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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Bill Hammer.
Episode aus dem Bürgerkriege in Missouri.
Von Otto Ruppius.
(Schluß)

„Wer ist dort unten? Antwort, oder ich schieße!“ klang es von Neuem, aber Bill arbeitete sich um so hastiger weiter. Hatte er nur das jenseitige Ufer erreicht, so löste er das Seil, und dann sollte es einem Menschen wohl schwer werden, ihm zu folgen. Er hatte jetzt die Laterne wieder an den Arm gehangen, den rückwärts fallenden Schein möglichst durch seinen Körper verdeckend, und schon sah er die Zweige des Baums am jenseitigen Ufer deutlich vor sich, da rauschte es hinter ihm wie ein Erdfall, und ein lauter Fluch folgte dem Geräusche – Bill wußte, daß Anderson in diesem Augenblicke das steile Ufer auf jede Gefahr hin hinabgerutscht war, und von einer panischen Furcht gepackt, ergriff er einen sich ihm entgegen streckenden Ast des gefallenen Stammes, sich kräftig durch das übrige Zweigwerk hindurch arbeitend. Da fühlte er auch schon, wie sich das Seil mächtig anzog; in fliegender[WS 1] Hast, als spüre er die Hand des ihm Folgenden bereits in seinem Nacken, suchte er nach dem Halte der Schlinge – da saß sie an einem kurzen Aststücke, und mit einem Ruck, in welchem die Todesangst seine ganzen Kräfte vereinigt, hatte er sie losgerissen.

Hinter sich hörte er einen lauten Schlag in’s Wasser, aber er dachte nicht daran, sich umzublicken; mit einem mächtigen Satze sprang er an das Ufer und begann hastig die steil aufstrebende Wand der Schlucht zu erklimmen. Wie er hier hinauf gekommen war, wußte er in späteren Stunden selbst nicht, alle seine Gedanken waren nur auf seinen Verfolger gerichtet, und selbst als er halb athemlos die Eisenbahn betrat, als ihn hier Sturm und Regen in voller Macht empfingen, trieb ihn die Angst noch ein Stück in vollem Laufe vorwärts. Die Laterne mit dem Rockflügel verdeckend, blieb er endlich bei einer augenblicklichen Pause des Sturmes stehen und lauschte – nichts von einer Verfolgung ward hörbar, und jetzt brach sich in vollem innerlichem Jauchzen das Gefühl des errungenen Sieges in ihm Bahn. Noch war ja der Zug nicht da, und er konnte warnen und retten, konnte mit einem Schlage Alles vergelten, was Fred Minner jemals für ihn und seine Mutter gethan; für die Secessionisten aber mußte jetzt die Vergeltung kommen.

Eilig bog er sich nieder und legte das Ohr auf die nassen Schienen; nach kaum drei Secunden indessen sprang er rasch wieder auf seine Füße und sah nach dem Lichte in seiner Laterne; er hatte deutlich das Rollen der nahenden Wagen vernommen, und nun spähete er, die Augen mit der Hand gegen den Regen schützend, die schnurgerade Bahnlinie entlang, in die Nacht hinaus. Dort hinten, aber noch weit, weit entfernt, glänzte etwas wie ein feuriges Pünktchen; es schien unbeweglich an einem Orte zu stehen, aber Bill’s Herz begann bei dem Anblicke lebendiger zu schlagen – er wußte, das war der Zug, und so weit die Entfernung von ihm auch schien, so waren es doch nur Minuten, die ihn von dem Knaben trennten. Und das Pünktchen ward heller und strahlender, jetzt ließ sich auch schon eine Bewegung desselben unterscheiden, wie ein leuchtendes Meteor schwebte es heran, mehr und mehr an Größe und Glanz gewinnend. Und mit diesem Lichte naheten Hunderte von Menschenleben in der Schnelle des Windes, und Keines der Herangeführten ahnte, daß der Tod auf dem Wege stand und schon die Hand ausstreckte, um die reiche Ernte einzuheimsen; daß sich ein weites, dunkeles Grab aufgethan hatte, um sie Alle zu bergen, die in trügerischer Sicherheit sich dem eisernen Rosse anvertraut. Noch hatte der Bürgerkrieg seine Gräuel nicht bis zu meuchelmörderischen „Wholesale“-Schlächtereien getrieben, und den Unionsleuten fehlte noch der Begriff, bis zu welcher Höhe des Fanatismus und der Rohheit es ihre eigenen Landsleute zu bringen vermochten. Und zwischen dem heransausenden Zuge und dem Verderben stand nur ein schwacher Knabe, zu nichts Weiterem fähig, als ein Warnungssignal zu geben, das der Regensturm zum großen Theile verwischen mußte; kehrte der Zugführer nur eine halbe Minute das Auge nach einer andern Richtung, wurde das schwache Licht, das in Bill’s Laterne fast niedergebrannt war, nur einige Secunden zu spät bemerkt, so war keines Menschen Macht im Stande, den drohenden Sturz aufzuhalten. Näher und immer näher raste der Zug, das kleine feurige Pünktchen war zur strahlenden Sonne geworden, ein glühender, langgezogener Rauchstreifen machte sich in der dunkeln Nacht bemerkbar – da hob Bill seine Laterne und begann sie in weitem Kreise um seinen Kopf zu schwenken. Aber sein Signal blieb unbeachtet. Näher und näher donnerte der Zug, jeder Druck der mächtigen Hebel stieß die rollenden Wagen weiter ihrem Sturze zu, und ein unbeschreibliches Angstgefühl erfaßte den kleinen Warner. Immer die Laterne im Kreise schwingend, rannte er dem Zuge entgegen, er schrie, was er vermochte, ohne es fast zu wissen, aber schon war das blendende Licht in seiner unmittelbaren Nähe, er mußte von der Bahn springen, um nicht überfahren zu werden und hätte sich in der Verzweiflung seines Herzens zur Erde stürzen mögen – da schrillte die Dampfpfeife und gab das Alarmzeichen. Bill sah den kaum enden wollenden Zug an sich vorübersausen, aber hörte das hastige Knarren der Hemmmaschine, hörte das Schnauben der Locomotive ersterben, und mit einem Herzen, in dem sich peinliche Angst und neuerwachte Hoffnung stritten, stürzte er in windschnellem Laufe den Wagen nach. O Glück! dort hielten sie still; aber ehe der Knabe heran war, war dort auch schon das entsetzliche Schicksal, welches dem Zuge bereitet worden, entdeckt – wenige Schritte von der Schlucht nur hielt die Locomotive, und ihr Vorderlicht beleuchtete grell den gähnenden Abgrund. Bill sah eine kleine Anzahl halb athemloser Männer sich entgegen kommen, sah sich mit Zeichen der Anerkennung überschüttet und an beiden Armen, halb getragen, den Wagen zugeführt; er sollte erzählen, was hier geschehen und wie er zur Kenntniß der gräßlichen Gefahr gelangt sei; aber Bill gab nur kurzen Bescheid, seine Gedanken flogen dem erwarteten Freunde zu; das einzige Wort „die Secessionisten“ indessen schien seinen Begleitern völlige Aufklärung zu geben.

