Seite:Die Gartenlaube (1862) 148.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Tante Ursula war eine gute förmliche Dame, die nicht gern ihren Platz dort in der Fensternische verließ, wo sie ihre saubern Strick- und Filetarbeiten für ferne und nahe Freunde verfertigte; hatte ich meinen Saum genäht und meine Lafontainesche Fabel bei ihr aufgesagt, so warf sie höchstens einen Blick durch’s Fenster, wenn ich mit dem grauen Windspiel meines Vaters zwischen den Buchenhecken des Gartens hinabrannte.

Spielgenossen hatte ich keine, mein Bruder war fast acht Jahre jünger als ich, und die von Adelsfamilien bewohnten Güter lagen sehr entfernt. Von den bürgerlichen Beamten aus der Stadt waren im Anfang zwar Einzelne mit ihren Kindern zu uns gekommen, da wir jedoch ihre Besuche nur selten und flüchtig erwiderten, so hatte der kaum begonnene Verkehr bald wieder aufgehört. – Aber ich war nicht allein, weder in den weiten Räumen des Schlosses, noch draußen zwischen den Hecken des Gartens oder den aufstrebenden Stämmen des Tannenwaldes; der „liebe Gott“, wie ihn die Kinder haben, war überall bei mir. Aus einem alten Bilde in der Kirche kannte ich ihn ganz genau, ich wußte, daß er ein rothes Unterkleid und einen weiten blauen Mantel trug; der weiße Bart floß ihm wie eine sanfte Welle über die breite Brust herab. Mir ist, als sähe ich mich noch mit dem Oheim drüben in den Tannen; es war zum ersten Mal, daß ich über mir das Sausen des Frühlingswindes in der Krone eines Baumes hörte. „Horch!“ rief ich und hob den Finger in die Höhe, „da kommt er!“ – „Wer denn?“ – „Der liebe Gott!“ – Und ich fühlte, wie mir die Augen groß wurden; mir war, als sähe ich den Saum eines blauen Mantels durch die Zweige wehen. – Noch viele Jahre später, wenn Abends in meinem Kissen der Schlaf mich überkam, war mir, als läge ich mit dem Kopf in seinem Schooß und fühlte seinen sanften Athem an meiner Stirn.

Mein Lieblingsaufenthalt im Hause war der große Rittersaal, der das halbe obere Stockwerk in seiner ganzen Breite einnimmt. Leise und nicht ohne Scheu vor der schweigenden Gesellschaft drinnen schlich ich mich hinein; über dem Kamin im Hintergrund des Saales, von Marmor in Basrelief gehauen, ist der Krieg des Todes mit dem menschlichen Geschlechte dargestellt. Wie oft habe ich davor gestanden und mit neugierigem Finger die steinernen Rippchen des Todes nachgefühlt! – Vor Allem zogen mich die Bilder an, auf den Zehen ging ich von einem zu dem andern; nicht müde konnte ich werden, die Frauen in ihren seltsamen rothen und feuerfarbenen Roben, mit den Papageien auf der Hand oder dem Mops zu ihren Füßen wieder und wieder zu betrachten, deren grelle braune Augen so eigen aus den blassen Gesichtern herausschauten, so ganz anders, als ich es bei den lebenden Menschen gesehen hatte. Und dann dicht neben der Eingangsthür das Bild des Ritters mit dem bösen Gewissen und dem schwarzen, krausen Bart, von dem es hieß, er werde roth, sobald ihn Jemand anschaue. Ich habe ihn oftmals angeschaut, fest und lange; und wenn, wie mir es schien, sein Gesicht ganz mit Blut überlaufen war, so entfloh ich und suchte des Oheims Thür zu erreichen. Aber über dieser Thür war ein anderes Bild, es mochten die Portraits von Kindern sein, die vor einigen hundert Jahren hier gespielt hatten; in steifen, brocatnen Gewändern mit breiten Spitzenkragen standen sie wie die Kegel neben einander, Knaben und Mädchen, Eines immer kleiner als das Andere. Die Farben waren verkalkt und ausgeblichen, und wenn ich unter dem Bilde durch die Thür lief, war es mir, als blickten sie Alle aus den kleinen begrabenen Gesichtern mit ihren beerschwarzen Augen auf mich herab. War dann der Oheim in seinem Zimmer, so flog ich auf ihn zu, und er, von seinen Büchern auffahrend, schalt mich dann wohl und rief: „Was ist? Sind Dir die albernen Bilder schon wieder einmal auf den Hacken?“

