distichon Goethe’s schwirrt dem alten Zuschauer durch den Sinn, dem jenes kleine Ereigniß seine eigene Jugend zurückruft.

Bald schafft der bildungslustige Winter, der an Grashalmen und Steinen, an Wasserfällen und sogar an den Fensterscheiben seine kunstreiche Hand walten läßt, eine umfänglichere Schlittschuhbahn. Immer größere Strecken des Flußspiegels erstarren, schon rücken sich die Eisränder der beiden Ufer näher und näher; endlich ist auch die Stelle, wo das Wasser am raschesten strömt, überrindet. Eine Ueberfluthung, bewirkt durch den Damm, den herzugeschwommene Eisschollen bildeten, hat die einzelnen Eisinseln zu einer großen, gleichartigen Spiegelbrücke verschmolzen.

Auf einer so stattlichen Eisbahn stellen sich nun auch solche Erwachsene ein, denen die bisherige zu klein dünkte, um die Mühe zu lohnen. Da entfaltet sich denn am Nachmittag jenes ergötzliche Schauspiel, das die niederländischen Winterlandschafter so gern und hübsch dargestellt haben. Läufer von jedem Geschlecht, Lebensalter und Stand, vom ersten Anfänger an bis zum fertigen Meister, trippeln und trappen, schwanken, schaukeln und sausen im bunten Gewimmel durch einander. Bald bedeckt sich die Eisfläche mit den Mehlspuren von vielen tausend Schritten, und die Kehrer haben alle Hände voll zu thun, um die Bahn rein zu fegen. Mit derselben Naturnothwendigkeit, wie sich in der Natur Flußläufe und Straßen ausbildeten, entstehen in dem Gewimmel bald gewisse feste Strömungen; eine schmale besonders glatte Stelle erzeugt einen flußartigen Menschenstrom, um ein Eisloch oder einen Schneehaufen entsteht ein Menschenwirbel.

Die Knaben schaaren sich zum Haschenspiel oder zur Darstellung eines Eisenbahnzuges; Jünglinge, die sich gern sehen lassen, machen, während sie mit dem Spazierstöckchen kokettiren, allerlei Kunststücke, bei denen nicht selten dem Beschauer Goethe’s Doppelzeilen einfallen:

„Willst Du schon zierlich erscheinen und bist nicht sicher? Vergebens.
Nur aus vollendeter Kraft blicket die Anmuth hervor.“

Andere fahren eine Schöne auf dem Stuhlschlitten, anfangs mit triumphirender Miene, aber bald lassen sie doch merken, daß auch eine süße Last eine Last ist, denn man sieht den Schieber verstohlen einen Bekannten zur Ablösung herbeilocken. Zwischen all’ diesen jugendlich raschen Läufern bewegen sich gemächlich alte Leute, die, weil heuer so herrliche Bahn ist, wie sie sich seit dreißig Jahren nicht erinnern, es auch noch einmal in ihrem Leben versuchen wollen. Wie bunte Blumen im Aehrenfelde erscheinen einzelne Jungfrauen, die mit vorsichtig gemessenen Schritten einhertrippeln, umschwärmt von jungen Herren, welche die Schönen im Paradebogen umkreisen, gleichsam um zu zeigen, daß der kühne große Sprung auf diesem Tanzplane doch nur dem bärtigen Geschlechte vergönnt sei.

Oft unterbricht ein mit Jauchzen begrüßtes Abenteuer den gleichmäßigen Strom der Bewegungen. Bald stürzt ein Paradefahrer mit Wucht zusammen und erinnert an den so hübsch malenden Vers des Virgil: Procumbit humi bos, der sich etwa so verdeutschen läßt: „Zu Boden der Ochs plumpt.“ Ein anderes Mal rennen zwei unachtsame Fahrer im vollen Schuß an einander und prallen zurück, wie zwei Widder, die krachend die Stirnen zusammengestoßen haben. Mehr als Lust, denn als Unfall wird das Hinfallen von Knaben betrachtet; ist einer gestolpert, so purzelt eine ganze Lawine mit Jauchzen über ihn her, bald ist kaum Einer auf der Bahn, dessen Kleider nicht bepuderte Stellen zeigen.

Zwischen all diesen bunten, immer wechselnden Strömungen bilden sich Inseln von Zuschauern, wie man sie auf dem Tanzsaal unter dem Kronleuchter entstehen sieht, es drängen sich Brezeljungen mit vollen Körben durch das Gewimmel, fliegende Cigarrenläden und Marketender versuchen die Eröffnung eines Handelsverkehres. Kurz, es entwickelt sich auf dem Flußspiegel ein wahres Volksfest.

Auf einer solchen Bahn findet der Fahrende natürlich nicht Zeit zum stillen Hegen beliebiger Eislauf-Träumereien, er hat, während er vorsichtig und behaglich durch die bunten Gruppen schlüpft, immer zu beobachten und an das Geschehene Betrachtungen zu knüpfen. Denn wenn auch der heimische Fluß oder Teich lange nicht so besucht ist, wie eine holländische Gracht, aus der die Bauernfrauen, die Marktkörbe auf dem Kopfe tragend, einher gleiten, oder gar wie die Seen der Londoner Parks, auf deren Spiegel man an einem Nachmittage sechs- bis zehntausend Fahrer beobachten kann – und welche Meister der Kunst stellt nicht der Skating-Club! – wenn auch der Flußspiegel nur von einigen Hunderten von Schlittschuhläufern belebt ist, was giebt es da nicht für eine Fülle ergötzlicher Beobachtungen anzustellen! Aeltere Frauen sitzen oft halbe Nächte längs der kalten Wände staubiger Ballsäle, um die junge Welt in ihren Wirbeln zu beaugenscheinigen. Wie viel reicher und bequemer ist die Gelegenheit zu solchen Beobachtungen für den Schlittschuhläufer, der sich behaglich zwischen dem bunten Gewimmel umhertreibt! Ueberdies spiegelt der Eislauf den Charakter der Einzelnen weit deutlicher und treuer ab, als der Tanz, da doch meist ein Tanzlehrer die schärfsten Ecken der Eigenarten abgeschliffen hat. Die Schlittschuhbahn ist in der That eine der günstigsten Gelegenheiten zum Charakter-Studium. Gieb einem sinnigen Beobachter einige Minuten Zeit, und er wird Dir den Charakter eines Schlittschuhfahrers genauer und zuverlässiger deuten, als es die Gesichts- und Handschriften-Deuter je vermögen! Ist es doch so leicht, die Hauptgattungen der Naturelle: das ängstliche, das kecke, das bescheidene, das eitle und pompöse, das wie im Geschäft aufgehende und das behaglich genießende, an der Art des Laufes zu erkennen.

Eine seltene und deshalb um so freudiger begrüßte Lust bietet ein recht harter Winter in der Gelegenheit, größere Ausflüge auf dem Eise zu machen. Auf langsam strömenden Flüssen und Canälen der Niederungen ist eine Schlittschuh-Reise wohl häufig vergönnt; in Gebirgsländern dagegen, deren Flüsse rasch dahineilen und nicht selten Rauschen, Stromschnellen und Wehre bilden, ist eine leidlich zusammenhängende Eisbahn von einer Stunde Länge schon etwas Außerordentliches. Aber gerade das Lückenhafte einer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_123.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)