Und als er nun naß und barhäuptig, aber die Laterne noch immer in der Hand, wie im Triumphe unter die aus den Wagen strömenden Reisenden, die sich fast nickt von dem Schrecken über den kaum vermiedenen sichern Tod zu erholen vermochten, geführt wurde, als jeder von diesen zuerst die Hand des heldenmüthigen Knaben drücken und ihm ein preisendes Wort sagen wollte: da brach sich ein Gesicht durch die Menge Bahn, dem Bill, jauchzend beide Hände empor hebend, zustrebte.

„Du, Bill, Du bist der Erretter gewesen?“ rief Fred Minner, welcher den Knaben stürmisch an seine Brust zog – aber dieser ließ ihm keine Zeit zu weiteren Ausrufungen. „Gott sei Dank, daß Du hier bist,“ erwiderte er hastig, „jetzt, Fred, nur ein einziges Wort: weißt Du, wo meine Mutter geblieben ist?“

Da faßte der junge Mann seinen kleinen Freund beim Arme und zog ihn nach einem der Wagen, in dessen Innerem eine bleiche Frau fast noch allein saß. „Da, Mutter Hammer,“ rief der Erstere eintretend, „da ist der Bursche, gegen den Niemand wieder ein Wort sagen darf – er hat heute über zweihundert Menschen das Leben gerettet!“ und mit einem Aufschrei der Freude flog Bill an den Hals der Vermißten – die er jetzt selbst dem Tode abgerungen hatte.

Die nöthigen Aufklärungen waren jetzt bald gegeben. Schon als Bill seinen Weg nach Jefferson-City angetreten, hatte Minner die Frau zu größerer Sicherheit nach seinem Hause genommen; als er indessen nach dem abgeschlagenen Angriffe der Secessionisten sich selbst nach Hülfe auf den Weg gemacht, hatte er sie nach einer der Eisenbahn nahe gelegenen deutschen Farm gebracht, wo sie bis zu wieder eingetretener Ruhe sich aufhalten sollte. Aber die Angst um Bill’s Schicksal hatte die Mutter nicht bleiben lassen, und schon gegen Abend war sie nach der nächsten Station gewandert, um Fred mit dem rückkehrenden Zuge abzuwarten.

In den kürzesten Umrissen nur theilte Bill seine eigenen Erlebnisse mit; als er aber den muthmaßlichen Zerstörer der Brücke nannte, als er erwähnte, daß auf dessen Farm die Secessionisten-Bande ihr Quartier genommen, da fuhr Fred auf: „Halloh, wir nehmen das ganze Nest aus, wenn wir es einigermaßen klug anfangen, es sind zwei Compagnien deutscher Freiwilliger hier. Komm mit mir, mein Junge!“

Außerhalb standen, nur nothdürftig von den Wagenlampen beleuchtet, die damals noch nicht uniformirten Streiter für die

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fliegengender
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_140.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)