Großes Bedenken hatte es für mich, in der Dämmerung durch den Saal zu kommen. Zum Glück waren die sich gegenüberstehenden Thüren an der Gartenseite, die Fenster sahen hier nach Westen, und der Abendschein stand tröstlich über dem Tannenwalde. In des Oheims Zimmer waren dann die Vogelstimmen schlafen gegangen; nur draußen vor dem Fenster wurde der Kauz in seinem großen Käfich nun lebendig. Der Oheim saß dann wohl mit gefalteten Händen in seinem Lehnstuhl, während das Abendroth friedlich durch die Fenster leuchtete. Aber ich wußte ihn zum Sprechen zu bringen; ich ließ mich nicht abweisen, bis er mir das Märchen von der Frau Holle oder die Sage vom Freischützen erzählte, an der ich mich nie ersättigen konnte. Einmal freilich, als die Geschichte eben im besten Zuge war, stand er auf und sagte: „Aber, Anna, glaubst Du denn all’ das dumme Zeug? – Wart nur ein wenig,“ fuhr er fort, indem er seine Schiebelampe anzündete, „Du sollst etwas hören, was noch viel wunderbarer ist.“ Dann haschte er eine Fliege und, nachdem er sie getödtet, legte er sie vor uns auf den Tisch. „Betrachte sie einmal genau!“ sagte er. „Siehst Du an ihrem Körperchen die silbernen Pünktchen auf dem schwarzen Sammetgrunde, die zwei schönen Federchen an ihrem Kopf?“ Und während ich seiner Anweisung folgte, begann er mir den kunstreichen Bau dieses verachteten Thierchens zu erklären. Aber ich langweilte mich; die Wunder der Natur hatten keinen Reiz für mich nach den phantastischen Wundern der Märchenwelt. – – –

Indessen war ich unmerklich herangewachsen; und wenn ich, was selten genug geschah, einmal vor meinem Spiegel stand, so schaute mir eine schmächtige Gestalt mit einem gelben scharfgeschnittenen Gesicht entgegen. Zwar bemerkte ich die auffallende Bläue meiner Augen; im Uebrigen aber hatte dies zigeunerische Wesen mit dem ebenholzschwarzen Haar keineswegs meinen Beifall. Mein Aussehen kümmerte mich indessen wenig. Ich war über die Bibliothek meines Vaters gerathen, in der sich eine Anzahl schönwissenschaftlicher Bücher aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts befand. Ich begann zu lesen, und bald befiel mich eine wahre Lesewuth; ich kauerte mit meinen Büchern in den heimlichsten Winkeln des Hauses oder des Gartens und hatte ein paar Mal eine strenge Rüge meines Vaters zu erdulden, weil ich nicht gehört, daß ich zu Tisch gerufen wurde.

Eines Nachmittags war ich draußen, mein Lesefutter in der Tasche, in eine der oberen Fensterhöhlen des Laubschlosses hineingeklettert und hatte es mir auf dem flach geschorenen Gezweig bequem zu machen gewußt. Ich saß im Schatten, die grüne Blätterwölbung über mir, und hatte mich bald in ein Bändchen von Musäus’ Volksmärchen vertieft, während unten in der Mitte des Rondels die heiße Junisonne kochte. Plötzlich kam die Stimme des Oheims in meine Märchenwelt hinein. Als ich hinabblickte, sah ich ihn zwischen den Zwergbäumchen stehen und, die Augen mit der Hand beschattend, zu mir hinaufreden. „So?“ rief er, „es wird sich wohl Niemand darum kümmern, wenn Du hier das Genick brichst?“

„Ich breche ja nicht das Genick, Onkel!“ rief ich hinunter, „es sind lauter alte vernünftige Bäume!“

Aber er ließ sich nicht beruhigen; er holte eine Gartenleiter, stieg zu mir hinauf und überzeugte sich selbst von der Sicherheit meines luftigen Sitzes. „Nun,“ sagte er, nachdem er noch einen kurzen Blick in mein Buch geworfen hatte, „Du bist ja doch nicht zu hüten; spinne nur weiter, Du wilde Katz!“ – –

Um dieselbe Zeit war es, daß eine seltsame Schwärmerei von mir Besitz nahm. Im Rittersaal auf dem Bilde oberhalb der Thür befand sich seitab von den reichgekleideten Kindern noch die Gestalt eines etwa zwölfjährigen Knaben in einem schmucklosen braunen Wams. Es mochte der Sohn eines Gutsangehörigen sein, der mit den Kindern der Schloßherrschaft zu spielen pflegte; auf der Hand trug er, vielleicht zum Zeichen seiner geringen Herkunft, einen Sperling. Die blauen Augen blickten trotzig genug unter dem schlicht gescheitelten Haar heraus; aber um den fest geschlossenen Mund lag ein Zug des Leidens. Früher hatte ich diese unscheinbare Gestalt kaum bemerkt; jetzt wurde es plötzlich anders. Ich begann der möglichen Geschichte dieses Knaben nachzusinnen; ich studirte in Bezug auf ihn die Geschichte seiner vornehmen Spielgenossen. Was war aus ihm geworden, war er zum Manne erwachsen und hatte er später die Kränkungen gerächt, die vielleicht jenen Schmerz um seine Lippen und jenen Trotz auf seine Stirn gelegt hatten? – Die Augen sahen mich an, als ob sie reden wollten; aber der Mund blieb stumm. Ein schwermüthiges, mir selber holdes Mitgefühl bewegte mein Herz; ich vergaß es, daß diese jugendliche Gestalt nichts sei, als die wesenlose Spur eines vor Jahrhunderten vorübergegangenen Menschenlebens. So oft ich in den Saal trat, war mir, als fühle ich die Augen des Bildes auf meinen Lidern, bis ich emporsah und den Blick erwiderte; und Abends vor dem Einschlafen war es nun nicht sowohl das Antlitz des lieben Gottes, als viel öfter noch das blasse Knabenantlitz, das sich über das meine neigte. Einmal, da der Oheim über Feld war, trat ich aus seinem Zimmer, wo ich die Fütterung des Käuzchens besorgt hatte. Während ich durch den Saal ging, wandte

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_148.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)